In welcher Wirklichkeit leben wir eigentlich? Und, «wenn ja, in wie vielen»? (Frei nach R. D. Precht). Ist meine Wirklichkeit realer, als die meiner Nachbarin? Wo überhaupt verläuft die Trennlinie zwischen subjektiver und intersubjektiver Wirklichkeit und – gibt es eine objektive Wirklichkeit oder ist alles relativ und wird erst in Beziehung real? Ja, und was bin Ich inmitten dieser Relationen? Gibt es ein klar abgegrenztes, stabiles «Ich»? Anlässlich von Ausnahmezustand, Viren und Quarantäne hatte und hat man derzeit genügend Anstoss, Zeit und Musse, für solche und ähnliche Fragen. Aber Fragen, die einst (Hobby-) Denkern und Mystikern vorbehalten waren, verschwinden zusehends aus den Gesprächen unterm Abendhimmel und materialisieren sich als Forschungsobjekte auf dem Seziertisch, unter dem Elektronenmikroskop und in den Techniklabors von Silicon Valley. Und ihre Deutung und Handhabe wird dem einzelnen Menschen zunehmend aus der Hand genommen und ausgelagerten, algorithmischen Abläufen innerhalb einer technokratischen Gesellschaft anheimgegeben. Die ursprünglich metaphysische Frage nach der Wirklichkeit aber rückt auf dieser Ebene immer weiter aus dem Blickfeld und es wird unvermeidlich, angesichts ihrer Komplexität Auswahlen der Interpretation anhand des Prinzips der Verwertbarkeit zu treffen.
Yuval Harari hat findig und schlüssig dargelegt, wie über die Schrift Gedankengut verbreitet und etabliert werden kann, sodass damit nicht nur kollektive Identitäten über (unbeschränkt) grosse Menschengruppen hinweg geschaffen werden, sondern auch neue Räume entstehen, in denen Inhalte sich manifestieren und machtwirksam werden. Den Glauben an diese «Geschichten» bezeichnet er durchweg als «Religion». Dass Geld, Schmiermittel des Austauschs, mit einem inhärenten Wachstumsfaktor versehen, diesen Prozess exponentiell anheizt, kulminierend in beliebiger Energietransformation und Materieumwandlung über Elektrizität, Maschinen und Quantencomputer, als moderne Gefässe der Machtausübung. Dass eine auf Berechnung und damit auf kausale, determinierte Abläufe fokussierte, bürokratische «Erzählung» und Beschreibung der Welt eine Entfremdung von der ganzheitlichen Wirklichkeit des Menschseins mit sich bringt, die sich sowohl in der Definition der gemeinsamen Ausrichtung und Zielsetzung niederschlägt, als auch die subjektive Entscheidungsfreiheit immer stärker eingrenzt. Die Wissenschaft, als Motor im Prozess, will sich das Prädikat der «Objektivität» zuschreiben, bleibt allerdings, weit davon entfernt, objektiv und unabhängig zu sein, stets der sie bestimmenden Ordnung verhaftet. Sowohl was die Interpretation der Wirklichkeit betrifft, als auch, was die Nutzbarmachung ihrer Ergebnisse anbelangt, die sie ihr im Gegenzug vollumfassend zur Verfügung stellt. Der exponentielle Wachstumsfaktor in unserem Geld findet, im Verbund mit der verbürokratisierten Schriftsprache, in der Wissenschaft ein Instrument für eine Umgestaltung der Welt unter neuen Vorzeichen. Harari entlarvt diese Art von Wissen treffend als die dritte Ressource neben Rohstoffen und Energie. Während letztere aber per se endlich sind, ist «Wissen», das immer tiefer in die kausalen Zusammenhänge eindringt, eine wachsende Ressource, sie wächst mit dem Grad ihrer Nutzung. Sie manifestiert sich, innerhalb ihres unheiligen Bündnisses, wie von Zauberhand in der materiellen Welt - mit ihrem Zuwachs wachsen unterm Strich auch die Ressourcen Rohstoffe und Energie und damit die Plattformen der Machtausübung. Und sie drängt alle Wahrnehmungen, ausser der mit ihr verbundenen, aus dem Kontext des zwischenmenschlich Relevanten, spiegelt sich in Sinn – Inhalte – und Wertfragen stets an den ihr übergeordneten Glaubenssätzen, verwirklicht sich gemäss deren Zielen und treibt so ein Monopol auf die Ausgestaltung der Wirklichkeit voran. Und während der Zoom ins immer kleinere Detail für die subjektive menschliche Wahrnehmung und Erfahrung höchstens auf metaphorischer Ebene von Nutzen ist, wächst seine Relevanz und sein Einfluss innerhalb der «intersubjektiven» und gesellschaftspolitischen Ordnung diametral dazu an. Das Subjekt als Wahrnehmendes und als Interpret seiner eigenen Wirklichkeit wird somit zunehmend vom «Objekt» bezw. einer Art von «Übersubjekt» der Autorität über Beobachtung, Interpretation und Auswertung bevormundet.
Was ist «Ich»? Aus einer Perspektive, die alles Organische als Ansammlung von unablässig fluktuierenden Teilchen betrachtet, kann auch «Ich» als unteilbare Einheit nicht bestehen bleiben. Nachdem sich weder die Seele noch Bewusstsein oder Geist unter dem Mikroskop und auf dem Seziertisch offenbarten, liess sich im Kontext des Biologischen auch kein einheitliches «Ich» finden. Ausgehend von den beiden Gehirnhemisphären, besteht der Mensch wissenschaftlich gesehen aus unzähligen, oftmals widerstreitenden, leicht beeinflussbaren inneren Faktoren und Instanzen. Entscheidungsfindung findet als «Tauziehen» zwischen diesen statt. Eher sind wir aus dieser Perspektive also «Dividuen», nämlich Teilbare, als «Individuen» (Unteilbare). Die Vorstellung des «Ich» gehört, meint Harari, hier ganz im Einklang mit der wissenschaftlichen Sicht, zu den «erfundenen Geschichten… genauso wie Nationen, Götter und Geld». Geist und Bewusstsein lassen sich jedoch, als Gefässe der Wahrnehmung nicht so einfach «entsorgen» und auch Yuval Harari gefällt es nicht, diese womöglich im «Mistkübel der Wissenschaft» zu sehen, ist der Geist doch fester Bestandteil der Vipassana – Meditation und unentbehrlicher Prozessor im Bewusstseinsstrom, innerhalb dessen Wünsche, analog zu den Manifestationen des «Ich», entstehen und vergehen.
Wir erleben Bewusstsein als das Verbindungsglied zur Welt und zu uns selbst. Es zeigt sich als Reflexion, im Denken, in der sprachlichen Artikulation und nährt sich aus Empfindung und Emotion. Man kann es verfeinern, eine erhöhte Sensibilität und Differenziertheit entwickeln, es lässt sich, dem «Ich» vergleichbar, jedoch schwer fassen und umschreiben. Aber die «Geschichten», die wir uns über unser Leben und über uns selbst erzählen und der Sinn, den wir in ihnen erkennen, ist ihm zuzuschreiben. Die moderne Wissenschaft hingegen weiss erstaunlich wenig über Geist und Bewusstsein und ist «weit davon entfernt, dieses Rätsel zu entschlüsseln». Umso intensiver befassen sich Bio- und Neurowissenschaftler mit dem Gehirn, welches man mit seinen 80 Milliarden Nervenzellen und Synapsen beobachten, dessen biochemischen Phänomene der Reizübertragungen man in Form von «Signaturen» erkennen kann und wo man Schlaf, Wachheit, oder auch Gefühle wie Wut oder Liebe zu lokalisieren vermag. Es ist möglich, Zusammenhänge und Kausalverbindungen zwischen den elektrischen Strömen im Gehirn und subjektiven Erfahrungen nachzuweisen, nicht aber, festzustellen, dass subjektive Erfahrung die Ursache für die Bewegung der Elektronen ist, oder dass irgendwo so etwas wie Geist auf der Basis einer freien Entscheidung, gar eines autonomen «Ichs» in den Vorgang eingreift. Ist also Bewusstsein eine Angelegenheit von biochemischer Reizübertragung, des Aufeinandertreffens von Teilchen, gipfelnd in einer Art «infinitivem Regress», aus dem es dann entspringt? Dies wäre ganz im Sinne der Evolutionstheoretiker und die Hoffnungen mancher Wissenschaftler mögen in diese Richtung gehen. Einstweilen geht man davon aus, dass zwar Tiere, Descartes zum Trotz, offenbar Bewusstsein besitzen, Maschinen, auch datenverarbeitende, wie Computer oder die Börse, und Gegenstände hingegen kein Geist besitzen. Sie können, das ist das Kriterium, aus sich selbst heraus nichts fühlen oder begehren. Genaugenommen aber ist niemand dazu in der Lage, «Geist» oder «Bewusstsein» bei anderen Wesen als bei sich selbst festzustellen und es könnte dementsprechend schwierig sein, zu beurteilen, ob Roboter und Computer ein solches (je) besitzen (werden), sind sie doch ganz anders aufgebaut, als organische Lebewesen. Man kann in der Frage jedoch ruhig Gelassenheit zeigen und abwarten, denn die Funktion des Bewusstseins weicht aktuell der rational fassbaren, wissenschaftlich gestaltbaren und praktisch nutzbaren Vorstellung des «unbewussten Algorithmus». Da dieser nämlich innerhalb aller biochemischer und neuronaler Abläufe beobachtet und definiert werden kann, erübrigt es sich zunehmend, sich mit dem Bewusstsein überhaupt zu befassen; die Lösung ist darum, dessen Erforschung einfach beiseite zu lassen. Man bestreitet einfach die Relevanz des Unerklärlichen und beschreibt, anstelle dessen, alles Leben und dessen Äusserungen als Zusammensetzung von Algorithmen. Wurden im letzten Jahrhundert auch Emotionen, im darwinistischen Sinne, noch mit ihrer überlebenstechnischen Notwendigkeit begründet, der Geist und der Wille als Souverän über unseren Körper und Triebfeder unserer Entscheidungen verstanden, werden nun Gefühle wie Glück und Leid, Freude und Angst, Ekstase und Verzweiflung, Schmerz, Wut und Liebe als «nichts anderes als unterschiedlich ausbalancierte körperliche Empfindungen» definiert. Gängige wissenschaftliche Lehre ist heute: Emotionen haben keine «Funktion». Sie sind mehr oder weniger angenehme Sinnesempfindungen, die sich, unabhängig vom Anlass ihres Entstehens, im Körper als «Hitze, Brennen, Spannung, Erregung, Ruhe, Kribbeln, Schauer» etc. äussern. Dem Bewusstsein wird von den Forschern in diesem Kontext zwar immer noch «möglicherweise grosser moralischer und politischer Wert» eingeräumt, eine wie auch immer ins Biologische wirkende Funktion wird ihm jedoch schlicht abgesprochen. Aus wissenschaftlicher Perspektive übernehmen diese – Algorithmen. Und mit ihnen eine Flut von Daten.
Unter einem Algorithmus, als Begriff seit dem 9 Jh in Gebrauch, versteht man eine «methodische Abfolge von endlichen Schritten mit deren Hilfe Berechnungen angestellt, Probleme gelöst und Entscheidungen getroffen werden können». Gleiche Voraussetzungen bringen das gleiche Endergebnis. Maschinen funktionieren auf der Basis von Algorithmen. Sie basieren auf mathematischen Formeln und Gleichungen, man hat für sie aber mit dem Aufkommen von Computern und Datenverarbeitung eigene Sprachen entwickelt, die über das Rechnerische hinausgehen, sogenannte formale Sprachen. Damit werden komplexere Handlungsabläufe so beschrieben, dass sie von einem Computer verarbeitet werden können. Computerprogramme werden in dieser Sprache, mit strikter, fantasieloser Syntax geschrieben. Ihre Algorithmen sind in ihren Schritten determiniert, ausser man baut einen Zufallsfaktor absichtlich ein. (Quelle: Internet). Sie sind, sozusagen, die technologische Weiterentwicklung der verbürokratisierten Schrift, welche die Bandbreite der menschliche Ausdrucksvielfalt einschränkt, entfremdet und nun auf rein funktioneller Basis weiterentwickelt. So fremd uns das Wesen der Algorithmen aber ist, wir schätzen sie dennoch überaus, als alltägliche Begleiter, als «Gehirn» in unseren Haushaltsgegenständen und Fortbewegungsmitteln und über Computersysteme und Apps sind sie in mittlerweile in allen unseren Lebensbereichen präsent. Seien es die Algorithmen von Google, Facebook, oder Amazon, die uns zum Teil bereits besser kennen, als unsere Freunde, die des Navigationssystems in unserem Auto, oder die «Watch» auf dem IPhone, ihr Einbezug in unser Leben wird zusehends interaktiver: Während wir sie benutzen, «lesen» sie uns, entwickeln ihre Kompetenzen dadurch weiter und werden als KI – Programme zu Partnern, die uns immer mehr an Verantwortung abnehmen. Im Gesundheitsbereich z. B. Watson, ein Programm von IBM, das bei der Erfassung und Diagnose von Krankheiten, bereits «enorme potenzielle Vorteile gegenüber menschlichen Ärzten» hat und die Ausbildung von Ärzten schon bald überflüssig machen könnte. Apothekencomputer arbeiten im Gegensatz zu Menschen fehlerfrei. Google Flu Trends kann Grippetrends 10 Tage voraussehen. Es gibt künstlerische, z. B. musikalische Programme wie EMI, die einen Vertrag hat, ein Album und einen Hit herausbrachte. Im Bereich «Spiele» war eines der ersten aufsehenerregenden Programme, der Schachcomputer «Deep Blue», der 1996 den damaligen Schachweltmeister besiegte. Die neue Generation der KI aber setzt mehr auf maschinelles Lernen denn auf menschlichen Input, das heisst, sie entwickelt sich autonom weiter. Wie z. B. das Spiel «Alpha Go» von Google Deep Mind. Solche Programme entwickeln in Eigenregie neue, nie gekannte Strategien, mit denen sie Menschen weit überlegen sind. Waze, eine GPS - Navigationsapp, ist viel mehr als eine Karte. Sie kommuniziert mit uns interaktiv und schlägt Entscheidungen vor. Derartige Algorithmen werden schnell zum Souverän, wenn sie mehr wissen als wir, wir sie mit der Entscheidungsfindung betrauen und somit mit Macht ausstatten. Wie auch Cortana, die digitale Assistentin von Microsoft, bereits Bestandteil von Windows, die über den Zugang zu allen Dateien, Emails und Anwendungen in allen Lebenslagen «beratend zur Seite zu stehen» will. In nicht ferner Zukunft könnten diese Systeme zu Akteuren werden und unmittelbar miteinander sprechen, ohne dass ihre menschlichen «Mandanten» etwas davon wissen. Sie könnten sich weiters gegenseitig manipulieren, um die Interessen ihrer Besitzer zu befördern, ja, sogar die Unsitte der Vetternwirtschaft übernehmen und anderen Algorithmen mehr Macht übertragen. Sie könnten eine wichtige Rolle bei der Arbeits- und Partnersuche spielen und Erfolg könnte somit bald schon von der Qualität von Cortana, Google Now oder Siri abhängig werden. Heikel wird diese Art der «Beratung», wenn die Programme sich zwischen meinen verschiedenen «Selbsts» - nämlich dem erinnernden und dem erlebenden – entscheiden müssen, dann nämlich geht es um die Entscheidung zwischen Vernunft und (kurzfristigem) Genuss. Nicht immer will man sich für die effizienteste, gesündeste, zukunftsträchtigste Option entscheiden. Selbstoptimierung könnte unumgänglich, die Entscheidungsfindung darin zwanghaft werden.
Es sind die Biowissenschaften, die zum Schluss kamen, dass auch Organismen Algorithmen sind und die diese Vorstellung vorantreiben. Das Verständnis von Giraffen oder Tomaten, Bäumen, Menschen, Bienenvölkern oder Städten als Algorithmen durchbricht nicht nur per Definitionem die Schranken zwischen Pflanze, Tier und Mensch, sondern zunehmend auch zwischen Organischem und Anorganischem. Längst schon ist die Stigmatisierung von Psychopharmaka durchbrochen, auch die der «Aufmerksamkeitsoptimierung» von Schulkindern mit Aufputschmitteln wie Ritalin. Die Frage der Umgestaltung der Blaupause unseres Körpers, der DNA, schon bei der Entstehung von Leben, steht ständig im Raum. Mit bionischen Prothesen und Organen, einer Vielzahl an biometrischen Geräten, und Nanorobotern, die unsere Gesundheit überwachen und die rund um die Uhr online sind, soll Mensch in Zukunft ausgestattet werden. Diese müssen übers Netz permanent aktualisiert werden, damit die Krankheiten aus dem Cyberspace nicht auch bei meinem Herzschrittmacher, meinem Hörgerät und bei meinem nanotechnischen Immunsystem einhaken, die so «gehackt» werden, und ich eines Morgens aufwache, um festzustellen, dass nun «Millionen ferngesteuerte Nanoroboter» durch meine Venen kreisen. Ja, «Abkopplung wird den Tod bedeuten». Nicht nur die Willensfreiheit ist bedroht, nicht nur wird die veränderte Wahrnehmung auch unsere Sinn – und Bedeutungsinhalte modifizieren, auch die Schere zwischen den Privilegierten dieses Hightech - Systems und den «Verlierern» darin wird sich weiter öffnen. Auf dem Arbeitsmarkt ebenso wie im Gesundheitssystem gilt es, mit der Technik mitzuhalten. Bedroht ist einerseits eine breite Palette von «Allerweltjobs», die von Algorithmen viel besser erledigt werden können, andererseits wird es neue, gefragte Hightech - Jobs geben, wie z. B. Designer für virtuelle Welten. Und die Priorität im Gesundheitssystem könnte sich eher dahin wenden, Gesunde zu optimieren, als die Gesundheit von «Massen nutzloser Armer» zu verbessern. Eine Aufspaltung der Menschen in biologische Kasten steht uns ins Haus – in eine kleine und privilegierte Elite optimierter Menschen und eine relativ «nutzlosen niederen Kaste», die von den Computeralgorithmen ebenso beherrscht werden, wie von den «Übermenschen». Die liberale Lösung, sozialer Ungleichheit als unterschiedlichen menschlichen Erfahrungen gleichen Wert zuzuschreiben, wird zunichte gemacht, wenn nicht nur die ökonomische, sondern auch die biologische Kluft wächst. Es gilt, mit den nichtorganischen Algorithmen mitzuhalten, die sich unaufhaltsam von Handlangern zu Tonangebern wandeln.
Nicht nur der freie Wille, Pfeiler des liberalen Humanismus, nimmt unter dem Elektronenmikroskop immer grösseren Schaden. Was geschieht mit menschlichen Gefühlen als Autorität, als Parameter für Sinn und Wertzuschreibung, gar «Währungsdeckung» in einer von maschinellen, rationalen Vorgaben und der Nützlichkeit verpflichteten Welt? Welche Funktion bleibt dem Geist? Sie alle stehen vor einer Art Generalherausforderung. Und in einer Welt, in der die Gesetze der freien Marktwirtschaft gelten, in der Wachstum Bedingung ist, gilt für Organismen und DNA – Moleküle, für Geschichten, Vorstellungen und Fiktionen dasselbe, was für anorganische Algorithmen gilt: aufgewertet wird, was auf dem Markt besteht, abgewertet, was «überholt» wurde. Humanistische «Mythen», Glaubenssätze und «Lieblingsfiktionen» stehen wankend auf dem Podest. «Wir stehen vor einer wahren Flut äusserst nützlicher Apparate, Instrumente und Strukturen, die auf den freien Willen individueller Menschen keine Rücksicht nehmen». Ja, auch Homo sapiens selbst könnte bald zum «obsoleten Algorithmus» werden, Künstliche Intelligenz und Biotechnologie könnten unsere Gesellschaften und Ökonomien, unseren Körper und unseren Geist schon bald überholen.
Mit Sicherheit werden Menschen ihren wirtschaftlichen und militärischen Nutzen verlieren, weshalb das ökonomische und das politische System ihnen nicht mehr viel Wert beimessen wird. Als Kollektiv zwar wird das System den Menschen weiterhin schätzen, nicht aber als einzigartiges Individuum – bis auf die wenigen Angehörigen der neuen Elite optimierter Übermenschen. Und nicht nur seines Wertes, auch seiner Macht könnte Homo sapiens beraubt werden, wenn externe Algorithmen damit betraut werden, die z. B. als Investoren oder Liegenschaftsverwalter auch Prozesse führen und eine algorithmische Oberschicht bilden könnten, die den Grossteil unseres Planeten besitzt. Aber auch die Menschheit als Kollektiv sieht sich politisch herausgefordert, denn aufgrund veränderter Bedingungen für Datenverarbeitung sind auch Demokratie, Parlamente und Wahlen in Gefahr. Wähler spüren schon länger, dass ihnen der demokratische Mechanismus keine Macht mehr verschafft. Die neoliberale Maxime, alle wichtigen Entscheidungen und somit unsere Zukunft dem Markt zu überlassen, ist gefährlich, denn, man weiss es, was für den Markt gut ist, ist es nicht unbedingt für den Menschen. Das Verschwinden von Macht aus dem Kompetenzbereich von Wählern wie Politikern, zieht unvermeidliche Schuldzuschreibungen und manch abstruse Verschwörungstheorie nach sich und verhilft «Anti – Establishment – Kandidaten» aller Färbungen zum Aufstieg. Fest steht aber, die Macht wird nicht über Politiker wie Donald Trump, Bernie Sanders oder durch einen EU – Austritt zu den Wählern zurückkehren, auch die Entmachtung von Milliardären wäre zu kurz gegriffen. Solche Ansätze unterschätzen die Komplexität des Systems. Gutmeinende Politiker wie Diktatoren sind gleichermassen überfordert, werden durch die Entwicklungen «förmlich erschlagen» und denken daher auch in viel kleineren Dimensionen als ihre Vorgänger vor 100 Jahren, denn in einem chaotischen System ist der Tunnelblick immer von Vorteil. Obwohl die heutigen «Propheten» und (politische) Visionäre über ein ungleich breiteres Spektrum an Möglichkeit verfügen könnten, als ihre Vorgänger vor 100 Jahren, fehlt es in der Politik anfangs des 21. Jahrhunderts vollkommen an Visionen. Länder werden verwaltet, nicht mehr geführt. Das Unterfangen, neue Menschen zu schaffen, hat sich ausgelagert - die Verbindung von «gottgleicher Technologie mit einer Politik, die auf kurze Sicht fährt», hat ihre Schattenseiten und Machtvakuen halten selten lange vor. Wenn die traditionellen politischen Strukturen im 21. Jh. sich nicht mehr dazu in der Lage sehen, sinnvolle Visionen zu produzieren, dann werden sich neue und effizientere Strukturen bilden, die dies übernehmen und die «völlig anders aussehen als frühere politische Institutionen» egal welcher Couleur. Und wenn die Menschheit dieser Aufgabe nicht gewachsen ist, könnte sie es vielleicht «jemand anderen» versuchen lassen.
Kurz zurückgeblickt und reflektiert: Die Auslagerung von Verantwortung über Banken in juristische «Körperschaften» wie GmbHs und in die Zukunft, in Kombination mit immer neuer «Wertschöpfung» hat dazu geführt, dass Menschen nun gezwungen werden, reale Verantwortung zunehmend an «Körperschaften» abzugeben, die sich aus ebendiesem System ergeben und die dem Menschen definitiv entgleiten.
Zwei «Haupttypen der neuen Techno – Religionen» erscheinen nach Yuval Harari nun am Horizont: die des «Techno – Humanismus» und die der «Datenreligion». Die «Techno – Religion» ist die konservativere von beiden, die sich weiterhin an den traditionellen humanistischen Werten orientiert, an ihnen festhalten möchte. So will er die Kontrolle über den «geheiligten» menschlichen Willen, den «Nagel», an dem der Humanismus «das gesamte Universum hängt» aufrechterhalten. Erreicht soll das werden, indem Mensch sich fortlaufend selbst optimiert. Der technische Fortschritt wird uns allerdings dazu zwingen, die «massgebende Instanz», unsere inneren Stimme, auch unser Glücksstreben zu kontrollieren, quasi einzutunen, an «Knöpfen herumzudrehen» und Ungleichgewichte auszubalancieren, die nur allzu oft und in Zukunft voraussichtlich immer öfter, vielversprechenden Karrieren und soliden Beziehungen Abbruch tun. Vielleicht, fragt Harari rhetorisch, gelingt es ja gerade auf diesem Weg, der «Ummodlung» und Manipulation unserer Wünsche, die «Kakophonie widerstreitender Geräusche in unserem Inneren zugunsten einer «authentischen Stimme» in den Hintergrund zu drängen? Ja, vielleicht könnte man gar über wirkungsvolle Medikamente, Gentechnik, elektronische Helme und direkte Schnittstellen zwischen Gehirn und Computer Zugänge schaffen zu einer, ähnlich den Spektren von Licht und Klang, unendlichen Vielfalt von Bewusstseins – und Geisteszuständen, die «keine Fledermaus, kein Wal und kein Dinosaurier» je erlebt hat, die vom Menschen bisher höchstens mithilfe von Meditation, Rauschmitteln und Ritualen erfahren werden konnten? So wäre ein unvergleichlich breiteres Feld an Wunschmöglichkeiten verfügbar. Aber wäre dieses Szenario denn an sich wünschenswert, ist es erstrebenswert, «unangenehme Wünsche» aus der Welt zu schaffen – und wie verhielte sich dieser Eingriff in die Tiefe der menschlichen Psyche im Verhältnis zur Sinnfindung? Wie auch immer – der liberale Humanismus wird, so er im Kern bestehen bleiben will, dem «Techno – Humanismus» Platz machen müssen und dieser setzt auf ein technisch upgegradetes, «höherwertiges menschliches Modell»: auf HOMO DEUS. Dieser wird einige wesentliche menschliche Merkmale behalten, aber mit einem optimierten Körper und Geist versehen sein, die ihn in die Lage versetzen werden, sich sogar gegen die ausgeklügeltsten nicht – bewussten Algorithmen zu behaupten. Die Entwicklung dahinter bezeichnet Harari als die «zweite kognitive Revolution», und als solche als die «aktualisierte Variante der alten Träume des evolutionären Humanismus», der schon vor einem Jahrhundert die Schaffung von Übermenschen forderte.
Die zweite Variante von «Religion» im 21. Jahrhundert, wählt den Ausstieg aus dem Dilemma der menschlichen Wünsche als Zentrum der Welt in die Verlagerung des Quells allen Sinns und aller Autorität hin zur: Information. Die «Datenreligion» geht davon aus, dass das Universum aus Datenströmen besteht. Der Wert eines jeden Phänomens und Wesens darin bemisst sich nach seinem/ihrem Beitrag zur Datenverarbeitung. Entstanden ist der «Dataismus» nach Harari aus dem Zusammenfluss zweier wissenschaftlicher Flutwellen: dem Darwinismus, der Organismen als Algorithmen definiert und der Turing – Maschine, die elektronische Algorithmen immer ausgeklügelter fortentwickelt. Der Dataismus ist es, der im Einklang mit den Biowissenschaften behauptet, dass für biochemische wie elektronische Algorithmen genau die gleichen mathematischen Gesetze gelten und der somit die Grenze zwischen Lebewesen und Maschinen einreisst. Für Politiker, Unternehmer und Konsumenten hat er «ungeheure neue Möglichkeiten im Angebot» - er verspricht für manche Wissenschaftler den Heiligen Gral zu liefern: eine einzige, übergreifende Theorie, die alle wissenschaftlichen Disziplinen von der Musikwissenschaft über die Ökonomie bis zur Biologie vereint. Beethovens 5te und ein Grippevirus liessen sich so mit den gleichen Grundbegriffen analysieren und auswerten. «Ungeheuer attraktiv» scheint diese Möglichkeit. Der Dataismus «kehrt die traditionelle Erkenntnispyramide um». Einst galten Daten als der erste Schritt in einer vorausgesetzten Kette geistiger Aktivität: aus Daten gewinnt man Informationen, diese werden in Wissen und danach in Klugheit verwandelt. Dataisten aber glauben, dass «Menschen die ungeheuren Datenströme nicht mehr zu bewältigen und zu Klugheit zu destillieren» vermögen und dass daher die Arbeit der Datenverarbeitung elektronischen Algorithmen anzuvertrauen ist, deren Kapazitäten die des menschlichen Gehirns weit übertreffen. Der menschliche Geist wird also hier ausgebootet, indem die erste Stufe in der Kette geistiger Aktivitäten, nämlich die Information, zum dominanten Faktor erhoben wird und in Form des Internets aller Dinge, vom Bewusstsein abgekoppelt, an dessen Stelle tritt. Auf politischer oder systemischer Ebene ist diese Version der Bewältigung vergleichbar dem Kommunismus. Die menschliche Spezies ein einziger Apparat bezw. ein Datenverarbeitungssystem, einzelne Menschen Mikrochips im System, einem System, das immer weniger verstanden wird.
Manche Parallele zwischen den «Religionen» und deren Simulation der Inhalte gerade auch theistischer Religion, wird anhand des Dataismus, Fortsetzung des Kapitalismus, besonders deutlich. Wie schon der Kapitalismus nimmt auch der Dataismus, nach einer neutralen, unauffälligen Einstiegsphase, im fortgeschritten Stadium für sich in Anspruch, über Richtig und Falsch zu bestimmen. Die oberste Maxime, Quell aller guten Dinge im Kapitalismus, das Wirtschaftswachstum, wird im Dataismus durch die Informationsfreiheit ersetzt, oberster Wert dieser Religion ist der Informationsfluss. Dieses maximierte, alles durchdringende Datenverarbeitungssystem wird überall sein, alles kontrollieren und miteinander verbinden: Autos, Bäume, Hühner, Kühlschränke und Menschen. Ähnlich auch der hinduistischen Vision der Verschmelzung mit Atman. Der Vorzug von Menschen gegenüber Hühnern und anderen Tieren darin besteht allein darin, dass sie komplexere Prozessoren sind und «Datenfitzelchen von sich online stellen können». Die «unsichtbare Hand des Marktes» im Kapitalismus wird durch die unsichtbare Hand des Datenflusses im Dataismus ersetzt. Traditionelle Religionen sagen, Gott sieht mich jede Minute und kümmert sich um all meine Gedanken und Gefühle. Die Datenreligion sagt, dass jedes meiner Worte und jede meiner Handlungen Teil des grossen Datenflusses ist, dass mich die Algorithmen ständig im Auge haben und sich um alles kümmern, was ich tue und empfinde. Menschen wollen im Datenfluss aufgehen, denn dann sind sie Teil von etwas Grösserem als sie selbst. Erfahrungen haben nur dann Wert, wenn man sie teilt. So ist der Dataismus auch missionarisch und die grösste Sünde dieser «Religion» ist, den Datenfluss zu blockieren. Auch einen «Märtyrer» hat die Bewegung schon, nämlich Aaron Swartz, der sich erhängte, nachdem ihm zur Last gelegt wurde, dass er Daten einer Plattform unrechtmässig online gestellt hatte. Ein freier Datenfluss könnte durchaus auch Umweltvorteile haben, beispielsweise Luftverschmutzung und Müll verringern oder über eine Rationalisierung des Verkehrssystems. 50 Mill Autos könnten 1 Milliarde private PKWs ersetzen… vorausgesetzt, ich verzichte auf meine Privatsphäre und lasse die Algorithmen stets wissen, wo ich bin und wo ich hinwill. (Mittlerweile hat sich gerade gezeigt, dass auch Sorge um die Gesundheit ein grosses Potential besitzt, den Datenfluss gehörig in Schwung zu bringen.) Auch Sinnfindung wird den Algorithmen übertragen, welche nun, folgerichtig, die Gefühle als Instrument der Sinnfindung ablösen. Abkopplung vom Datenfluss birgt die Gefahr einer Sinnkrise. Wo aber kommen die Algorithmen her? Dies ist das «Geheimnis», das «Mysterium» des Dataismus. Computerfreaks schreiben sie, aber die wirklich wichtigen Algorithmen, wie etwa der Suchalgorithmus von Google und andere Masteralgorithmen werden von riesigen Teams entwickelt, von denen niemand den ganzen Algorithmus richtig begreift. Zudem entwickeln diese ja ihre Eigendynamik – und können Wege einschlagen, die Menschen noch nie gingen und wohin sie ihm auch nicht folgen können. Selbst wenn der Dataismus unrecht hat und Organismen nicht nur Algorithmen sind, wird er die Welt dann übernehmen, wenn er zum übergreifenden wissenschaftlichen Paradigma wird. Auch kann man wissenschaftlich nicht ausschliessen, was u. a. Ray Kurzweil im Buch «The Singularity is near» beschrieben hat: die Ausbreitung eines Algorithmus über den Planeten Erde hinaus, hinein in die Weite des Universums.
Yuval Harari betont zum Schluss, dass die «entworfenen Szenarien als Möglichkeiten, weniger als Prognosen verstanden werden sollten». Dass sein Anliegen sei, «den Ursprüngen unserer gegenwärtigen Konditionierung nachzuspüren, um ihren Griff zu lockern». Genau dieses Anliegen wollte auch mit diesem Artikel aufgegriffen werden. Es sollte auch veranschaulicht werden, dass und wie unsere Überzeugungen sich manifestieren. Es gibt in diesem Sinne kein «Aussen» und «Innen», alles fluktuiert…
Natürlich muss man als theistisch Gläubiger, als Muslim, Yuval Harari in manchem grundsätzlich widersprechen, allem voran in der Leugnung der Seele, jenes «Organs», das den Menschen mit dem Göttlichen, Ewigen verbindet, Zugang zu einer anderen Dimension gewährt sowie jener Dimension selbst. Aber wir alle sind aktive Teilnehmer am Prozess des «Abenteuers» im abgekoppelten Räumlich – Zeitlichen. Wir alle sind, im 21. Jahrhundert, nolens volens, Mittäter bei der Hinausschiebung von Verantwortung, Mitspieler im Spiel der Täuschungen, Mitgefangene in der Blase des Verlustgeschäfts, das sich «Fortschritt» nennt. Und nicht nur das. Wir sind Zeugen der fundamentalsten und ungeheuerlichsten Verschwörung der Menschheitsgeschichte: Derjenigen gegen Wahrheit, gegen Gerechtigkeit, gegen jegliches natürliche Gleichgewicht. Letztlich einer Verschwörung gegen die Wirklichkeit schlechthin zugunsten von Vergänglichkeit, Täuschung und Fiktion. Der Mensch, der seine eigene Geschöpflichkeit zur Diskussion stellt, sich selbst oberste Schöpfer – und Gestalterqualität anmasst, keinen Souverän ausser sich selbst anerkennt und seine Verantwortlichkeit als optional und beliebig eingeordnet hat, hat sich vor allem gegen sich selbst und seine ureigenste Natur verschworen. Wir haben die Freiheit mitbekommen, zu Zeugen gegen uns selbst zu werden, den Folgen davon aber können wir uns nicht entziehen - in der Dimension des Zeitlichen wie in der des Ewigen.
Yuval Harari hat mit seinen Büchern, mit seinem Röntgenblick durch alle «Geschichten» und Fiktionen der Menschheit, auch mit seiner radikalen Entlarvung aller Ansätze menschlichen Hochmuts, Übermuts und der Zuschreibung und Anmassung von Göttlichkeit, unweigerlich einen wertvollen Beitrag geleistet, uns aufzurütteln. Neben der Seele aber hat er noch ein Organ verkannt, das beim Festhalten an wahrer Spiritualität, auch an Religion im wahrhaftigen Sinne, im Sinne von Hinwendung zum Quell der Existenz, essenziell ist: Das Herz. Keine Kultur und Tradition, in der dem Herzen nicht eine zentrale, auch spirituelle, Funktion zugeschrieben wird. Heute wird auch an der «Herzintelligenz» wissenschaftlich geforscht und Erstaunliches zutage gefördert. Das Herz als spirituelles Organ ist über das Zentrum der Emotionen hinaus möglicherweise auch Sammelbecken des «Ich», des «Selbst», auch des Bewusstseins. Es wird in der islamischen Tradition als Organ der Unterscheidung, Differenzierung, des Wissens und des Ursprungs der Absicht und Ausrichtung verstanden. Mit Sicherheit kommt ihm eine Schlüsselfunktion bei der Navigation durch die Herausforderungen unserer Zeit zu.
Wenn Bewusstsein durch unbewusste Algorithmen ersetzt wird, wird so gesehen also das Zentrum des Menschen stillgelegt, zugunsten herz – und seelenloser Intelligenz. Möge Allah uns davor bewahren, Der alleinige Inhaber von Kraft und Macht, Der, der alles sieht, hört und durchdringt und jedem Ding seine Form und Bestimmung gegeben hat. Erhaben ist Er.
In der «kleinen Geschichte der Menschheit» erzählte Yuval N. Harari die Geschichte des Homo Sapiens vom Jäger und Sammler bis in die Gegenwart. Einer Gegenwart, in der die «neuen Religion des Humanismus», untermauert durch Wissenschaft, Kapital und Technik eine Ordnung geschaffen hat, die vom Menschen selbst, als Dreh- und Angelpunkt des Daseins ausgeht. Jetzt ist er dabei, sich selbst neu zu erfinden, im Rahmen einer «neuen Agenda», die da wäre: Unsterblichkeit, Glück und Göttlichkeit.
In «Homo Deus», 2016 publiziert, vertieft Yuval Noah Harari den Blick auf das moderne anthropozentrische Weltbild, auf dessen Sinn- und Werteverständnis, auf sein Menschenbild und seinen Mythos, sowie auf die technischen und wissenschaftlichen Errungenschaften in dessen Schlepptau. Auch in diesem Buch erfrischt und verblüfft er durchgehend durch die radikale Entzauberung alles Ideologischen, das er mit «Religion» (= Tatsachenbehauptung, intersubjektive Übereinkunft) gleichsetzt und von Spiritualität (innere Reise, Sinn - und Wahrheitssuche) scharf unterscheidet. Harari, der meditierende Atheist, hält mit seiner eigenen Einstellung nicht hinterm Berg und spickt zudem auch «Homo Deus» mit vielen anschaulichen, oft witzigen, zuweilen zynischen Beispielen. Dem aufmerksamen Leser werden Schwachstellen, auch widersprüchliche Aussagen nicht entgehen. Eine gewisse Ambiguität fühlt sich allerdings stimmig an und dass ob der umfassenden Thematik Hararis Herangehensweise nicht in allen Aspekten geteilt werden kann, dass auch sein Stil, seine Terminologie, sein Auftritt nicht jedermanns Sache sind, sollte nicht dazu führen, «das Kind mit dem Bade auszuschütten». Denn Yuval Hararis Perspektiven und Recherchen sind zu brisant, zu relevant und treffen zu sehr den Nerv der Zeit, um leichtfertig beiseitegeschoben zu werden. Seine Fragestellungen regen zum profunden Nachdenken über Verhältnisse an, die uns schon generationenübergreifend zum selbstverständlichen Alltag geworden sind und die gründlich zu hinterfragen an der Zeit ist. Harari tut dies auf seine Weise und er provoziert bewusst. In diesem Buch geht er mit dem geistigen Seziermesser an die Glaubenssätze der Moderne und weist auf deren gegenwärtige Implikationen und Konsequenzen sowie mögliche künftige Entwicklungen und Manifestationen hin.
Die industrielle Revolution hat uns im Zuge wundersamen Wirtschaftswachstums auch grosse Schrecken, Katastrophen und vernichtende Kriege beschert. Tendenziell aber wurden Krieg, Krankheit und Hunger im letzten Jahrhundert vergleichsweise eingedämmt. Noch vor einigen Jahrhunderten war die Option Krieg meist eine Selbstverständlichkeit, Hungersnöte allgegenwärtig und Seuchen forderten immer wieder Opfer in Millionenhöhe. Heute ist Krieg schon deshalb unwahrscheinlicher geworden, weil die wertvollste Ressource der Gegenwart und zentrale Quelle von Wohlstand «Wissen», im Sinn von Knowhow und Information ist und die Schätze des Silicon ? Valley, anders als Gold oder Öl, viel effizienter in friedlichem Handel zu bekommen sind. Natürlich steht die Möglichkeit von Atom- oder Cyber ? Kriegen immer bedrohlich im Raum. Diese wird aber vor allem als Abschreckung eingesetzt und sieht vom Einschreiten in grossem Umfang bisher möglichst, ab. Terrorismus bezeichnet Harari als «Strategie der Schwäche» und «Gewaltspektakel», mit dem vorrangigen Ziel der Provokation, auf das Staaten sich dann verpflichtet fühlen, mit einer «Sicherheitsshow», einer Überreaktion der staatlichen Gewalt zu reagieren, welche an sich eine grössere Gefahr für unsere Sicherheit darstellt, als der Terrorismus selbst. Hunger wird öfter durch Politik denn durch Naturkatastrophen verursacht und Krankheiten durch Selbstverschulden wie Diabetes oder auch Suizid befinden sich auf dem Vormarsch. Die Devise der Aufrüstung zur In- Schach - Haltung einerseits und zielgerichteten Steuerung andererseits hat über die Biowissenschaften auch die Medizin erreicht. So wurden Epidemien drastisch zurückgedrängt, auch hier aber besteht die Gefahr des gesteuerten Einsatzes. Harari bezeichnet es als wahrscheinlich, dass grössere Epidemien die Menschheit in Zukunft vor allem dann bedrohen, «wenn diese selbst sie im Dienste irgendeiner erbarmungslosen Ideologie erzeugt».
Bei diesem stets anwachsenden Potential an menschlicher Einflussnahme auf übermenschlich angelegte Möglichkeiten, ist es natürlich von grosser Bedeutung, sich über die «neue Agenda» Gedanken zu machen, ehe die technischen Entwicklungen selbst uns relevante Entscheidungen abnehmen. Denn diese sind dabei, unsere moralisch ? ethischen und politischen Inhalten sowie unsere Selbstwahrnehmung vollkommen umzukrempeln: «Eine Ökonomie, die auf immerwährendem Wachstum gründet, braucht grenzenlose Projekte, wie das Streben nach Unsterblichkeit, Glück und Göttlichkeit.» Diese Behauptung mag befremden. Es ist für den wachen Beobachter jedoch offensichtlich, dass das von exponentieller Beschleunigung angetriebene Streben, Forschen und Agieren herkömmliche Weltsichten und Sinnzusammenhänge laufend abstreift, neue Kontexte schafft und sich dabei immer enger und ausschliesslicher auf den Brennpunkt Mensch als Organismus, als emotional - intellektuelles Wesen und, last but not least, als Algorithmus zubewegt. Die Maxime des «Rechts auf Leben, Freiheit und Glück» entfernt sich zunehmend vom philosophisch ? metaphysischen Bezug, auch vom Versuch ihrer ethischen und politischen Umsetzung und wandelt sich vor unseren Augen zum blossen wissenschaftlichen Projekt.
Es gab und gibt aber einen «religiös» ? ideologischen Hintergrund, den Harari in etwa so umreisst: Das Transzendente als kollektiver Bezugspunkt wurde im Schlepptau der wissenschaftlichen Revolution (ab 15. Jh) vom Humanismus als «neuer Religion» abgelöst. Diese hat sich in drei Fraktionen gegliedert und erscheint entweder im «liberalen», «sozialistischen» oder «evolutionären». Kleid. Die «sozialistische Fraktion» umfasst die sozialistisch/kommunistische Linke, beruht auf dem Prinzip der Gleichheit und definiert die menschliche Natur als eine kollektive. Die «evolutionäre Fraktion» ist «darwinistisch inspiriert», sie geht von der Vorstellung eines Über ? bez. Untermenschen aus, befürwortet die «Züchtung des Übermenschen» und tritt dementsprechend autoritär auf. Darunter sammelt sich die gesamte politische Rechte. Die «liberale Fraktion», wie die sozialistische auch ein Abkömmling der christlichen Vorstellung einer «heiligen menschlichen Natur» hat sich nach dem 2. Weltkrieg durchgesetzt und hat sich in der Phase des Aufbaus als sehr nützlich erwiesen, um das Projekt der Moderne voranzutreiben. Diese Einteilung und Spezifizierung stösst beileibe nicht nur auf Zustimmung, sie erregt manches Gemüt. Der Gedanke dieser verschiedenen Fraktionen als einer und derselben Ideologie, bezw. «Religion» ist jedoch für eine schlüssige Analyse der Moderne bedeutsam und in ihrer Einfachheit mag ein Schlüssel liegen. Ob die verschiedenen Fraktionen nicht in der Tat nur leicht austauschbare Gesichter derselben Lebensauffassung sind, bleibe dahingestellt ? die Zukunft wird es weisen. Harari warnt jedenfalls in Bezug auf den Humanismus, den er mit der «Anbetung des Menschen» gleichsetzt, in ihm sei schon die Saat zu seinem Sturz enthalten: «Wenn man mit einem mangelhaften Ideal beginnt, erkennt man seine Defizite oftmals erst dann, wenn es kurz vor der Verwirklichung steht.»
Das Merkmal von Religion ist nach Harari die «intersubjektive Übereinkunft». Er unterscheidet hier nicht zwischen Religion, Ideologie und religiösen Ideologien ? eine Parallele, die übrigens in semitischen Sprachen etymologisch gegeben ist. Er definiert diese als «allumfassende Geschichte», und «vollständige Beschreibung der Welt, die menschlichen Gesetzen, Normen und Werten eine übermenschliche Legitimation verschafft». Während die innere spirituelle Reise des Individuums vor allem danach ausgerichtet ist, Fragen zu stellen, solche, die auch nicht vor der Frage nach dem Wesen des «Ich» und dem Sinn des Daseins Halt machen, lebt und nährt sich Religion aus Antworten. Während Spiritualität auf ihrer Wahrheitssuche auch unbequeme Antworten gelten lässt, ist das Ziel von Religion, Ordnung zu etablieren, Orientierung zu geben und Macht auszuüben. Diese Machtstrukturen bildet der Homo Sapiens innerhalb seiner «Dreifachwirklichkeit» aus objektiven Gegebenheiten, innerem Erleben sowie, anders als bei Tieren, über (geschriebene) Sprache vermittelte «Geschichten» oder «gemeinsamen Fantasien». Aus diesen erschafft er «Wirklichkeiten» wie Währungen, Nationen, die Weltbank, Google und ? wieder modifizierte -«Religionen». Diese «intersubjektiven Sinngeflechte» ermöglichen sowohl massenhafte Kooperation innerhalb grosser Gruppen, erfordern gleichzeitig auch deren Beherrschung. Während vormoderne Mythen und «Fiktionen» vor allem von einem sinnvollen kosmischen Plan ausgingen, in dem alles seinen Platz in der grösseren Ordnung der Dinge einnahm, lehnt die moderne Kultur den Glauben an einen kosmischen Plan ab: «wir sind keine Darsteller in irgendeinem Drama, das grösser ist, als das Leben. Das Leben kennt kein Textbuch, keinen Stückeschreiber, keinen Regisseur, keinen Produzenten - und keinen Sinn». Aber: «Der moderne Pakt verschafft uns Macht». Und «befördert wird das Streben nach Macht durch das Bündnis zwischen wissenschaftlichem Fortschritt und wirtschaftlichem Wachstum». «Intersubjektive Sinngeflechte» verdrängen den kosmischen Sinn, Humanismus, Wissenschaft und Wirtschaft bestimmen zusammen Sinn, Inhalte und Werte.
Das Wirtschaftswachstum ist zum «Knotenpunkt geworden, an dem sich fast alle modernen Religionen, Ideologien und Bewegungen treffen» und hat einen Beinahe ? Religiösen Status erreicht, der Glaube daran kann mit gutem Recht ebenfalls als fester Bestandteil der modernen Religion bezeichnet werden. Die «erschaffenen Wirklichkeiten» auf Grundlage dieses «Pakts» haben unser Leben in Beschlag genommen, und fordern vermehrt unsere ganze Aufmerksamkeit ein. Wissenschaft, stellt Harari fest, bedarf des religiösen Unterbaus. Die Aktionsfelder von Religion und Wissenschaft sind komplementär, Religion beschäftigt sich mit Ordnung, der Wissenschaft geht es in erster Linie um Macht. Religion spricht von Werten, Wissenschaft befasst sich mit Tatsachen. Religiöse und wissenschaftliche «Wahrheit» ist schon deshalb gut kompatibel, meint Harari, weil sich im Grunde «weder Wissenschaft noch Religion sehr um die Wahrheit schert». «Fiktion», so sieht er es, «ist nicht schlimm. Sie ist lebenswichtig».
Betrügt sich der Mensch wirklich so bereitwillig selbst um Wahrheit und Wirklichkeit im Austausch für die vorübergehende Illusion von Macht? Ist nicht die Suche nach Sinn, nach ewigen Werten, nach bedeutsamen Antworten auf existentielle Fragen tief in uns verwurzelt? Harari meint: der Mensch braucht noch etwas mehr, um Sinn so gefährlich nahe bei Fiktion anzusiedeln bezw.ihn ihr gleichzusetzen und seine Glaubenssätze auf ihr zu bauen. Er braucht einen Mythos. Diesen Mythos liefert der «revolutionäre Glaube des Humanismus» mit dem Glauben an den Menschen selbst als Quell allen Sinns. Wir alle, auch die älteren Jahrgänge, sind mit dieser Vorstellung aufgewachsen und sie mag uns nur wenig bewusst sein. In der Tat aber ist sie einzigartig in der Geschichte: «Als der Ursprung von Sinn und Macht vom Himmel in die menschlichen Gefühle wanderte, veränderte sich das Wesen des gesamten Kosmos». Das äussere Universum wurde zu einem «leeren Raum», während die innere Welt, «bis dahin eine bedeutungslose Enklave vulgärer Leidenschaften, mit einem Mal unermesslich tief und reichhaltig» erschien. Engel, Dämonen, Himmel und Hölle ? alles nur noch innere Seelenzustände. Nietzsches «Gott ist tot» ist so zu verstehen. Bei all dieser Umwälzung müssen wir dennoch nicht zwingend dem Monotheismus abschwören, entscheidend ist genau diese Verlagerung der Quelle von Sinn. Und da Sinn und Autorität immer miteinander einhergehen, werden folglich menschliche Gefühle, gepaart mit geistiger Entscheidungsfreiheit, auch zum Quell von Autorität. Allerdings ist dieser vom lebenden Menschen abhängige Sinn, zwangsläufig fragil und vergänglich. Ständiges Streben nach Macht in einem Universum ohne Sinn? kein Wunder, dass «die mächtigste Kultur der Geschichte stärker als jede frühere Kultur von existentieller Angst geplagt» wird. Allmacht und Abgrund des Nichts ? zwei Seiten der modernen Medaille. «Wir haben versprochen, im Namen einer exponentiellen Wachstumsdoktrin im Austausch für Macht auf (universellen) Sinn zu verzichten, und glauben, die Vorteile des «Deals» geniessen zu können, ohne den Preis dafür zu bezahlen.» Dieser Preis ist unter anderem auch, dass diese Fiktionen die Ziele unserer Zusammenarbeit bestimmen. Religionen, Politik, Kunst und Moral ? sie alle haben die neue Doktrin übernommen. «Unsere Gefühle geben nicht nur unserem Privatleben einen Sinn, sondern auch gesellschaftlichen und politischen Prozessen». Kein Wunder auch, dass unter dieser Konstellation die anfangs genannte «Agenda» innerhalb des Prozesses beinahe zwingend wird.
Man könnte nun einwenden, in der Praxis müsse die «Autorität Emotion» doch zu Anarchie und Nihilismus führen. In der Tat schwebt dieser Schatten ständig über unseren Köpfen und bricht auch immer wieder massiv ins Geschehen ein. Und obwohl die klassischen Wirtschaftstheorien behaupten, dass Menschen «rationale Rechenmaschinen» sind, gibt Harari zu bedenken: «Sapiens verhalten sich nicht gemäss einer kühlen mathematischen Logik, sondern folgen eher einer warmen sozialen Logik. Wir werden von Emotionen beherrscht!» Wie also wird in Schach gehalten, was per se, auch über den grossen «Eisberg» des Unterbewussten, Macht über uns hat? Ist die Kraft des gemeinsamen Mythos so gross? Und bietet sich nicht vielleicht gerade dieser als Angelpunkt für Macht und Manipulation, gerade im Zeitalter der digitalen Medien? Wo aber bliebe da ein weiteres «Heiligtum» des Liberalismus, der freie Wille? Harari ist nicht der Erste, der solche und ähnliche Fragen stellt, aber wohl einer der wenigen, die sie, auch durch die Brille der Wissenschaft besehen, konsequent zu Ende denken und viele Dinge auf den Punkt bringt. So entlarvt er, zum Beispiel, so banal wie treffend, Emotionen als die eigentliche ökonomische «Wertdeckung» unserer Zeit. Das kapitalistische Credo des Wirtschaftswachstums als «Quell aller guten Dinge» und «höchster Wert» verweist auf den Ausweg aller Dilemmata unserer Zeit immer in die Zukunft und lädt so ständig zu einer nächsten Runde des existentiellen Pokers ein.
Bevor wir hier weitergehen und uns dem überaus spannenden Thema der auf diesem abenteuerlichen Boden agierenden Wissenschaften zuwenden, noch eine kurze Reflektion: Harari unterscheidet höchstens beiläufig, am Rande, zwischen Existenz und einem ewigen Sein, ausserhalb von Raum und Zeit und berücksichtigt diesen Aspekt nicht in seinen Betrachtungen. Natürlich kann dies als zentraler Schwachpunkt empfunden werden, denn auch Teile der Wissenschaft, wie die Quantenphysik, weisen auf diese Seinsform hin. Harari fokussiert sich hingegen auf die Unterscheidung zwischen Energie ? und Materiekreislauf und einem alles durchdringenden Bewusstseinsstrom. Aber auch der Geist, welcher das bewusst empfindende, erlebende Individuum in die Lage versetzt. moralisch zu werten und zu entscheiden, wodurch Mensch sich von Roboter unterscheidet, befinde sich in Gefahr, «der Seele, Gott und dem Äther im Mülleimer der Wissenschaft Gesellschaft zu leisten». Biowissenschaft fahren am besten damit, menschliches Erleben bis hin zu elementaren Empfindungen wie Schmerz und Freude, als nichts als eine Art «geistige Luftverschmutzung» zu deklarieren. Die Behandlung alles Lebendigen als Datenverarbeitung und die Gleichsetzung aller Organismen mit Maschinen entspricht dem Zeitgeist und passt am besten ins Zukunftsbild. Die Definition des menschlichen Geists und seiner Psyche als «datenverarbeitendem Computer» und des Menschen insgesamt als von Sexual ? und anderen Trieben befeuerte «Dampfmaschine» hat auch die Psychiatrie geprägt. Unaufhaltsam ebnet diese Vorstellung den Weg für die zunehmende Verschmelzung des Technologischen mit dem Organischen und birgt somit die Saat einer unheimlichen Metamorphose.
Wissenschaft, sagt Harari, verstärkt, trotz des Fokus auf Fakten, die Mythen. «Statt intersubjektive Realität zu zerstören, wird die Wissenschaft sie in die Lage versetzen, die objektive und die subjektive Realität noch umfassender als bisher zu kontrollieren. Dank Computern und Biotechnologie wird sich der Unterschied zwischen Fiktion und Wirklichkeit auflösen, wenn die Menschen die Realität so ummodeln, dass sie ihren Lieblingsfiktionen entspricht.» Und: die moderne Gesellschaft glaubt an humanistische Dogmen und nutzt die Wissenschaften nicht, um diese in Frage zu stellen, sondern um sie zu implementieren. Jedoch es könnte sein, dass der Pakt zwischen Wissenschaft und Humanismus sich bald schon auflöst und «durch eine ganz anders geartete Abmachung ersetzt wird», nämlich der zwischen Wissenschaft und einer neuen posthumanistischen Religion.
Was sagen eigentlich die traditionellen Religionen zu diesem «Deal», zum Geschehen der Moderne? Erstaunlicherweise haben sie das humanistische Dogma klaglos übernommen und integriert. Sie haben sich schon lange «von einer kreativen zur bloss reaktiven Kraft» gewandelt. Der Mensch übernimmt, egal in welchem Glaubenssystem dieser Welt, unmerklich und unterschwellig die Rolle, «die Gott im Christentum und im Islam und die Naturgesetze im Buddhismus und im Taoismus spielten». Es ist oberstes Gebot geworden, auf sein Herz zu hören und Gläubige argumentieren bei Herausforderungen oder Anfeindungen mit der Verletzung von Gefühlen, nicht mit Jahwes/Gottes/Allahs/ Verboten. Regeln werden verändert und auf die heiligen Schriften (Beispiel Legitimation von Schwulenehe durch die Kirche) zurückgeführt, während gewisse Vorstellungen in Wirklichkeit von modernen Denkern wie Foucault herrühren. Visionäre des Jahrhunderts wie Marx, Engels und Lenin, (und viele mehr, Anmerkung SMW) waren allesamt darauf bedacht, die technologischen und wirtschaftlichen Realitäten ihrer Zeit zu begreifen. Die Sozialisten «etablierten die erste Techno ? Religion», indem sie «Heil durch Technologie» versprachen, während gerade religiöse Eiferer wie radikale Islamisten, messianische Juden, Anhänger hinduistischer Erweckungsbewegungen zu den neuartigen Gefahren und Chancen der Technologie schon gar nichts Relevantes zu sagen haben und «bei aller Inbrunst, keine Bedrohung für das liberale Paket» darstellen. Der radikale Islam, «Anker der Gewissheit in einer Welt technologischer Stürme, aber ohne Karte und Ruder» sei, schlimmer gescheitert als der Sozialismus und sei «noch nicht einmal mit der industriellen Revolution zurande gekommen». Einverstanden, Herr Harari, aber eigentlich wäre Qur?an und Sunna genau das: Karte und Ruder. Eher mangelt es wohl an verständigen Kapitänen und allem voran an gutem Mannschaftsgeist und flüggen Schiffen. Auch, dass «Priester, Rabbiner und Muftis die jüngsten Errungenschaften in der Biologie und Computerwissenschaft schlicht nicht begreifen» ist eine unzulässige Verallgemeinerung. Auch sie sind eben keine «Propheten», die ermächtigt sind, «wegweisende Entscheidungen» zu treffen und auch wenn einige sehr wohl «in die nötige Richtung weisen» bleibt ihr Rufen in der breiten Öffentlichkeit meist ohne erkennbare Folgen. Gehört wird es doch. Dass aber der quasi ? religiöse Charakter dieser Entwicklungen im Allgemeinen verkannt und als solcher unterschätzt, selten nur thematisiert wird, ist in der Tat problematisch, denn, Sie sagen es: «Religionen, die den Bezug zu den technologischen Realitäten der Gegenwart verlieren, verlieren ihre Fähigkeit, die Fragen, die gestellt werden, überhaupt zu verstehen»!
Übrigens - woran eigentlich glauben die Chinesen, dieser ökonomische Riese mit «sehr kleinem ideologischen Schatten»? Niemand, nicht einmal die Chinesen selbst, wissen heute, woran sie glauben. Genau dieses ideologische Vakuum, stellt Harari fest, macht China zur vielversprechendsten Brutstätte für die neuen Techno ? Religionen aus dem Silicon - Valley.
Heute ist Silicon Valley der aktuell aus religiöser Sicht interessanteste Ort. Dort bauen Hightech ? Gurus «schöne neue Religionen für uns zusammen die wenig mit Gott und alles mit Technologie zu tun haben». Ihre Heilsvorstellungen entsprechen zwar den Vorstellungen der traditionellen Religionen fürs Jenseits, sollen sich aber auf Erden manifestieren, und zwar schon bald. Ja, noch weiter zurück gehen die Parallelen der «Techno ? Religionen» mit alten Glaubensvorstellungen. Eine Gegenüberstellung zwischen den Infrastrukturen zeigt: Grosskonzernen wie Google und Microsoft sind durchaus dem antiken Uruk zu vergleichen, in dem grosse Menschengruppen Angestellte von Göttern wie Anki oder Inana waren, deren «Logos» die «Skyline» von Urum, Gebäude, Produkte und Kleidungsstücke zierten. Götter sterben nicht und haben auch keine Erben, können daher ungestört Besitz und Macht anhäufen. Der ägyptische Pharao war Mensch und «Gott» zugleich?
Wieder einmal steht der Heilige Monat Ramadan vor der Tür. Welch eine Gnade, die wir als Muslime durch die Verbindung zwischen umfassender, gemeinschaftlicher Rechtleitung und einem einzigartigen, auch individuellen, spirituellen Weg haben. Mögen wir in diesem Fastenmonat Kraft, Einsicht und Vertrauen (Tawwakkul) gewinnen, um den Herausforderungen der Zeit, in der wir leben, unerschrocken zu begegnen.
Lesen Sie Harari? Oder winken sie ab? Ist er Ihnen zu banal, zu vereinfachend oder vielleicht zu schulmeisterhaft? Ertragen Sie seinen Atheismus, seinen nihilistischen Ansatz nicht? Es gibt Gründe, Hararis Bücher schnell beiseite zu legen. Aber es gibt mehr als genug Gründe, sie dennoch, und über manches Langatmige, Banale und Reduktionistische, auch Zynische und Provokante hinweg zu lesen.
Harari erzählt uns den Werdegang der 70 000 Jahre «Homo Sapiens» aus einer, seiner, Perspektive heraus, die man mitnichten in allen Nyancen teilen muss, um daraus inspiriert zu werden. Als Historiker erzählt er exakt, witzig und detailreich, oft mit ironischem bis sarkastischem Unterton. Er lässt den Leser an einer Art der Reflexion und Interpretation teilhaben, die nicht die Schubladenkiste gängiger Interpretationsmuster bemüht, sondern die möglichst unvoreingenommen wahrnehmen will, was ist. Harari meditiert regelmässig. Der so in der Tiefe gewonnene «Röntgenblick» auf die Dinge als Phänomene ist das Besondere seiner Schau. So entwickelt Harari auch manch eigenwillige Bezeichnung und Etikettierung, zum Beispiel, wenn er Ideologien partout und unterschiedslos mit Religionen gleichsetzt. Manches ist gewöhnungsbedürftig. Auf jeden Fall aber lohnt es sich, seine andere Betrachtungsweise für die Strecke seiner Bücher zu teilen ? man wird Kapitel für Kapitel durch überraschende und inspirierende Einblicke belohnt, auch, oder gerade wenn einem, trotz einer gewissen Selbsttranszendenz des Autors der transzendente Aspekt im weiteren Rahmen streckenweise schmerzhaft fehlen mag. Harari erstaunt, verblüfft immer wieder aufs Neue mit seiner aussergewöhnlichen aber stringenten Erzählung der Geschichte der Menschheit. Er deckt Parallelen und Querverbindungen in allen Glaubenssystemen («Mythen») auf, und führt die Fäden der Geschichte nachvollziehbar in die Gegenwart. Dabei nimmt er praktisch alle Gedankengebäude, Macht ? Sinn - und Bedeutungszuschreibungen sowie deren Manifestationen in der gelebten Realität aufs Korn und setzt diese Gebilde durchweg, zuweilen etwas brüsk und zynisch, in den Stand der Fiktionen. Stellt demzufolge auch die moderne, zunehmend auf Kognition (Intelligenz)und Biologie (Biotechnologie) reduzierte, sowie durch Geld (Kapital), Schrift (Bürokratie) und «erfundene Ordnungen» untermauerte und angefeuerte Wissenschaft und deren Ausrichtung fundamental in Frage. Er lässt einen meist darüber im Unklaren, inwieweit er selbst gewisse Perspektiven, wie z. B. die des Menschen als seelenlosem Organismus oder der spirituellen Sinnlosigkeit sämtlicher «Mythen» teilt, inwieweit er selbst materialistisch oder nihilistisch denkt und empfindet ? legt sich diesbezüglich nicht fest. Auf jeden Fall aber reklamiert Harari die Separation der Intelligenz vom Bewusstsein und eröffnet so einen Raum im Hintergrund, der als von der Wissenschaft unerforschtes, unberührtes, möglicherweise auch unberührbares Territorium gelten kann und der einen zunehmend spürbar durch seine Bücher begleitet. Dafür ist man umso dankbarer, als der dermassen sinnentkleidet gezeichnete Mensch nach einer Ergänzung, einer Relativierung oder zumindest Erklärung für seine Grobheit und Rücksichtslosigkeit, seinen Machthunger lechzt.
Die gefühlte Stärke des Autors der «kleinen Geschichte» liegt denn auch in der «Tabula Rasa», die er dem Leser bezüglich sämtlicher Gedankengebäude zumutet. In der Ausleuchtung und Entmystifizierung von zunehmend sinn ? und bedeutungsentfremdeten «Mythen». Er unternimmt es auch, die Relevanz der Glaubenssysteme der Moderne mit deren eigenen Glaubensgrundsätzen zu widerlegen; Zwar deren Potential, aber auch ihre Absurdität und Gefährlichkeit aufzuzeigen. Wir müssen hier, auch als möglicherweise theistisch Gläubige, Hararis Blasphemie in Kauf nehmen, um mit ihm am Grunde anzukommen, am Grunde eines hochaktuellen, von Gott «befreiten» menschlichen Denkens und Handelns, Kooperierens und Vorangehens. Und um mit ihm über diesen Weg mit allen tatsächlichen und möglichen Konsequenzen nachzudenken.
In der «kurzen Geschichte der Menschheit» behandelt Yuval Noah Harari vor allem die Entwicklung des Menschen von der kognitiven - vor ca 70´000 Jahren - über die landwirtschaftliche ? vor ungefähr 10´000 - bis zur wissenschaftlichen Revolution, die etwa vor 500 Jahren begann. Des «Homo Sapiens» der sich die Erde «brandrodend und geschichtenerzählend» untertan macht. Der Flora und Fauna ummodelt, «Nahrungsketten zerreisst und neu ordnet», der biologischen Fülle ein Ende bereitet, Arten ausrottet. Ein «Landraubtier», «ökologischer Massenmörder» ist dieser Sapiens. Die «grösste und zerstörerischste Kraft, die das Tierreich je hervorgebracht hat», sein Fussabdruck lässt sich nie mehr auslöschen, wohin er auch kommt. Seine Artgenossen drangsalisiert er und metzelt sie grausam und blutrünstig in möglicherweise «atemberaubenden Tragödien» nieder und verbreitet sich in «rasantem Feldzug» über die Kontinente. Wenngleich «kein anderes Tier jemals etwas Vergleichbares geschafft hat», befindet und titelt Harari explizit: «schuldig in allen Punkten der Anklage». Nun ja. Lassen wir das mal so stehen. Sapiens strebt mit «beispiellosen Erfindungsreichtum und unübertroffene Anpassungsfähigkeit» unbeirrbar die Weltherrschaft an. Dabei unentbehrlich sind ihm vor allem drei Werkzeuge: Die der Schrift, die des Geldes und die der «erfundenen Ordnungen». Diese nämlich sind es, welche die Verständigung und Organisation von Menschengruppen über maximal 150 Mitglieder und somit die Entstehung von Hochkulturen erst ermöglichen. Und die, ganz wichtig, aus der Entwicklung und Aufrechterhaltung von «Mythen» leben und atmen.
Die Verbreitung dieser «Mythen» oder «Fiktionen» wäre nicht möglich ohne einige Pfeiler. Einer davon ist die Schrift. Diese schloss eine «Lücke in unserem biologischen Erbe», insofern, als sie, in Kombination mit «erfundenen Ordnungen» menschliches Zusammenleben trotz «mangelndem biologischen Instinkt» in grossen Gruppen möglich macht. Sie unterscheidet sich jedoch insofern vom gesprochenen Wort, als sie Sprache nicht in ihrem gesamten Spektrum widergibt, sondern sie zugunsten des Bürokratischen und zulasten des Poetischen umgestaltet, wurde sie doch schon bei den Sumerern und anderen antiken Völkern vorwiegend zur Aufzeichnung von Daten und Zahlen benutzt. Anders als vollständige Schriftformen, wie z. B. die lateinische, oder die altägyptische, die auch Poesie, Gedichte, Geschichts- und Gesetzesbücher sowie Kochbücher hervorbrachte, genügte vielen urtümlichen Völkern diese partielle Schriftform, mit der sie vorwiegend Berechnungen anstellten, mathematische Daten verarbeiteten. Nebst der Aufzeichnung von Heiligen Schriften blieb diese Verarbeitung von Daten eine der wirkmächtigsten Aufgaben der Schrift. Mit dem überproportionalen Anwachsen der Bürokratie wuchs die Entfremdung von der natürlichen menschlichen Sprache und Denkweise, was reziprok auf den Menschen zurückwirkt. Heute, im wissenschaftlichen Zeitalter hat diese Entwicklung eine exponentiell wachsende Schieflage erreicht: Ganze Wissensgebiete haben sich «nahezu vollständig von der gesprochenen Sprache gelöst und finden fast ausschliesslich in mathematischer Schrift statt». So kommt es denn auch, dass sich die verbürokratisierte, institutionalisierte Schrift, welche uns zurzeit überschwemmt, von ihrer Rolle als «Dienstmagd des menschlichen Bewusstseins zunehmend zu dessen Herrin aufschwingt» die dabei ist, sich vollkommen zu verselbständigen und das «menschliche Joch» dabei gänzlich abzustreifen.
Ihren Höhenflug hätte sie aber nicht ohne ihren Partner, das Geld erreicht. Was ist Geld? «Geld ist ein launischer Freund» bemerkt Harari. Es befeuert den Aufstieg und den Untergang von Imperien. Geld ist das universelle Tauschmittel, mit dem wir «buchstäblich alles gegen alles eintauschen können», nicht bloss materielle Dinge sondern auch Dienstleistungen, sowie «spirituelle Werte». Gewalt kann zum Beispiel in Wissen eingetauscht werden, wenn ein Soldat sein Studium im Krieg finanziert oder Gesundheit gegen Gerechtigkeit, wenn die Ärztin ihre Anwältin mit dem Lohn ihrer Arbeit bezahlt. Geld ist «das einzige vom Menschen geschaffene System, das fast jede kulturelle Barriere überwindet und nicht nach Religion, Geschlecht, Rasse, Alter oder sexueller Orientierung frägt». Nebst dem Prinzip der universellen Tauschbarkeit beruht Geld somit auch auf dem, universellen Vertrauens. Geld hat immer versucht, Barrieren zu überwinden und ist nun dabei «die Dämme der Gemeinschaften, Religionen und Staaten zu unterspülen». Seine «dunkle Seite» ist daher, dass damit auch der Glaube an unbezahlbare Werte unterminiert wird, an Werte wie Ehre, Loyalität, Moral und Liebe, welche menschliche Gemeinschaften zusammenhalten. Geld vermittelt Vertrauen zwischen Unbekannten. Das Vertrauen in das unpersönliche System des Geldes triumphiert mit der Zeit über das Vertrauen innerhalb von Menschengemeinschaften, deren Werte werden verhandelbar wie Waren und die Welt «läuft Gefahr, sich in einen riesigen, kalten Markt zu verwandeln». Geld, so befindet Harari, sei «keine materielle, sondern eine «hochgradig spirituelle Angelegenheit», da es «Materie in etwas rein Geistiges verwandelt». Da Harari grundsätzlich keine Dimension ausserhalb von Raum und Zeit anerkennt oder berücksichtigt, unterscheidet er hier nicht zwischen «spirituell» und «alchemistisch», was in diesem Zusammenhang wohl passender wäre. Er übergeht die Tatsache, dass, egal wie potent dieses Geld als Verwandlungskünstler ist, es dennoch im Kreislauf der Umwandlung von Materie und Energie gefangen bleibt. In der, bis zur industriellen Revolution einzigen, «magischen Verwandlung» nämlich, die auch der menschliche Körper oder die Sonne vornimmt, wie Harari weiter unten feststellt. Und dass es also nichts anderes tut, als diesen Prozess zu befeuern und «auf Teufel komm´ raus» x - beliebig umzugestalten.
Harari vertritt den existentialistisch anmutenden Standpunkt, dass menschliche Transzendenz und Gottesbilder darauf aufbauen, wie Mensch lebt. Jäger und Sammler waren Animisten, da sie freien, autonomen und direkten Umgang mit allen (Geist-) Wesenheiten aus ihrer ebensolchen Lebensweise ableiteten. Die landwirtschaftliche Revolution bedingte Hierarchien, welche nun der Mensch ins Unsichtbare hinein quasi «weiterdachte» und sich so dem Monotheismus verschrieb. Trotz dieser Hypothese gibt er zu: «wir wissen nicht und werden wohl nie herausfinden, was die Jäger und Sammler glaubten». Der Fund von Göbekli Tepe, zum Beispiel wirft die Frage nach dem Zweck dieser Bauten auf, die vor ungefähr 11 500 Jahren errichtet wurden. Es ist durchaus möglich, dass in diesem Fall «erst der Tempel kam und dann das Dorf» - was klar auf theistische Überzeugungen schliessen liesse. Ungeachtet dessen aber, wieweit religiöse Ordnungen den Gemeinschaften zugrunde lagen, die «DNA als Währung der Evolution» musste sich durchsetzen und so setzte sich, trotz sinkendem Lebensstandard und anderen Opfern, die feste Siedlung mit der Zeit als Lebensmodell durch. Und mit ihr nun wuchsen die «erfundenen Hierarchien», der «Kitt», der die Massenkooperation von grossen Menschengruppen ermöglichte.
Ein interessanter Gedanke ist, dass sich für den sesshaften Bauern «die Zeit ausdehnte, während der Raum zusammenschrumpfte», dass Sesshaftigkeit also auch zur «Entdeckung der Zukunft» führte, wohl mit ein zentraler Baustein der «Mythen» und der «Geschichten über grosse Götter, Vaterländer und Aktiengesellschaften». Interessant auch deshalb, weil dieser Prozess noch andauert, worauf wir später zurückkommen werden. Ein aufschlussreiches Beispiel für einen derartigen Mythos und seine erstaunliche Natur bringt Harari gleich zu Beginn des Buches anhand des Beispiels der Firma Peugeot. Wer macht sich schon beim Autokauf Gedanken darüber, was an Mythen in so einer Firma stecken könnte? Als «eine der originellsten Erfindungen der Menschheit» bezeichnet Harari nämlich die GmbH. Wiewohl «juristische Person» sei diese nämlich dennoch juristisch nicht haftbar. Als «Körperschaft ohne Körper» und unabhängig von den Menschen aus Fleisch und Blut, die sie gegründet haben, besitzt sie, neben den Aktiengesellschaften, einen immensen Anteil an der politischen Macht. Und das, trotz «beschränkter Haftung» und obwohl sie als reine Fiktion nur «existiert», weil wir an sie glauben.
Fiktionen, erfundene Wirklichkeiten und soziale Konstrukte, so Harari, sind keine Lügen, wenn alle dran glauben. Er nennt sie «intersubjektive Wirklichkeiten» - «erfundene Wirklichkeiten» also, die allein in der kollektiven menschlichen Vorstellung existente Realitäten beschreiben. Solche liegen sowohl Körperschaften wie Nationen, Aktiengesellschaften und GmbHs zugrunde, wie auch den darunterliegenden Konzepten von Gott bez. Göttern, Religionen oder Ideologien und kulturellen Gebräuchen sowie Gesetzgebungen. Sie bilden, nebst Geld (Kapital) und Schrift (Bürokratie), in Form der Interessengemeinschaft von Markt und Staat die Grundlage zur Errichtung von Imperien. Im vorletzten Jahrhundert waren es niederländische, französische und britische Aktiengesellschaften mit ihren Söldnerarmeen, wie die der British East India Company, die auf dieser Grundlage erfolgreich die Kolonialisierung vorantrieben - die Globalisierung wäre ohne sie nicht denkbar. Heute haben «die Märkte für Telefonmarketing diejenigen für Kriege abgelöst», die Strategie ist aber dieselbe geblieben. Diese «Fiktionen» haben im Verbund mit dem Kapitalismus und der wissenschaftlichen Revolution, die sich im 16.Jh anbahnte, die heutige Welt mit ihren Machtgefällen geprägt und Verhältnisse geschaffen, in denen «Wissenschaft, Industrie und Kriegstechnologie in einer untrennbaren Beziehung» verbunden sind. Diese neue Koalition trägt im Vergleich zur landwirtschaftlichen Revolution um einiges härtere Züge und die schon zuvor geebneten Pfade werden nun, angetrieben durch die Idee von Fortschritt und Wachstum in immer engere, dichtere Bahnen gelenkt. Der Gedanke des Fortschritts untermauert im Geiste, was Kapital und Wissenschaft empirisch vorantreiben. Harari nennt den Machterwerb den «Prüfstein für Wissen» und stellt fest: «Die Rückkopplung zwischen Wissenschaft, Imperium und Kapital war vermutlich in den vergangenen fünf Jahrhunderten der Motor der Geschichte.» Und: «Die wissenschaftliche Revolution war keine Revolution des Wissens, sondern vor allem eine Revolution der Unwissenheit. Die grosse Entdeckung, die mit ihr losgetreten wurde, war die Erkenntnis, dass wir Menschen ? auf die wichtigsten Fragen keine Antworten wissen.» Nun, und in dieser Ignoranz betreten wir, etwa Mitte des 18. Jahrhunderts, die Ära der industriellen Revolution.
Worum geht es bei der industriellen Revolution? In ihrem Zentrum steht vor allem das: Energieumwandlung. Organischer Stoffwechsel in der Natur war lange der einzige Bereich, in dem Wärmeenergie und Bewegungsenergie kombiniert vorkamen. Die Sonne als Energiespenderin hielt diesen Energiefluss in Gang. Die industrielle Revolution machte es möglich, eine Energieform künstlich in eine andere zu übersetzen. Zum ersten Mal wurde so mit der Erfindung des Schiesspulvers im 9. JH in China Wärme in Bewegungsenergie umgesetzt und es sollte noch lange dauern, bis Maschinen erfunden wurden, die sich ohne Muskelkraft bewegten. Spätestens ab der Erfindung der Dampflokomotive aber war Mensch «besessen von dem Gedanken, dass sich mit? Maschinen eine Form der Energie in eine andere übersetzen liess». Es kommt nur darauf an, die richtige Maschine zu finden, dann kann man jede Energieform in jede beliebige Tätigkeit verwandeln. Der Verbrennungsmotor verwandelte «Erdöl in flüssige politische Macht» und die Elektrizität stieg zum «allgegenwärtigen Flaschengeist» auf.
Hat die Geschichte ein Ziel? Ja, sagt Harari, Kulturen befinden sich in ständigem Fluss, und haben die Tendenz, sich in Richtung Einheit zu entwickeln, «zu immer grösseren und komplexeren Kulturen zu verschmelzen». Der Preis für diese «Megakulturen», man ahnt es, ist der Verlust des Eigenen und der Diversität. So leben wir heute in einer Welt, in der die alten Kulturen sich «bis zur Unkenntlichkeit verändert» haben, nicht nur durch Vereinheitlichung von Sprache, Essgewohnheiten, Kleidung und sozialen Parametern, sondern auch durch Gleichschaltung in Politik, Wirtschaft und Rechtssystem. In einer Welt, in der die «Uhr und das Fliessband zur Schablone für menschliche Tätigkeiten» wurden und in der uns der Zeitgeist permanent in die Zukunft verweist, «angetrieben von dem nagenden Gefühl, dass hinter dem Horizont vielleicht etwas Wichtiges warten könnte», in der «Konsumismus zur neuen Ethik» avanciert ist, macht diese Umwandlung vor menschlichen Gemeinschaften natürlich nicht Halt: An die Stelle von Familie und Gemeinschaft rückt zunehmend Staat und Markt. Es sind «erfundene Gemeinschaften», wie Nationen oder Verbrauchergruppen, selbst im stetigen Wandel. Letztere, die Verbrauchergruppen lösen zunehmend die Nationen ab, der «Kulturalismus» ersetzt das «Fantasieprodukt Rassismus». Der liberale Humanismus, die tragende Ideologie des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts, befeuert diesen Prozess. Von diesem Wandel werden nicht nur traditionelle Gemeinschaften, sondern auch Glaubenssysteme, Religionen, überfahren und lahmgelegt - sie agieren nicht mehr, sondern reagieren nur noch. Eine nicht ganz von der Hand zu weisende Feststellung.
Woran also richtet der moderne Mensch seine ethischen Werte und Normen aus? Wie kommt er emotional mit der Verengung des Menschlichen hin zum Bürokratischen, Funktionellen, der Expansion des Technischen und den machtvollen, manipulierbaren Energiekreisläufen unseres Zeitalters zurecht? Worin findet dieser Mensch Sinn? Der Humanismus und mit ihm heute der liberale Rechtsstaat, die liberale Demokratie basieren, so Harari, auf der Überzeugung, dass «jedem Menschen eine heilige, unteilbare und unveräusserliche menschliche Natur innewohnt, die der Welt Sinn und Bedeutung verleiht und von der alle moralische und politische Macht ausgeht». Diese Vorstellung sei «keine andere als die christliche von der freien und unsterblichen Seele in anderem Gewand». Heiligkeit also, abgekoppelt von einem tieferliegenden, höherstehenden, sinn ? und massgebenden Urquell ? aus sich selbst heraus? Man mag zu diesem Gedanken stehen wie man will, Tatsache ist, dass der humanistische Gedanke den Menschen als letzte Entscheidungsinstanz betrachtet, ihm ultimative Verantwortung zumutet. Der Mensch steht plötzlich alleine in der Welt. Er empfindet sich als «frei», ist aber handkehrum bepackt mit einer neuen, grösseren Verantwortung denn zuvor ? nämlich der vollen Eigenverantwortung für seinen Lebenssinn, für sein emotionales Gleichgewicht, sein Glück.
In der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, einem geschichtsträchtigen und ? prägenden Dokument, ist u.a. vom «Recht auf Freiheit, Leben und Glück» die Rede. Harari nimmt dieses «Recht» aufs Korn und veräppelt den Artikel insgesamt. Nicht nur ist Glück vom Verhältnis zwischen Umständen und Erwartungen abhängig, es stellt sich zuweilen auch ziemlich unabhängig von den Umständen ein ? oder eben nicht. Weder die Französische Revolution hat uns glücklicher gemacht, noch politische Freiheiten oder Wohlstand, Frauen sind auch nicht unbedingt glücklicher, wenn sie arbeiten, stellt Harai nüchtern fest. Eher schon könne man das «Glück» der Unabhängigkeitserklärung wohl als «Lust» bezeichnen, meint er und schlägt daher ironisch u. a. diese entsprechende Umbenennung vor. Die «vorherrschende Religion unserer Tage», der liberale Humanismus, stellt zwar die «subjektiven Empfindungen des Menschen über alles andere», «stanzt» aber gleichzeitig unsere Bedürfnisse «vor». «Als Angehörige der westlichen Kultur werden unsere grössten Herzenswünsche heute durch romantische, nationalistische, kapitalistische und humanistische Mythen geprägt, die bereits seit Jahrhunderten fest verankert sind». Der «romantische Konsumismus» des Marktes mischt sich in unsere intimste Lebensgestaltung ein und trägt insgesamt, erwiesenermassen, mehr zum Unglück als zum Glück bei. Denn hier beisst sich die Katze definitiv in den Schwanz: Glück als Lust verstanden verunmöglicht den Weg zum wahren Glück, da dieses ja eben bedeutet, keinen subjektiven Empfindungen nachzujagen. Es ist genau genommen ein umfassendes Erleben von Sinn, das glücklich macht.
Das humanistische Verständnis einer sinn- und bedeutungsstiftenden «unveräusserlichen menschlichen Natur» führt sich, soweit man das aktuell beurteilen kann, jedenfalls zunehmend selbst ad Absurdum. Umso mehr deshalb, als ihr aus sich selbst heraus gar der Todesstoss droht: die Biowissenschaften nämlich finden «im Innersten des Menschen keine Seele und keinen freien Willen», sondern «nur Hormone, Gene und Synapsen, die das Verhalten des Menschen steuern». Und diese Biowissenschaften im Verbund mit der (Computer-) Technologie befinden sich auf siegessicherem Eroberungszug zur Beherrschung des 21. Jahrhunderts, in dem wir Krankheit und Tod, sowie «politische, ethische und spirituelle Zwickmühlen zunehmend als technische Fragen» behandeln. Ist die Sinnfrage selbst also auch technisch zu lösen? Wohl kaum?
Gerade das Gefühlsleben jedoch erweist sich als besonders empfänglich für die Neuerungen des technologischen Fortschritts. Nebst den Ängsten um die Zukunft und um unsere Gesundheit ist es tatsächlich auch das arme, fehlgeleitete Glücksempfinden, das sich als Anker für biochemische Interventionen anbietet. Glück ist ja, wissenschaftlich gesehen, wie alle anderen Gefühle auch, nichts als körperliche Empfindung. Und diese lässt sich, immer besser, manipulieren. Obwohl die Vorstellung des synthetischen Glücks immer noch abstösst und verstört, sind schwierige Gefühlslagen schon jetzt oft nur mit Psychopharmaka zu bewältigen. Dieser Betrug an unserem Glücksempfinden, der in seiner chemischen Manipulation kulminiert, ist dann wiederum auch nur sozusagen (ein) Türöffner für den nächsten Schritt, nämlich der «Optimierung menschlicher Eigenschaften» auf chemischer Basis. Diese ist medizinisches Projekt, weiss Harari: «Wir setzen heute «nicht mehr auf natürliche Auslese, sondern auf intelligentes Design», sprich Bio- und Cyborgtechnik sowie Entwicklung von nicht ? organischem Leben. Das fluoreszierende Kaninchen ist dabei eine Kuriosität am Rande. Was die Gentechnik zu entwickeln vermag, wie der Mensch beginnt «Gott zu spielen» beunruhigt und schockiert nicht nur Monotheisten. Gentechnik und Biochemie sind mit der «Neuerschaffung des Herrn der Schöpfung» befasst. Schon in naher Zukunft könnten Wissenschaftler an unserem Körperbau, unserem Immunsystem, an unseren geistigen und emotionalen Fähigkeiten «schrauben». Der Cyborg, ein Wesen, aus organischen und nicht ? organischen Teilen, die «untrennbar in unseren Körper eingebaut werden» und die «unsere Fähigkeiten, Wünsche. Persönlichkeit und Identität verändern» ist keine blosse Science ? Fiction mehr.
Auch am «wichtigste Projekt der wissenschaftlichen Revolution», dem ewigen Leben, wird intensiv geforscht. Calico, eine Tochtergesellschaft von Google hat sich dies zur Aufgabe gemacht und auf ihre Fahne bezw. Website geschrieben. So könnte es sein, dass die «Tage des Homo Sapiens» gezählt sind. Dass er «von einem gänzlich anderen Wesen abgelöst wird, das nicht nur einen anderen Körper mitbringt, sondern in einer anderen kognitiven und emotionalen Welt lebt.» Befreit von den «Fesseln der Biologie» entwickeln wir «mit rasanter Geschwindigkeit Fähigkeiten, mit denen wir nicht nur unsere Umwelt, sondern auch unsere Innenwelt verändern können». In Wirklichkeit «haben unsere neuen Technologien das Potential, nicht nur unsere Fortbewegungsmittel und Waffen zu verändern, sondern den Homo sapiens selbst mit all seinen Ängsten, Hoffnungen und Wünschen». In einer Gesellschaft, in der der Staat und der Markt sich an die Stelle von «Vater und Mutter des Individuums» schieben und in der die Schere der nützlichen und weniger nützlichen Mitglieder immer mehr auseinanderklafft, könnten wir uns bald allesamt als Cyborgs wiederfinden, mit einer «Elite von Übermenschen». Der Mensch könnte letztendlich, im Streben nach jener Megakultur zur «Singularität» gelangen: dem Moment, an dem «alles, was unserer Welt heute Sinn verleiht?. keinerlei Bedeutung mehr hat. Alles, was danach passiert, wäre aus unserer Sicht völlig unverständlich»
Yuval Noah Harari hält der Welt den Spiegel vor. Und es ist gut, dass er dies genau so tut, wie er es tut ? nüchtern und wissenschaftlich; abwägend, ohne ihr eine weitere Ideologie überstülpen zu wollen, ohne auch Lösungen anzubieten. Er stellt seine Sicht zur Diskussion und lädt dazu ein, hinzusehen.
Zum Schluss noch eine ziemlich abgegriffene, aber doch möglicherweise bedeutungsvolle Frage am Rande: Warum hat sich das Patriarchat in fast allen Gesellschaften und Kontinenten durchgesetzt, warum werden «männliche Eigenschaften universell höher geschätzt als weibliche»? Harari fragt, ob es daran liegen könne, dass sich entgegen der gängigen Annahme «die männlichen Angehörigen der Homo sapiens nicht durch überlegene Körperkraft?. sondern durch überlegene Sozialkompetenz und grössere Kooperationsbereitschaft auszeichnen». Hier möchte die Schreiberin fragen: liegt die ? von Feministinnen angeprangerte ? Überrepräsentation des Männlichen nicht eher darin begründet, dass Männer eine stärkere Affinität zum Abstrakten, zu den «Mythen» haben, sowie die Motivation, diese in besagten grossen Menschengruppen voranzutreiben? Es lässt sich nicht leugnen, dass Frauen zumindest auch, andere, erdnähere Prioritäten setzen und ihre Fähigkeiten lieber in unmittelbarem Kreis zur Geltung bringen. Wie sähen also sozusagen ideologieunabhängige, ressentimentbefreite, von keinem bloss reaktiven Feminismus geprägte, sondern authentische und lösungsorientierte weibliche Antworten auf die Probleme der Gegenwart aus? Was können wir Frauen dazu beitragen, die immer schwerer lastende menschliche Bürde zu erleichtern, die immer aufdringlicheren und unheimlicheren Technologien zu entmachten, den Weg zum Sinn, zum Glück wieder neu zu beschreiten?
Und die Antworten unserer muslimischen GelehrtInnen? Sie mögen nicht laut sein, diese Rufer in der Wüste, aber wer sucht und die Ohren spitzt, der kann sie doch finden.
Ob der Mensch (bloss) ein Algorithmus sei, warum der liberale Humanismus die siegreiche Ideologie ist, und ob wir auf die «Religion des Dataismus» zusteuern, darüber mehr in «Homo Deus».
Um im Hier und Jetzt anzukommen, tut man gut daran, sich erst mal umzusehen, Vergangenheit und Zukunft etwas zu durchleuchten. Geschichte, Kultur und Philosophie der Vergangenheit eröffnet Welten und die lebendige Überlieferung verleiht der Sache zusätzlich Farbe. So sagte meine Grossmutter, Jahrgang 1904, immer wieder, das Aufkommen des Autos habe (für sie) ?alles verändert?. Mit Sicherheit gehörte jenes zu den einschneidenden Errungenschaften der menschlichen Einflussnahme auf den Lauf der Welt sowie auch auf die Steuerung der Naturgewalten. Seit der Erfindung des elektrischen Stroms bis ins Zeitalter der Digitalisierung vermitteln die Manifestationen der Technik zunehmend den Eindruck einer immer weniger überschaubaren und beherrschbaren Übermacht.
Alles, was hier in Bewegung versetzt wird, braucht Energie, und so verdeutlicht gerade das Energiemanagement, wie weit das gesunde Gleichgewicht aus dem Lot ist. Erdöl, Erdgas, und selbst die erneuerbaren Energiequellen, gehen in absehbarer Zeit zur Neige, es wird an Fusionskraftwerken geforscht, gegen die Atomkraftwerke nach Aussagen von Experten ?einfache Anlagen? sind. Ressourcenprobleme aller Art, bis hin zur Trinkwasserknappheit beschäftigen die Welt.
Eine kleine Recherche der aktuellen Zukunftsprognosen brachte überdies folgendes: In Biologie und Medizin bahnen sich umwälzende Neuerungen an: Ohne Bio ? und Gentechnologie wird die Lebensmittelindustrie nicht mehr auskommen. Tiere, Pflanzen und Insekten sollen gentechnisch verändert werden, neu entwickelte Formen von Pilzen, Viren usw. in Schach halten, was sich aus dem natürlichen Kontext und Gleichgewicht gelöst hat. Enzyme, Zellen und Organismen finden schon jetzt ihren Weg in Medikamente, Waschmittel und Kosmetika. An Fleisch aus Zellen wird geforscht, eine ?tierfreie Gesellschaft? wird anvisiert. In der Medizin sind u.a. Nanopartikel auf dem Vormarsch, hervorragende Katalysatoren und Leiter, die z. B. in unseren Blutbahnen nach Cholesterin ? und Krebszellen fahnden und diese eliminieren. Aus ausgelagerten Hirnnervenzellen (Stammzellen) werden ?Minibrains? gezüchtet, jedem Organ des Körpers kann man schon jetzt Zellen entnehmen, um daraus ?Organoide? zu züchten, die angereichert oder herabreduziert verschiedentlich kombiniert und manipuliert werden.
Im Bereich IT, KI (Künstliche Intelligenz) und Robotik tun sich überwältigende Perspektiven auf: Auf blosse 1% des technologischen Wissens, das uns im Jahr 2050 zugänglich sein wird, schätzen Forscher unser heutiges know-how. Gemäss dem Moor?schen Gesetz nämlich verläuft die technologische Entwicklung exponentiell und verdoppelt sich alle 16 - 24 Monate. Im Bereich der Robotik, der Quanten ? und der Nanotechnologie, werden so sprunghafte Entwicklungen vorausgesagt. Automatisierte Transportsysteme, Steuerung von Gegenständen allein durch Stimm ? oder Gesichtserkennung sollen zum Alltag gehören. Roboter, in Asien bereits mannigfach im Einsatz, werden sowohl im Haushalt, in Krankenhäusern und Heimen, in Supermärkten und in der Landwirtschaft eingesetzt, wie auch in der Industrie, im militärischen Bereich und in der Forschung. Sie sollen bis 2040 die Intelligenz von Menschen überflügeln, werden ein ihm ähnliches Bewusstsein und Gefühle entwickeln und in vielerlei Hinsicht als ein dem Menschen gleichwertiges oder gar überlegenes Gegenüber akzeptiert werden. Sie werden natürlich auch die Arbeitswelt massiv verändern, bereits jetzt sind sie in Asien im Vormarsch. Es wird in der Folge zu einem Stellenabbau grandiosen Ausmasses kommen, man spricht von 40 ? 60% aller Stellen (siehe futuromat.iab.de). Sicherlich werden Jobs in der Administration, aber auch in der technischen Sparte im grossen Stil entfallen, Chauffeure, Labortechniker, medizinisches Hilfspersonal oder auch Bäcker werden überflüssig. Einige Berufe hingegen, wie der des Softwareentwicklers, Ingenieurs oder Robotertechnikers werden grosse Nachfrage erfahren. Die Schere zwischen Arm und Reich klafft also ? parallel zum Mass an technologischem Know How - nochmals weiter auseinander und im digitalen Bereich könnten Giganten wie Google, Facebook und Amazon ihren Platz als alleinige Marktherrscher festigen. Diese Art Giganten werden durch den Quantencomputer gespeist und unterhalten, bereits seit 2012 in kommerzieller Herstellung, er arbeitet mit sogenannten Qubits, die sich gleichzeitig in mehreren Zuständen befinden können, mit ?evolutionären Programmen, die sich ständig selbst weiterentwickeln, verbessern und mit der Zeit gar selbst reproduzieren?. Was so ein Computer, der in nächster Zukunft bereits die Hirnkapazität der gesamten, vernetzten Menschheit übertreffen kann, bewirken könnte, beschreiben verschiedene Szenarien. Der Zukunftsforscher Ray Kurzweil hat dazu ein Buch mit dem Titel ?die Singularität naht? geschrieben.
Der Mensch, wie wir ihn heute kennen, wird laut Zukunftsforschern wie Ray Kurzweil oder Gerd Leonhard, praktisch inexistent sein und als ?Cyborg? seinem technisch entwickelten Gegenüber, dem Roboter immer ähnlicher werden. Implantierte Chips, «RFID-Transponder», so klein wie ein Reiskorn, sowie kleinste Nanocomputer, werden im grossen Stil in Gegenstände und Lebewesen integriert, die so automatisch identifiziert und lokalisiert werden können und in Echtzeit weltweit miteinander kommunizieren und interagieren können. «IT verschmilzt mit dem jeweiligen Objekt; die Hardware (Computer) verliert an Bedeutung». Die Wahrnehmung von Wirklichkeit dürfte sich massiv wandeln, da menschliche Gehirne über Schnittstellen mit Computern verbunden, Informationen downloaden, Maschinen steuern und mit Hilfe von Implantaten oder Neurotelepathie durch künstliche Welten ?angereichert? werden. Die im Gehirn gespeicherten Informationen und Wahrnehmungen lassen sich auch umgekehrt auf den Computer übertragen. Nicht nur das Wissen und das Gedächtnis könne durch einen derartigen ?Upload? geboostet werden, sondern auch die Persönlichkeit und Psyche zum Beispiel eines gestorbenen Menschen kann transferiert werden. Dann würde ein Individuum im Computer (oder in einem Roboter) weiterleben?. Viele Menschen würden dann lieber in virtuellen Welten als in der Wirklichkeit leben; virtuelle Kontakte würden immer mehr persönliche Beziehungen ersetzen, Roboter und Computersysteme den Platz von Menschen als Bezugspersonen und Sexualpartnern einnehmen. Spätestens 2050, so schätzt der Wissenschaftsautor David Levy, werden Ehen zwischen Menschen und Robotern eingegangen.
Wissenschaftler und andere wache Geister beschäftigt vor allem auch die Problematik der ethischen Handhabe dieser heraufziehenden, übermächtigen Gewalt. Computern und Robotern fehlt, naturgemäss könnte man vielleicht sagen, ein moralisch ? ethisches Empfinden. Der Mensch, virtuell ?angereichert?, ständig optimiert und ?upgedatet? könnte zwar, unter glücklichen Umständen einen Spielraum der Freiheit geniessen, weniger arbeiten müssen und seine Lebensspanne erheblich verlängern. Dennoch könnte es sein, dass seine eigene Entwicklung ihn völlig überfordert, ihm entgleitet. Als ?mit atomarer Energie vergleichbar? umschreibt der Zukunftsforscher Gerd Leonhard die Kräfte, die auf den Menschen dann einwirken. "Wenn Technologie so kraftvoll, so billig wird und so allpräsent, gross und mächtig ist, brauchen wir? Ethikwerte, Gesetze, Regeln die die menschlichen Beziehungen regelt. Sozialkontakte, Menschlichkeit und Sinnfindung bekommen ein neues Gewicht."
Dass das, was hier in technischem Gewand auf uns zukommt, mit einer sich stets wandelnden, systeminhärenten Ideologie einhergeht und auf dieses rückwirkt, versteht sich von selbst. Eine Art Ideologie ist hier treibende und formende Kraft, ja wirkmächtiger Religionsersatz, da sie sich anmasst, religiöse Inhalte samt zugehöriger Terminologie alleine im Weltlichen zu verstehen, auszubauen und auf dieses zu beschränken. Sie liefert eine scheinbar komplette Matrix für unsere Gedanken und Handlungen ? und zwingt, als Implikation quasi, die ursprünglichen Religionen ebenfalls auf die Basis der Ideologie. Ein ?säkulares Heilsversprechen, das eigentlich eine apokalyptische Ideologie ist?, nennt sie der Journalist Stefan Weidner, eine, die eine ?Entfremdungsintoleranz? mit sich bringt, die alles beseitigen möchte, das nicht den Vorstellungen und Wünschen entspricht. Aber: ?nur ein totalitäres System kann eine völlige Gleichschaltung von Bewusstsein und Realität herstellen?. Herbert Marcuse stellt bereits vor ca. einem Jahrhundert fest: ?Das Perfideste ist, dass es keine Entfremdungserfahrung mehr gibt. Der Mensch findet seine Seele im Auto, HiFi und Küchengerät wieder? Wenn er gewusst hätte, wie visionär sich diese Erkenntnis noch erweisen würde!
Der israelische Historiker und Autor Yuval Harari, beschreibt eine sich um die Zeit der Aufklärung angebahnte Verlagerung der Zuschreibung von Autorität. Weg vom Göttlichen hin zum menschlichen Gefühl als massgebende Autorität in der Vorstellung des Humanismus und aktuell die «Revolution des Dataismus», die den Daten ultimative Macht und Relevanz zuschreibt. Daten, rekrutiert aus menschlichen Gefühlen, Gedanken und Neigungen, die auch als «gefragtester Rohstoff» unserer Zeit gelten, als virtuelle Währung, die wir durch unser Verhalten produzieren und dem wir gleichzeitig Macht und Autorität über uns zugestehen. Harari glaubt, wir fahren damit fort, dies zu tun, «weil wir mehr Macht und Glück haben wollen. Und wir glauben, wir könnten dies erreichen, indem wir unseren Körper, unser Gehirn und sogar unseren Geist verändern»Trotzdem sei der Glaube an Gott nicht verschwunden, nur ?viel weniger wichtig als je zuvor in der Geschichte.» Die Menschen glauben an Ihn, ?weil ihre Gefühle ihnen sagen, dass sie das tun sollen. Sogar in der Religion sind Gefühle die Hauptquelle der Autorität». Von einer aktiven zu einer reaktiven Kraft hätten sich die Religionen gewandelt. «Im Mittelalter war die christliche Kirche die Instanz, die dem Silicon Valley am nächsten kam».
Kurzer Blick zurück, die Medien berichten: 200 Jahre Marx, 50 Jahre Studentenkrawalle. Die Rückblende in die 68er ist aufschlussreich. So vermittelte gerade eben der Historiker und Philosoph Philipp Felsch im Schweizer Fernsehen einen scharfsinnigen und aussagekräftigen Einblick ins Gedankengut Theodor Adornos, Max Horkheimers und Herbert Marcuses (Frankfurter Philosophenschule), die Marx aus der Zeit heraus, in der sie lebten, neu verstehen wollten. Dass die ?Überwindung der mythischen, den Naturgewalten ausgesetzten menschlichen Entwicklung» unverbrüchlich mit einer «enormen Gewalt sich selbst und den Anderen gegenüber» verbunden ist, beschrieb bereits Adorno. «Die Gefesseltheit (beispielhaft die des Odysseus, die er analog zur Erfahrung unserer Selbst in der Technik sieht), ist der Preis fürs Hören der Sirenen» Die «verwaltete Welt» sei «kryptofaschistisch», sie ?hat die Eigenschaft, maximalinvasiv zu sein, durchdringt jede Pore der Gesellschaft?. Die ?faschistoide Durchbürokratisierung? spiegelt sich nicht zuletzt in den Medien wider, die eine ?Mentalität erzeugen, für die Recht und Unrecht, wahr und falsch vorherbestimmt sind??. Die 68er- Aktivisten allerdings fühlten sich letztendlich dem Denken Marcuses zugeneigt, der, anders als Adorno, in vermehrter ?Triebbefreiung und Annäherung an die Natur? die Lösung suchte. Zu einem eher unvermittelten Aus ? oder Einbruch in die Gefühlswelt also einlud, einer überstürzten Befreiung aus dem ?Gefesseltsein?, die sich aber letztendlich selbst nur als inhärenter Faktor dieser unbeherrschbaren Kräfte erfahren konnte. Dass aus der Bewegung nichts Neues entsprang, sondern dass sie, ganz Kind ihrer Zeit, alleine zu einer Verstärkung der ökonomisch fundierten Liberalisierung der Gesellschaft beitrug, hat sich im Nachhinein erwiesen.
Auch die damit einhergehende Frauenbewegung, Teil der 68er ? Revolten, birgt Erhellendes. So war, ebenfalls in einer Doku des Schweizer Fernsehens letzthin eine Pionierin in der Schweizer Feministinnenbewegung, Andree Valentin, zu sehen die unter anderem resümierte: die «Pille» habe Frauen «unabhängig von unserer biologischen Konstitution» gemacht. Meines Erachtens kann dieser Feststellung gar nicht genug Beachtung geschenkt werden, benennt sie doch einen Meilenstein in der Entwicklung der Entfremdung von uns selbst, der Entfernung, des Wegdriftens des Menschen von seiner lebendigen Beschaffenheit im ursprünglichen, Kontext. Das Weibliche, Hort der Fruchtbarkeit und des werdenden neuen Lebens, gleichzeitig Mittlerin und Bindeglied zwischen Menschen und Lebensformen, vermag zu beheimaten, umsorgen und nähren, zu einen und versöhnen und während das Männliche zeugt, unterscheidend auseinanderhält, auch schützt. Die - biologische und damit einhergehende ideologische - Manipulation dieser Ureinheit, Grundlage jedes lebendigen Organismus, kann nicht folgenlos bleiben. Ein Blick ins Reich der Nutztiere ? Analogien in der Manifestation des Zeitgeists sind anzunehmen - spricht Bände über die dem ökonomischen Taktgeber entsprechende Handhabe dieser beiden Pole: Ausbeutung bis zur Erschöpfung und Bezwingung des Männlichen: Tötung und Vernichtung bis auf eine Auslese.
So überrascht es wenig, wenn der Versuch einer ersehnten ? und im Kontext der ?gefesselten?, ?durchbürokratisierten? Gesellschaft auch durchaus verständlichen - ? Befreiung? zwei Generation später ziemlich vernichtende Ergebnisse zeigt. Ihre Wahrnehmung der aktuellen Landschaft beschreibt zum Beispiel Tamara Funiciello, SP Schweiz als: ?mega gewalttätig? mega heftig ? Bilder ? die einem eingepflanzt werden ? das Gefühl, etwas machen zu müssen, ohne zu wissen, ob man das gerne möchte?. Dass gerade auch Männer Opfer dieses immensen Drucks sind, versteht sich von selbst, auch für Valentin, die mit ihren 74 Jahren gewiss über eine umfangreiche Lebenserfahrung verfügt.
Weder die MeToo ? Debatte noch irgendeine Debatte der Gegenwart kann im Grunde genommen ohne den Aspekt der Modifizierung der Natur, der Sprengung von Zusammengehörigem und ohne die Macht ? und Autoritätsfrage im Sinne des oben Umrissenen geführt werden. Auf das Geschwisterpaar Sexualität und Macht sollte ein besonderer Fokus gelegt werden. Der Philosoph und Soziologe Michel Foucault ging davon aus, dass eine Disziplinarmacht ihre Machtstruktur im gesamten gesellschaftspolitischen Körper verteilt, ?sie dringt in Körper ein, dressiert sie und richtet sie zu?. Gleichzeitig jedoch ist sie ein ?Geflecht? wovon jedes Individuum Teil ist. Macht sei immer involviert, wenn zwei Menschen interagieren, sie geht ?von jedem Einzelnen aus, immer und überall.? Die Sexualität begriff er als Angelpunkt zwischen der Disziplinierung der Körper und der Kontrolle der Bevölkerung. ?Die moderne Macht herrscht mit den Lüsten über das Leben?.
Byu Chul Han, deutsch ? koreanischer Philosoph sagte es kürzlich so: ?Die Disziplinarmacht weicht einer Smarten Macht mit freiheitlichem, ja, freundlichem Aussehen, die anregt oder verführt und nicht androht oder verordnet. Im Gegensatz zur Disziplinarmacht , die repressiv, unterdrückend und inhibitiv, verbietend ist, ist die Smarte Macht seduktiv, dh. verführend und permissiv, erlaubend. Sie ist bemüht, positive Emotionen hervorzurufen und auszubeuten. Sie verführt statt zu verbieten, statt sich uns entgegenzusetzen, kommt sie uns entgegen. Im religiösen Kontext tut sich hier eine sehr unangenehme Assoziation auf.
Wohl wissen wir, dass Gott, ALLAH die Macht an sich ist. La Hawla wa La Quwwata illa biLlah, sagen wir Muslime. Jedoch sind wir dabei, mit den Attributen, die Er uns geliehen hat, unter anderem der Macht, ein gefährliches Experiment der Auslagerung in nicht mehr kontrollierbare Bereiche zu betreiben. Die Tendenz dieser Kraft, sich als unvermittelter Einbruch des Irrationalen zu manifestieren, hat zum Beispiel Cristopher Clark im Buch Die Schlafwandler beeindruckend illustriert, eine Schilderung der Ära vor dem ersten Weltkrieg. Allen rationalen Erwägungen zum Trotz gaben sich die Machthaber damals einer Dynamik hin, die spürbar im Irrationalen lag. Und sie manifestiert sich ebenfalls in Form der Terror ? und Gewaltakte der Gegenwart. Je weiter die Entfremdung voranschreitet, je mehr sich der ?technologische Schleier? verdichtet, und vergessen wird, dass er der ?verlängerte Arm? des Menschen selbst ist, (Adorno) desto mächtiger wird er uns erscheinen und umso heftiger sich gegen uns wenden, und sein ?Wesen?, sein Gesicht offenbaren, das wir ihm selbst verliehen haben. ?Paradoxerweise?, so stellte schon Foucault fest, ?führen die Humanwissenschaften nicht zur Vergötterung des Menschen sondern zu seinem Verschwinden.? Auch dies eine mehrdeutige, visionäre Einsicht.
Die Beschäftigung mit dem Gedankengut der Moderne mag auch für uns Muslime ein essentieller Anstoss zur Aufarbeitung unserer Situation sein. Vor allem auch die muslimische Gelehrsamkeit wäre hier gefragt. Letztendlich aber sind wir alle Teil eines Geschehens, welches längst alle Bereiche unseres Alltags erfasst hat und dabei ist, immer tiefer in unser Eigenes, Privates, einzudringen und es zu verändern. Wir nehmen, besonders als bewusste und spirituell empfindende Menschen wahr, dass da eine Kraft auf uns einwirkt, die unseren Glauben touchiert. Eine Kraft, in deren Sog und unter deren Diktat wir uns ständig ?optimieren? sollen (und wollen), die ständig unsere Aufmerksamkeit beansprucht, die uns überwacht und der wir Macht, Wissen, Schutzfunktion und Versorgung zuschreiben. In deren Hände wir unsere Gesundheit, unser Vertrauen, unser Leben gar zu legen neigen. Es liegt also an jedem Einzelnen, sich hier selbst zu hinterfragen und Verantwortung zu übernehmen.
Der Heilige Qur?an ist ein Schatz an Rechtleitung. Hudan wa Rahmatan lil Alamin. Leitung und Barmherzigkeit für die Welten. Sowohl wissen wir daraus, dass RIBA, die Schöpfung und Vermehrung des Tauschmittels aus dem Nichts Allah verhasst ist und mit Wahnsinn in Verbindung gebracht wird. (2:275). Wir können daraus auch immer wieder entnehmen, dass das, was ALLAH, unser Schöpfer zu vereinen wünscht, nicht ungestraft getrennt wird, besonders auch, da die Praxis der Zauberei in diesem Zusammenhang erwähnt wird (Sure 2: 102-103). Und dass, was ER auseinanderzuhalten wünscht, nicht folgenlos durcheinandergebracht wird. Auch entnehmen wir, dass Allah, unser Schöpfer und Erhalter die Veränderung der Schöpfung verabscheut und sanktioniert. (z. B. 4:119)
Nicht nur schöpfen wir gegenwärtig unser Tauschmittel aus dem Nichts sondern parallel dazu neue Lebensformen, auf der Grundlage vorangegangener Teilung und Spaltung. In der Tat eine gewaltige Angelegenheit.
Die Themenbereiche der muslimischen Gemeinschaftsformen, des Zins und der Zakat wären für einen alternativen Weg bestimmt richtunggebend, Widerstände in und um uns zu erwarten.
Sicher ist auch: Im Zentrum jeder Entwicklung steht Austausch. Die Beschaffenheit unserer Transaktionen auf materieller wie spiritueller Ebene, die Projektionen, mit denen wir sie behaften, bestimmen unser Leben. Der Ramadan, der Monat des Heiligen Qur?an, birgt die Gelegenheit, diese Transaktionen zu reinigen. Hinwendung zu ALLAH, Der uns Leben, Rechtleitung, Versorgung und Gesundheit gibt, und auf dessen Vergebung wir hoffen und Zusammenkünfte von Menschen um Seinetwillen prägen diese Zeit. Keine Macht und Kraft ausser Ihm, Erhaben ist Er über jede Beigesellung. Ramadan Mubarak!
Ein allgegenwäritges Bild: eine Gruppe von Menschen, die mit ihren Smartphones beschäftigt schweigend im Kreise sitzen, im Zug im Restaurant, zu Hause. Es beschleicht einen dabei irgendwie ein Gefühl von "stehengebliebener Zeit". Oder der Gedanke ans Höhlengleichnis Platos in einer Variation von immer wieder "zurückgespiegelter" Schatten, die in sich gefangen bleiben, weit davon entfernt, als Schatten einer darüber hinausgehenden Wirklichkeit überhaupt identifiziert zu werden. "Der Rahmen, die Matrix auf deren Basis unsere Gedanken mithilfe dieser Medien strukturiert und mitgeformt werden, formt zweifelsohne auch unsere Psyche mit", meint die US - Soziologin Sherry Turkle. "Wir verlieren die Fähigkeit, allein zu sein und erst das Alleinsein ermöglicht uns, uns selbst zu finden... das wiederum ist die Voraussetzung dafür, überhaupt Bindungen eingehen und Einfühlungsvermögen bilden zu können. Wir führen keinen Dialog "von Angesicht zu Angesicht" sondern bleiben gemeinsam einsam".
Schon seit jeher stand der Mensch gewissermassen im Spannungsfeld zwischen Schein oder Sein, zwischen Vorstellung und Wirklichkeit, mit dem mehr oder weniger ausgeprägten Wunsch das Wirkliche zu "extrahieren", zum Kern des Daseins vorzudringen. Die Philosophie, Domäne des Geistes, geht diesen Weg übers Denken, der "Geschmack" der Wahrheit hingegen ist Beigabe des Handelns. Nur über die lebendige Interaktion schöpfen wir unseren Erfahrungs - und Wissensschatz, sammeln Bausteinchen auf dem Weg zur Weisheit.
Im Islam gibt es für Transaktionen aller Art Vorgaben: Eine gute, reine Absicht wird vorangestellt. Fairness, keine Übervorteilung, Transparenz und: einmal getan, ist die Sache "bei Allah". Das gilt für Geschenke, für Zuwendung, für soziale Verträge und Bindungen (Ehe - und andere Vertäge). Auch das Islamische Wirtschaften beruht auf ebendiesen Grundsätzen und verbietet deshalb den Zins (Riba), der hier jegliche zeitliche Verzögerung der Transaktion (Riba Nasia) mit einschliesst. Vergleichen wir diese klaren Richtlinien mit der Art von Austausch, der wir uns heute gegenübersehen, kann sich einem schon mal der Magen umdrehen. Im Bereich der wirtschaftlichen Transaktionen sehen wir uns einem Wust von (noch) uneingelösten Versprechungen, Zahlungsaufschüben, Spekulationen über den künftigen Wert von Gütern und Wetten darauf gegenüber - während die Inbetriebhaltung dieser Spiele durch immer neue, mittlerweile rein elektronische "Kredite" aus dem Nichts hervorgezaubert wird, und der ganze Hokuspokus wird dreist durch Verzinsung und Verzinseszinsung in schwindelnde Höhen gepusht. Abgesehen vom riesigen Ungleichgewicht, das hier global geschaffen wird, besteht eine weltumspannende, alles durchdringende Abhängigkeit der Einzelparzellen dieses Spiels untereinander sowie gesamthaft von deren Quelle, den Banken. Der Faktor Zeit ist allpräsent mitinvolviert, man könnte eigentlich sagen, er ist zunehmend für sich alleine DAS Zahlungsmittel an sich. Geht man davon aus, dass die Arten der menschlichen Interaktionen miteinander "verwandt" sind und aufeinander einwirken, muss man hier eine überaus krankmachende Qualität feststellen.
Der Literaturwissenschaftler Rüdiger Safranski hat vor Kurzem ein sehr bemerkenswertes Buch mit Betrachtungen über die ZEIT - unter eben diesem Namen - herausgegeben. Er beleuchtet darin Zeit aus der Tiefe und unter Bezugnahme auf grosse Denker. So kann man bereits in den ersten Seiten lesen: "die vergesellschaftete Zeit ist auch die bewirtschaftete Zeit. Es wird mit Zeit gehandelt. Zeit wird zu Geld. ...Es bilden sich in der Gesellschaft Regionen mit unterschiedlicher Geschwindigkeit....die Zeit wird politisiert...." Geld - so Safranski im Kapitel über die vergesellschaftete Zeit - "öffnet den Zeithorizont nach beiden Seiten - in die Vergangenheit und in die Zukunft. Mit dem ganz und gar gegenwärtigen Geld" (man beachte hier den Unterschied zu einem Zahlungsmittel wie Gold oder Silber, die der Zeit quasi "standhalten"!) "wird eine Vergangenheit mit einer Zukunft verrechnet. So ist der Geldverkehr immer auch eine Transaktion mit der Zeit. Und im Kapitel "Zeit der Sorge": Zeit sei "als Gegenstand nicht zu fassen - immer schieben sich Ereignisse dazwischen... man ist immer auf etwas ausgerichtet, im Raum und in der Zeit.... diese intentionale Spannung, die sich auf ein Noch - Nicht oder Nicht - Mehr richtet, erleben wir als Zeit! (S 64)
Das moderne Wirtschaften nun spannt den Bogen dieser "intentionalen Spannung" unnatürlich weit, hält die Spannung künstlich aufrecht, baut sie immer weiter aus. Eine Spannung, die, so kann man annehmen, durchaus auch auf unser Lebensgefühl einwirkt, die es zu einer grossen Kunst macht, den Moment in all' seiner Vielschichtigkeit sowohl zu erfassen als auszuhalten und in ihm adäquat aktionsfähig zu bleiben. Durch die digitalen Medien, so bestätigt auch Safranski, wird diese Spannung auf einer weiteren Ebene gefüttert. Sie stellen, wie das Geld, einen Faktor dar, der diesen "Zeithorizont nach beiden Seiten zu öffnen" vermag, auch hier "die Zukunft als Domäne der Vorstellungen, mit der eine nicht abgeschlossene Vergangenheit immer aufs Neue genährt und bedient wird"!
Die spirituelle Wahrheit, dass alles mit allem verbunden ist, hat sich längst auch auf wissenschaftlichem Gebiet, wie z. B. der Quantenphysik oder der Tiefenpsychologie bestätigt. "Wenn an einem Punkt etwas geschieht, welches das kollektive Unbewußte berührt oder in Mitleidenschaft zieht, so ist es überall geschehen?, wusste schon der Psychiater Carl Gustav Jung. Das, was Jung unter dem Begriff des "kollektiven Unbewussten" (Erlebtes, Archetypisches), zusammengefasst hat, ist Teil unserer Identität, ebenso wie die Gesellschaft als formgebende Instanz, oder unsere künftigen Zielsetzungen und Möglichkeiten. Auch beschreibt Jung eine innere Motivation, die in diesem Unbewussten bezw. den Archetypen wurzelt, er nennt sie das "Numinosum", eine dem Göttlichen entspringende Urkraft, um vieles gewaltiger als der vernunftgesteuerte Wille, die unser Wollen und Streben, Wünschen und Sehnen aus der Tiefe durchdringt.
Nun wirkt, allem Anschein nach, aus dem (kollektiven) Unbewussten eine zunehmend traumatisch besetzte Wirklichkeit. Die Vermeidung einer echten Auseinandersetzung mit sich selbst sowie eine zugrundeliegene Endlosschleife der Verschuldung schiebt die "Stunde der Wahrheit" bezw. der "Er-/Auf-/Lösung" immer wieder auf und verursacht somit eine ständige - persönliche und kollektive - Retraumatisierung einhergehend mit dissoziativen (persönlichkeitsspaltenden) seelischen Erkrankungen und Perversionen, der Tendenz zu Gewalt ("Terror"), Realitätsverlust und Wahn. Gleichermassen kann man beobachten, dass auch das "Numinosum", diese Urkraft im Menschen, welche Ganzheit anstrebt, zum Ausgleich tendiert, teils furchterregende Züge entwickelt und stetig an unheilvoller Kraft gewinnt. Es wäre zu bedenken, ob es auch mit ihr in Verbindung steht, was wir weltweit an Gewalt und Schrecken beobachten können bezw. mit der aktuellen Unfähigkeit der Menschheit, sie in förderliche Bahnen zu lenken.
Um der ständigen Retraumatisierung und ihren Konsequenzen zu entkommen, müssten wir uns neu ausrichten; neue Rahmen schaffen; einem menschengerechten Ganzwerden auf persönlicher wie gemeinschafticher Ebene den Weg ebnen um dem Überhandnehmen der menschlichen Schattenaspekte Vorschub zu leisten. Müssten dem tiefen Willen in uns zum universellen Gleichgewicht, zu umfassender innerer und äusserer Prosperität und einem wohlwollenden Miteinander, wieder vermehrt auf affirmative, aktive Weise Raum geben.
Vielleicht könnte man anknüpfend an die Ursachenlehre des Aristoteles sagen: in der causa formalis sowie der causa materialis, sind und bleiben wir, wenn wir sie in ihrer Zweitrangigkeit nicht entlarven, gefangen - bezüglich der causa efficiens (derjenigen der Ursächlichkeit) und der causa finalis (Zielursache) hingegen sind wir ernsthaft herausgefordert, unsere persönliche Motivation und unsere Zielsetzung zu überprüfen - dasjenige, was im Islam als das Niyyat (die innere Ausrichtung) bezeichnet wird. Gerade als gläubige Menschen kommen wir eigentlich nicht umhin, den Fokus auf diesen Anfangs - und Endpunkt zu legen. Dabei dürfen wir uns auch bewusst machen: der Verstand ist ein Spiegel der Vor - Stellungen. Das Herz hingegen einer der Wirklichkeit. Diesen vor allem gilt es zu polieren.
Nochmals zurück zu Safranski und der ZEIT, Kapitel "Zeit und Sorge". Wie Sherry Turkle postuliert auch Safranski das Erleben von Alleinsein und "Langeweile" - im Gegensatz zur Ablenkung und zum Dauerkonsum - als elementar notwendige Grunderfahrung, in der das "Initiationsereignis der Metaphysik des Alles oder Nichts" sich ereignen kann. Der "Schrecken des horror vacui'", sich der "Abgründigkeit des Menschen zu stellen" (M. Heidegger) ermöglicht nämlich "nichts Geringeres als die Freiheit des Daseins als solche...welche aber ...nur geschieht, wenn es (das Sichbefreien) sich zu sich selbst entschliesst". Safranski/Heidegger nennen hier die Voraussetzung dafür, was der Muslim in letzter Konsequenz als Tauhid - die Anbindung an den Einen Gott - kennt. Hier und über die Ausrichtung unseres Herzens, liegt zweifelsohne der "Dreh - und Angelpunkt" für jeglichen Neubeginn. Sodann kennen wir Muslime die Sunna unseres Propheten als Leitfaden für den persönlichen wie gemeinschaftlichen Weg. Wirkliche Ganzwerdung, "Individuation" nach Jung, findet so im Pendeln zwischen "Verselbstigung" und "Entselbstung" statt, in der Hinwendung zum Göttlichen im Wechsel zwischen der Auseinandersetzung mit sich Selbst und der Ausrichtung auf ein Du, im Dienst und im Aufgehen am Anderen.
Im bekannten Hadith überliefert durch Abu Huraira sagte unser Prophet (Friede sei mit ihm):
?Beschwert euch nicht über die Zeit (ad-Dahr), denn Allah ist die Zeit.?
Eine tiefgründige und auf der Basis des oben Angedeuteten, auch überaus herausfordernde Aussage. Nicht umsonst warnen Gelehrte und Weise unter den zeitgenössischen Muslimen vor unseren modernen wirtschaftlichen Praktiken als Praxis des "Schirk", Beigesellung von Göttern neben Gott. Wir kennen noch einen Ausspruch unseres Propheten - der Friede und die Gnade Gottes sei auf ihm:
Die Zeit ist ein schneidendes Schwert. Wenn du sie nicht schneidest, dann schneidet sie dich.
Der grosse Gelehrte Muhiyydin Al Arabi hat diesem hinzugefügt: ?Wisse, dass die Welt in jedem Augenblick durch einen überwältigenden Sieg der Einheit (Ahadiyah) über die Vielheit zur Nichtexistenz verschwindet? Der Gottsuchende ist Sohn des Augenblicks, die Gegenwart kehrt nicht wieder.?
Möge es uns gewährt sein, den Moment zur Gänze zu erfassen und in ihm immer wieder über uns hinauszuwachsen; im besten Sinne Söhne und Töchter des Augenblicks zu sein.
Schon zu Urzeiten hat es mit Mühsal begonnen: der islamischen Legende gemäss sollen Adam und Eva nach der Vertreibung aus dem Paradies hundert Jahre lang umhergeirrt sein, bevor sie sich glücklich wiederfanden.
Ich bin ein grosser Fan von Märchen und Sagen. Im Gegensatz zu Romanen, welche Erguss der Phantasie des Erzählers sind, beleuchten diese aus einem urtümlichen Wissen heraus die Gesetzmässigkeiten des Menschen in der Welt. Wir haben aus dem deutschen Raum u.a. die berühmte Sage der ?Nibelungen?, die bis in die jüngste Vergangenheit hinein in verschiedenen Formen erzählt und bearbeitet wurde, zuletzt von Richard Wagner in seinem Werk "Der Ring der Nibelungen". Das Stück behandelt, verkürzt gesagt, die Problematik der menschlichen "Macht" in der Welt auf der Grundlage des Verhältnisses zwischen den Geschlechtern und im Wechselspiel zwischen Liebe, Leidenschaft, enttäuschten Hoffnungen und Korruption. Sie beginnt damit, dass der Zwerg Alberich, herb enttäuscht durch die Zurückweisung seiner Liebe durch die Rheintöchter deren Gold raubt und mit dem daraus geformten Ring sowie einer Tarnkappe, hergestellt durch seinen Bruder Mime, die Weltherrschaft erlangt. Zentrale Protagonisten bis zum Schluss sind u. a. Siegfried, Brunhilde, Gutrune und Gunther. Erstere ist neben Schönheit mit einer schier übermenschlichen Kraft ausgestattet, die sie aber, wie sie weiss, nach Eingehen der Ehe der männlichen Stärke unterordnen muss ? weshalb sie auch DEN starken und ehrenvollen, ihrer würdigen Mann ausfindig machen will. Die andere, Gutrune, deren Stärke ebenfalls Schönheit aber in Kombination mit einer sanfteren, lieblicheren Natur, ist. Siegfried wäre derjenige, welcher die Stärke hätte, Brunhild zu besiegen, er drückt sich jedoch davor, bricht nach manchen Versionen sein Versprechen, heiratet anstelle Gutrune und unterstützt Gunther, Gutrunes Bruder, welcher die Brunhild begehrt auf betrügerische Weise, nämlich indem er ihn, mit Mimes Tarnkappe unsichtbar geworden, in allen kritischen Situationen vertritt ? Brunhild sinnt auf Rache, als sie dies erfährt. Das Verhängnis nimmt seinen Lauf. Die Sage erzählt, ganz kurz gesagt, die Geschichte der Zerstörung aller Werte, welche in Gang gerät, wenn unsere "Statthalterschaft"(arabisch Wilayah) in der Welt nicht auf einem gesunden, sondern gestörten und in sein Negativpotential gekippten Verhältnis der Geschlechter zueinander gründet. Wenn Liebe nicht Erfüllung findet sondern zur unkontrollierten Raserei wird, Ritterlichkeit der Hochstaplerei Platz macht, Loyalität zur gemeinsamen Fahrt in den Abgrund wird, wenn männliche und weibliche Stärke sich nicht gegenseitig annehmen, ergänzen und ausbalancieren sondern bekriegen und hintergehen. Dass dieses polare Paar nämlich Grundlage nicht nur jeglicher Schöpfung sondern auch jeglichen Prozesses in ihr ist, steht ausser Zweifel. Die Sage erzählt daher auch davon, wie die Faszination der Herrschaft über die Welt Kräfte zu binden vermag, die ursprünglich in Schönheit und Harmonie zur Vervollkommnung des Menschen Hingabe ans Göttliche gedacht wären, fehlgeleitet der unaufhaltsamen Zerstörung dienen.
In praktisch allen Völkern und Kulturen galt deshalb das Gegensatzpaar des Männlich - Weiblichen als vor allem anderen zu schützendes und ehrendes Element, als Grundlage jeglichen Gleichgewichts unseres Lebens. Das dem Taoismus entstammende ?Yin ? Yang? zeichnet hier ein stimmiges Bild vom sich gegenseitig Ergänzenden, welches das jeweils andere auch wieder in sich selbst trägt. In allem Lebendigen enthalten steht das "Yang" für männlich, dem Himmel zugewandt, dynamisch, inspiriert, gebend, hell, das "Yin"als weiblich, der Erde verbunden, intuitiv, empfangend, ?dunkel?. Der Schweizer Psychiater C. G. Jung hat in jüngster Zeit ein entsprechendes Seelenbild entworfen, in dem die "Anima" und der "Animus" in ihrem jeweils gegengeschlechtlichen "Wirt" wohnen und diesem so als Menschen seine Ganzheit verleihen.
Auch im Islam wird in dieser männlich - weiblichen Einheit die Grundlage jeglicher Manifestation innerhalb der Schöpfung gesehen, es wird ihr ein maximales Potential an Gottesannäherung - im Sinne einer Verschmelzung der gottgewollten Zweiheit mit dem Ziel der Hingabe an die universelle Einheit - ALLAH - zuerkannt. Der Prophet Muhammad, Friede sei auf ihm, bezeichnete die Ehe als die "Hälfte des Glaubens". Es liegt auf der Hand, dass dieses allem zugrunde liegende polare Paar in seinem Gleichgewicht unbedingt geschützt, gehütet und wohl geordnet werden will - was eine Vielzahl der islamischen Regelungen unterstreichen, allen voran naturgemäss diejenigen für Ehe und Erbschaft. In der Ausgewogenheit dieser Pole liegt die Saat für jegliche Gesundheit einer Gesellschaft, in ihrem Ungleichgewicht der Kern jeder Krankheit und Fehlentwicklung.
Nicht umsonst steht also die Geschichte von Adam und Eva im Zentrum des Schöpfungsmythos, nicht umsonst wohl wird auch in der Sure 2:102, wo die Grundlage der Zauberei - eines wirkmächtigen Instruments der Spaltung des Verfluchten Satan - behandelt wird, gerade das "Schaffen von Zwietracht zwischen dem (Ehe-) Paar" erwähnt, offensichtlich Voraussetzung für jegliches Zerstörungswerk, dessen Variationen und Möglichkeiten wir heute in einem zuvor ungekannten Ausmass beobachten können:
Und sie folgten dem, was die Teufel unter der Herrschaft Sulaim?ns (den Menschen) verlasen. Nicht Sulaim?n war ungläubig, sondern die Teufel waren es, indem sie die Menschen in der Zauberei unterwiesen und in dem, was auf die (beiden) engel(haften Männer) in Babel, H?r?t und M?r?t, herabgesandt worden war. Und sie (beide) unterwiesen niemanden (in der Zauberei), ohne zu sagen: ?Wir sind nur eine Versuchung; so werde (darum) nicht ungläubig.? Und so lernten sie von ihnen (beiden) das (Zaubermittel), womit man Zwietracht zwischen den Ehegatten stiftet. Doch können sie damit niemandem schaden, außer mit Allahs Erlaubnis. Und sie erlernten, was ihnen schadet und nicht nützt. Und sie wußten doch, daß, wer es erkaufte, am Jenseits wahrlich keinen Anteil hätte. Fürwahr, wie schlimm ist das, wofür sie ihre Seelen verkauft haben, wenn sie (es) nur wüßten!(2:102)
Gerade der Europäische Raum, der Okzident, in dem wir hier leben und der seinen Einfluss mittlerweile weltweit geltend macht, weist eine sehr spezielle Geschichte dieses Ungleichgewichts auf. Der Historiker Egon Friedell, (gest.1938), der jedem Zeitalter einen ihn formenden "Geist als treibende Instanz" zuschreibt, diagnostiziert bereits für den Beginn der Neuzeit (14. Jahrhundert) eine ?heraufkommende allgemeine Psychose, Desorientierung und Pessimismus, Hemmungsneurosen, Mangel an Fixierungspunkten, Perversität auf allen Gebieten, Logik des Widersinnigen, Ethik des Unsittlichen und Ästhetik des Hässlichen.? ?Brauch, Sitte, Rede und Geste? veränderte sich und zwar wurde ?alles, was sozusagen die innere Melodie des Lebens ausmacht,? unfeiner, derber vulgärer, direkter. Ausserdem: ?Bedrückung durch den Wucher, furchtbare Stürme, riesige Heuschreckenschwärme, Erdbeben, Misswachs und Dürre sowie Aberglaube?. Die Menschen erwarteten den Antichristen und das Jüngste Gericht. Zugleich verlor die Kirche zunehmend ihre Glaubwürdigkeit als religiöse Instanz ? und liess somit die Menschen in tiefer existentieller Unsicherheit und Verwirrung zurück. An jenem Punkt der europäischen Geschichte, so Friedell, hätten die Menschen ?verlernt, beim natürlichen Licht Gottes im Buch der Welt zu lesen?bei dem künstlichen Licht der Vernunft, das sie sich bald selbst anzünden sollten, vermochten sie es noch nicht.*) In der Folge aber begann dieses Ringen um die ?Allmacht der Vernunft? ? einer Vernunft, die, aus Perspektive der polaren Zweiheit gesehen, dem männlichen Prinzip entspricht, die dem Menschen zunehmend Religionsersatz werden sollte, ihm zur Orientierung genügen sollte und mit deren Hilfe er Souveränität und Macht durch sich selbst in der Welt zu erlangen wünschte.
Die mit dieser Perspektive einhergehende vermeintliche ?Überlegenheit? des Männlichen gegenüber dem Weiblichen wurde später zum Beispiel durch derartige Auswüchse des ehrbaren Kirchenvaters Thomas von Aquin: (1225-1275) widergespiegelt:
?Hinsichtlich der Einzelnatur ist das Weib etwas Mangelhaftes und eine Zufallserscheinung; denn die im männlichen Samen sich vorfindende Kraft zielt darauf ab, ein ihr vollkommen Ähnliches hervorzubringen. Die Zeugung des Weibes aber geschieht auf Grund einer Schwäche der wirkenden Kraft wegen schlechter Verfassung des Stoffes."
?Der wesentliche Wert der Frau liegt in ihrer Gebärfähigkeit und in ihrem hauswirtschaftlichen Nutzen?.
"Die Frau ist von Natur aus mit weniger Tugend und Würde ausgestattet als der Mann. Denn immer ist das ehrenwerter, was handelt, als das, was erleidet?
Hexenverbrennungen im 16. Jh, die Debatte über eine mögliche Nichtexistenz der Seele bei Frauen bildeten den Gipfel einer Fehlinterpretation und Verteufelung des Weiblichen, wie wohl einzigartig in der Geschichte unseres Planeten. Zwar erfuhren Frauen auch in anderen Kulturen zuweilen Missachtung und Unterdrückung, man kann dies an Beispielen wie der Praxis des Lebendigbegrabens von Mädchen im arabischen, vorislamischen oder die der Witwenverbrennung im hinduistischen Raum nachvollziehen; solche Praktiken sowie die Haltung dahinter wurden sowieso durch den Islam grossräumig unterbunden und allgemein relativiert mangels eines vergleichbar aufdringlich zur "Alleinherrschaft" entschlossenen "männlichen Gegenparts?.
Jedes Ungleichgewicht, so lehrt einen das Leben, schlägt irgendwann, gelingt es nicht, es rechtzeitig auszubalancieren, in sein Gegenextrem um bezw. verursacht ein synchron damit einhergehendes Ungleichgewicht des Gegenpols. Spätestens um das Zeitalter der Aufklärung herum zeigt nun auch das malträtierte Frauenbild öffentlich sein Gesicht, kehrt während der französischen Revolution seine entstellte Fratze von innen nach aussen. Zum Beispiel im Bild der auf dem Altar tanzenden Prostituierten. Möglicherweise aber auch in Form der ausufernden Grausamkeit, des Tobens jener Zeit. Synchron mit der Verbreitung des Papiergelds wird der Prozess der Trennung und somit Entstellung der Frau - Mann/Yin- Yin - Yang - Polarität immer schneller und ins immer Hässlichere vorangetrieben. Das Männliche, zunehmend vom Göttlichen abgekoppelt und geistentleert, sich im manischen Herstellen von Techniken, Strukturen und Regelungen ergehend, welche heute keine Kleinsteinheit der menschlichen Gesellschaft mehr verschonen. Ja, wir besitzen mittlerweile im aller privatesten Raum unseren individuellen Überwacher und Beurteiler - der Computer und das Internet macht's möglich. Das Weibliche als unbefriedete, gefährlich freilaufende Kraft, die sich zwanghaft für den Betrug an ihr rächt, sich in Konkurrenz zum Männlichen begibt, sich wahllos und permissiv paart, das, was sie gebiert, (zu) wenig beachtet. Oder die als Pendent zur männlichen Manie ins Depressive abgleitet.
Es ist leicht zu erkennen, dass sich in diesem Bild unsere ganze "Kultur" widerspiegelt. Unsere moderne Konsumgesellschaft mit den auseinanderdriftenden Familieneinheiten, der beliebigen Partnerwahl, der um öffentliche Anerkennung buhlender Transgender - Homo - gar Pädosexuellen - usw. Szenen, der latent schwelenden Aggression und Gewaltbereitschaft einerseits, Resignation und Gleichgültigkeit andererseits, einer bodenlos, uferlos wuchernden, wahnhaften Dialektik um ihrer selbst willen, sowie, möglicherweise auch der Trennung und willkürlichen Neuzusammensetzung im Bereich der Klein - und Kleinstteile der Schöpfung - chemischer Elemente z. B. in Form neuer Medikamente, auch Nahrungsmittel, (-Zusätze), biologischer in der Gentechnik und -medizin, Atome in allen gefährlichen Prozessen der Kernspaltung sowie letztendlich der Einsatz der Quanten für eine Vielzahl an elektronischen Einrichtungen, ohne die unser Alltag schon fast nicht mehr vorstellbar ist. Jüngste Entwicklungen bergen erschreckende Visionen. Die auf sich selbst gestellte, abgekoppelten 'Vernunft' fordert die Schöpfung auf neuartige, schaurige Art "geistig" heraus. Niemand kann bis anhin noch sagen, wo die Entwicklungen auf der Basis von Neuzusammensetzung verschiedenster Einzelteile und ? teilchen noch hinführen werden, mit Sicherheit aber zeichnet sich jetzt schon ab, dass sie dem Menschen nichts Gutes verheissen.
Nicht von ungefähr ist praktisch alles an Kultur, Wissen und Erkenntnis, das Europa bis heute erreicht hat, zu einem grossen Teil durch den Tiegel des arabisch - islamischen Raums gelaufen. Die Aufspaltung ?Ratio - Emotio?, im Abendland entfesselt wie nirgends sonst, war dort lange kein Thema. Eine gesunde weiblich - männliche Polarität eingebettet in die Fundamente von Allahs Offenbarung und in die Ausrichtung auf IHN, erhaben ist ER, boten ideale Grundlage zur ausgewogenen Resorption, Reflektion und Weitergabe allen Wissens. Ansätze zu einer vergleichbaren "Vergöttlichung" der Vernunft, der menschlichen Ratio, übrigens, wie die der Mu?tazila (der ?Abgetrennten?), einer Splittergruppe innerhalb der islamischen Theologie im 11. Jh, wurden hier von einem ihrer eigenen Schüler, Abu Hasan al Asch?ari im Sinne der Islamischen Ganzheitlichkeit zurückgewiesen. Gott segne die Arbeit unserer Gelehrten und der Gesellschaften, in denen solcherart Einsicht wachsen und gedeihen konnte.
Im heiligen Qur?an , zu Beginn der Sure al Baqara, werden diejenigen, die bemüht sind, ihr ?Lichtlein? ohne Anbindung ans Göttliche und dessen Rechtleitung am Brennen zu erhalten, übrigens derart beschrieben:
17. Sie sind jenem Manne vergleichbar, der ein Feuer anzündete; und als es alles um ihn erhellte, nahm Allah ihr Licht hinweg und ließ sie in Finsternissen; sie sehen nicht. 18. Taub, stumm, blind: also werden sie nicht zurückkehren.19. Oder: wie schwerer Wolkenregen, worin Finsternisse und Donner und Blitz; sie stecken ihre Finger in die Ohren, in Todesfurcht vor den Donnerschlägen, während Allah die Ungläubigen umringt.20. Der Blitz benimmt ihnen fast das Augenlicht; wann immer er auf sie zündet, wandeln sie darin, und wenn es über ihnen dunkel wird, stehen sie still. Und wäre es Allahs Wille, Er hätte ihr Gehör und ihr Gesicht fortgenommen. Allah hat die Macht, alles zu tun, was Er will.(2.17-20)
Wollen wir als Muslime heute wieder eine bereinigte Grundlage unseres Denkens und Handelns erlangen, kommen wir nicht darum herum, unseren Stand in der heutigen Zeit genauestens unter die Lupe zu nehmen, unsere ?Koordinaten? geschichtlicher, theologischer, seelischer Art zu bestimmen und unser Handeln entsprechend auszurichten. Wohl noch nie war dieses Unterfangen so herausfordernd wie heute. Noch nie hat es auf geistiger Ebene vergleichbare Wirren, Verunsicherung, Konfusion gegeben, enstanden durch empirisches Unrecht, Leid und Chaos. Durch ihren natürlichen und direkten Bezug zu allem Geschaffenen ist Frau hier Bindeglied zu allem Schwachen, Vernachässigten, Gequälten, Bedrohten. Durch ihre praktische, der Erde verbundene Anlage Zuständige für Heilung und (Neu-) Ordnung. Der Frau obliegt (in heutiger Zeit auf besondere Weise) das Gros des dem Leben auf diesem Planeten dienlichen Handelns; an ihr bleiben auch jene seelischen Schicksalsanteile "hängen", die Mann gerne von sich weist indem er sich - auf Kosten oder durch Zuhilfenahme von Frauen einen Ausweg daraus schafft. Möglicherweise deshalb ist ein gewichtiger Aspekt des Weiblichen auch der der ?Erlösung?. Erlösung des Menschlichen aus allen möglichen Ecken seines Leides, seiner Abgetrenntheit, seiner inneren Einöde und Verwüstung durch schieres Mitgefühl.
Die Zeit ruft danach, sich als einsichtige Menschen allgemein, als Muslime im Besonderen wieder auf Grundlagen zu besinnen, die Boden für ein elementares Wiederganzwerden - in Theorie und Praxis - bergen. Die der natürlichen Veranlagung (im Islam heisst diese FITRA) des Menschen entsprechen. Allem voran durch die unumgängliche Wiederverbindung mit dem Göttlichen. Es ist der Din al Islam - das "Transaktionssystem" des Islam - in dem jedes einzelne Element der Schöpfung den ihm bestimmten Platz bekommen, gesunden kann. Gleichzeitig haben wir ein breites Feld an Erkenntnissen zu unserer Verfügung, um den Herausforderungen der Gegenwart in Theorie wie Praxis zu begegnen. Auf die ausgewogenen Verbindung der Männlich - Weiblichen Einheit als Grundlage jedes Prozesses muss hierbei ein besonderer Fokus gelegt werden. Hierin liegt die Basis jeder Gesundung. Keine Ideologie, keine Politik, auch keine Theologie kann fruchten ohne diese gesunde Grundlage, kein noch so erhabener geistiger Ansatz wird im Empirischen umsetzbar sein, wird geerdet ohne sie. Es gilt hier, auf menschlicher Ebene zusammenzuarbeiten, zusammenzuwirken, so weit wie nur immer möglich. Dann vielleicht, wird durch Allahs Gnade und Barmherzigkeit der Weg dafür bereitet, dass sich das Versöhnliche durch alle Dinge zieht und Durchbrüche im kleinen sowie, so ER will, grösseren Rahmen erlangt werden. Wird Wissen hingegen nicht oder nur unvollständig in der Praxis verankert, bleibt den angedachten Ideen und Strukturen nur, sich auf immer höherem Podest und im Tanz um sich selbst ad absurdum zu führen, ja sich gegen uns zu wenden; Vernachlässigtes, nicht Integriertes beginnt sein Eigenleben zu führen, bekommt neue, unkontrollierte, unberechenbare Macht - der Kreis des Übels bekommt noch erschreckenderes "Futter", anstatt dass ihm entgegengewirkt wird.
So kann vielleicht die Hoffnung Wirklichkeit werden, die Carl Gustav Jung so formulierte: "....dass der Vorsprung, den im Abendland unsere Ratio, unser einseitig differenziertes Bewusstsein über unsere Instinktnatur errungen hat und der sich in einer hochentwickelten Zivilisation, in einer alles bezwingenden Technik ausdrückt, die jede Beziehung zur Seele verloren zu haben scheint, dadurch wettgemacht wird, dass wir die schöpferischen Mächte unseres ewigen Seelengrundes zur Hilfe rufen, sie wieder in ihre Rechte einsetzen und zur Höhe unserer Ratio emporheben?. ?Die Wandlung" das wusste auch Jung, "kann aber nur beim Einzelnen anfangen ? und wird sich dieser gewandelte Einzelne dann ?. nur mehr in der tiefsten ethischen Verpflichtung erkannt haben, dann wird er ?einerseits ein überlegen Wissender, andererseits ein überlegen Wollender und nicht ein hochmütiger Übermensch sein?! **)
In seiner Abschiedspredigt war eine zentrale Botschaft unseres geliebten Propheten Muhammad:
Behandelt die Frauen gut!
Was bedeutet dies für die (einsichtigen) Männer unserer Zeit, für die Erben einer auf Verachtung des Weiblichen basierenden "Kultur", für diejenigen, die den Weg aus der Misere anstreben? Im Hinblick auf eine möglicherweise entscheidende Rolle der Frau in der Gegenwart gilt es mehr denn je, uns zu hören, sich mit uns zu verbinden, unsere Bedürfnisse ernst zu nehmen und uns unsere Rechte zu geben. So und nur so kann der Islam in Europa wirklich Fuss fassen, kann sein heilendes Potential hier wie anderswo fruchtbar werden. Wir rufen daher auf:
Kommt - vermehrt - zu Sinnen! Verabschiedet Euch weder auf die geistige Spielwiese noch gebt Euch dem allzu Profanen hin, dreht Euch nicht im Kreis um den Spiegel Eurer Betrachtungen und entzieht Euch uns nicht. Seid uns lebendiges, offenes, neugieriges Gegenüber. Schafft, gebt Raum, Zeit, Geld, Aufmerksamkeit für uns Frauen, nicht im Sinne eines Zeitvertreibs sondern nehmt uns ernst! Unterschätzt uns nicht und erkennt die immense Bedeutsamkeit unserer Qualitäten gerade für die Zeit in der wir leben. Nehmt uns wahr in unserer Schönheit, Weisheit, Überlegenheit. Gebt uns Anerkennung und vergebt unsere Fehler und Schwächen, habt Erbarmen mit den am meisten von der Zeit Gebeutelten, Geforderten. Glaubt an unser Potential zur Heilung und lasst uns darin gemeinsam wirken. Vertraut auch auf die uns eigene Art, Lösungen und Wege zu erkunden. Liebt uns und ehrt uns und hört um Gottes Willen damit auf, uns zu benutzen! Die Zeit ist auf ?unserer Seite?! Wisst, dass ihr dringend auf uns angewiesen seid. Wir brauchen Euch um uns zu entfalten. Ihr uns, um - gemeinsam - zu überleben.
"Brunhilde" hat den Ring seinem Ursprung zugeführt, für sie hat sich der Kreis geschlossen. Alles deutet darauf hin, dass sich derzeit auch ein zeitlicher Zyklus schliesst und in den Schoss einer (Neu-) Empfängnis und - Geburt zurückkehrt. In den ?Schoss?, wo sowohl Vollendung als Neuschöpfung möglich ist. Wo Tod und Leben, Ende und Beginn in Eintracht Geborgenheit finden.
In letzter Konsequenz ist es nur die eine mächtige und gleichzeitig erlösende Kraft, welche alle anderen - ansonsten verloren umherirrenden Kräfte und Bestrebungen zu umfassen vermag, welche alleine das ganze Potential zur Heilung in sich birgt. Es ist die Energie, mit deren alles begann, die Liebe. Allerdings die Liebe in ihrer höchsten Form, des Muslims, des Gottergebenen, zu Allah und Seinem Gesandten. Sodann, auf ihrer Basis diejenige zueinander um Seinetwillen und das Handeln darin. In ihrem Schutz alleine liegt der gangbare Weg.
Keine Macht und keine Kraft ausser bei Allah und ER soll uns genügen.
Allahumma Salli 'ala Sayydina Muhammad wa 'ala Aalihi wa Sahbihi wa Sallim.
*) gestützt auf Egon Friedell: Kulturgeschichte der Neuzeit Band 1 Seiten 96 ff, S. 106 ff, S 118 ff **)aus Jolande Jacobi: die Psychologie von C. G. Jung [/b]
Karola Khan ist schon lange innerhalb der Islamischen Institutionen im deutschsprachigen Raum aktiv. 1995 war sie Mitgründerin des bis heute bestehenden ersten Islamischen Kindergartens in Wiesbaden. Sie war Gründungs ? sowie von 1996 bis 2000 Vorstandsmitglied der Islamischen Religionsgemeinschaft Hessen IRH, deren Projekt die Etablierung des Islamischen Religionsunterrichts in Hessen als ordentliches Unterrichtsfach gemäß GG Art 3 und Art. 7/3 wie üblich, trotz Erfüllung aller gesetzlichen Vorgaben, an der politischen Willkür unterschiedlicher Parteien gescheitert ist. Von 1998 ? 2000 war sie im Redaktionsteam des muslimischen ?Freitagsblatt? und seit der Gründung des Islamologischen Instituts im Jahr 2000 ist sie Leiterin des Instituts, zuständig für die Verwaltung und das Sekretariat. Wer den Grundlagenkurs für authentische islamische Wissenschaften, einzigartig im deutschsprachigen Raum, besucht hat, kommt an Karola nicht vorbei. Sie beantwortet Fragen, leitet weiter, wiegt ab, koordiniert und organisiert. Seit der Gründung des Instituts haben mehrere tausend Kursteilnehmer mit verschiedenstem, auch akademischem Hintergrund die Kurse besucht. Die Islamische Zeitung hat mit Karola Khan gesprochen.
SAMW: Liebe Karola, as Salamu aleikum. Sie bieten die Islamologie-Kurse in verschiedenen Städten in Deutschland, Österreich und der Schweiz?
Karola Khan: ... aber nicht überall gleichzeitig. Es kommen Städte dazu, andere fallen wieder weg. Im Moment sind wir in Hamburg, Berlin, Aachen, Mülheim, Stuttgart, München, Volketswil (bei Zürich), Salzburg und Wien. Da die Kurse sich durch die Teilnehmerbeiträge finanzieren müssen, brauchen wir eine Mindestteilnehmerzahl.
SAMW: Die Kurse bestehen aus Wochenendseminaren von jeweils zwei Tagen über ca. zwei Jahre?
Karola Khan: Das kommt darauf an, wie die Termine liegen, es sind vier Kurse, jeder Kurs dauert ungefähr sechs Monate. Den Ramadan und die Sommerferien müssen wir berücksichtigen. Der Kurs wird auch immer nur dann weitergeführt, wenn genügend Anmeldungen eingehen. Wir können uns nicht nur auf mündliche Zusagen stützen, wenn wir Termine machen, müssen wir für alle einhergehenden Kosten geradestehen, das ist ein Risiko, das wir gänzlich alleine tragen. Wir haben wie gesagt keine Sponsoren, keine Finanziers, die Raummieten steigen ebenso die Flugtickest und Fahrtkosten? und es gibt nur die Teilnehmer, die die Kurse tragen. Es gibt Städte, wo ständig Kurse laufen, so in Köln und nun in Mülheim; in anderen Städten ergeben sich Pausen bis genügend Teilnehmer angemeldet sind, dann geht es weiter. Garantiert werden immer nur die sechs Monate ?ein Semester - länger wollen sich die Teilnehmer meist nicht binden. Danach meldet man sich erneut an.
SAMW: Wie sieht das prozentuale Verhältnis der Geschlechter zueinander im Kurs aus?
Karola Khan: Überwiegend sind es Frauen, in allen Städten. Im ersten Kurs in Frankfurt war das Verhältnis 50/50. Mittlerweile sitzt in manchen Kursen nur ein Mann, zwei oder drei... sie sind immer in der Minderheit.
SAMW: Traurig...?!
Karola Khan: Ja. Die Brüder, nehme ich an, gehen davon aus, sie wissen schon genug. Sie gehen ja zur Chutbah am Freitag, viele sind schon als Muslime geboren? Frauen sind öfters Konvertiten und die suchen halt ... Die Motivation ist meist, sich selbst zu bilden und auch, dass man den Kindern als Mutter etwas weitergeben kann.
SAMW: Der Kurs, so kann man auf der Homepage lesen, versteht sich als ?Angebot an die neue Generation von Muslimen, die im Westen sozialisiert und verwurzelt sind?. Hier müsste also doch große Nachfrage bestehen?!
Karola Khan: Die Nachfrage wäre sicher da, wenn der Kurs bekannter wäre. Wir machen keine Werbung, das läuft seit 14 Jahren immer nur über Mund?zu Mund?Propaganda: Teilnehmer bringen neue Teilnehmer. Ansonsten gibt es keine Werbung. Wir haben anfangs bewusst keine Werbung gemacht, da wir fürchteten, den Bedarf an Dozenten nicht decken zu können. Die Dozenten können nicht das ganze Jahr hindurch jedes Wochenende unterwegs sein, denn sie arbeiten die ganze Woche über an anderen Arbeitsstellen. In der Tat finden wir nur sehr schwer Dozenten. Wir nehmen keine im Westen ausgebildete ?Islamwissenschaftler?, dies ist für uns keine ausreichende Qualifikation. Unsere Dozenten müssen an einer anerkannten Islamischen Universität auf Arabisch studiert haben. Solche Leute findet man zwar, aber dann mangelt es oft am Deutsch. Dann können manche wiederum Deutsch, können jedoch nicht lehren. Es reicht nicht, vom Blatt abzulesen, man muss laut und vor allem frei dozieren können. Manche, die kamen, sagten von sich aus, nachdem sie die Skripte gelesen hatten, das sei ihnen zu schwierig, das Niveau sei zu hoch. Manch einer hat sich nach einem Probeunterricht entschuldigt: die Teilnehmer hätten zu viele Fragen gestellt. Man ist dieses kritische Hinterfragen oft nicht gewohnt, weiß auf so manches keine Antwort. Viele studieren und lernen auswendig, ohne verstanden zu haben, was sie studiert haben. Natürlich haben solche ein Problem damit, wenn kritische Fragen gestellt werden. Wir hatten einen Dozenten mit Magisterabschluss in ?islamischer Theologie?, für den unser Fachbuch Quraan-Wissenschaft vom Niveau her zu hoch war, und deshalb hat er es nicht gewagt in unserem Islamologie-Kurs zu lehren. Aber heute ist dieser Mann Professor an einem der neu geschaffenen Lehrstühle im deutschsprachigen Raum!
SAMW: Der Unterricht erfordert ja seitens der Lehrkräfte einerseits die islamischen fachlichen Kenntnisse, andererseits auch ein umfassendes menschliches Verständnis?.
Karola Khan: Und die Beherrschung der deutschen Sprache. Eigentlich ist es auch von großer Wichtigkeit, dass man im hiesigen Kulturkreis verwurzelt ist, damit man den Hintergrund der Fragen verstehen kann, die von den Teilnehmern gestellt werden. Wenn jemand nur im Ausland groß geworden ist, versteht er viele Dinge nicht oder interpretiert sie falsch, und dann kommen Antworten, die die Fragesteller vor den Kopf stoßen. Wir planen nun, (jemand muss es ja machen ?) eine private islamische Fakultät aufzubauen, wo eine Ausbildung auf Deutsch und Arabisch angeboten wird. Denn man kann zwar vieles auf Deutsch erklären, jedoch um in die Tiefe zu gehen, ist es unausweichlich auf das Arabische zurückzugreifen. Vielleicht mithilfe von Fernkursen über anerkannte Islamische Universitäten. Dies hätte längst passieren müssen, wie gesagt, von den Organisationen kommt wenig - wir arbeiten jetzt dran und hoffen, dass wir nächstes Jahr loslegen können.
SAMW: Was bekommt man aktuell für einen Abschluss vom Islamologischen Institut?
Karola Khan: Man bekommt ein Zertifikat mit detaillierten Angaben über Studieninhalte und abgelegte Prüfungen mit Noten. Die Ausbildung ist vergleichbar mit einer beruflichen Weiterbildung, also kein akademischer Abschluss.
SAMW: Wie sehen Sie die Entwicklung des Islamischen Religionsunterrichts IRU in Deutschland?
Karola Khan: IRU ist ein Fachbegriff, der an genau definierte Bedingungen geknüpft ist. Es gibt bisher, außer in Berlin, nirgends echten Religionsunterricht nach den Vorgaben des Grundgesetzes. Wir, vor allem wir Muslime müssen das Kind beim Namen nennen, bei seinem korrekten Namen, denn die derzeitigen Schulversuche erfüllen alle nicht die Vorgaben unserer Verfassung. Es sind Versuche, den Muslimen ihr in der Verfassung verankertes Recht auf Religionsunterricht vorzuenthalten, mit den gleichen vorgeschobenen Gründen, und das seit mehr als 30 Jahren. Nicht wir Muslime sind unfähig, die Bedingungen zu erfüllen, sondern es fehlt schlicht der politische Wille. Nennen wir es also ?Religiöse Unterweisung? oder ?Islamkunde? oder auch ?Mogelpackung?, aber bitte nicht ?Islamischen Religionsunterricht?.
SAMW: In Österreich ist die Situation ähnlich?
Karola Khan: In Österreich gibt es die IGGiÖ, die als Religionsgemeinschaft den IRU gemäß der Verfassung organisiert, die IRPA/ Privater Studiengang für das Lehramt für Islamische Religion an Pflichtschulen, die unsere muslimischen Religionslehrer ausbildet, sowie der IHL/ Hochschullehrgang für Islamische Religionspädagogische Weiterbildung, der die Fort- und Weiterbildung der Islamischen Lehrkräfte leitet. Der akademische Leiter des Islamologischen Instituts Mag. Amir Zaidan hat mehr als 10 Jahre an der IRPA doziert und den IHL aufgebaut und 10 Jahre geleitet.
SAMW: Gibt es einen Rückhalt des Instituts in der arabischen Welt, wenn ja, welchen?
Karola Khan: Das Institut wurde von uns in Deutschland gegründet, und wir arbeiten seitdem alleine. Die Inhalte sind diejenigen Inhalte, die an den Islamischen Universitäten gelehrt werden. Wenn man sich den Lehrplan ansieht, erkennt man die Anlehnung an die normalen Curricula dieser Islamischen Universitäten. Es gibt auch keine Fixierung auf oder Bevorzugung einer Fiqh-Schule, alle Schulen werden dargestellt und jeder kann sich das herausnehmen, was er möchte: Es ist wichtig, die Vielfalt der Muslime darzustellen, klarzumachen, dass die Vielfalt existiert und dass sie gewollt und richtig ist; Wir hatten in den Kursen auch schon schiitische Studenten, alevitische, auch einige christliche Theologen sowie nicht-muslimische LehrerInnen, die wissen wollten, worauf sich ihre muslimischen Schüler berufen. Unsere Kurse sind offen für alle. Zielgruppe sind natürlich vorrangig die Muslime aber jeder, der interessiert ist, ist willkommen. Wir fragen nicht, wer Muslim ist, wer nicht, das muss auch bei der Anmeldung nicht offengelegt werden, denn es interessiert uns nicht. Viele Frauen kommen auch ohne Kopftücher, und wir fragen nicht nach ihrem religiösen Hintergrund. Wir wollen niemanden abschrecken. Wir wollen Wissen vermitteln an alle, die Interesse daran haben.
SAMW: Ihr arbeitet auch an der Übersetzung einiger Grundlagenwerke in die deutsche Sprache, ist das richtig?
Karola Khan: Was im Moment ins Deutsche übersetzt wird, ist der komplette Sahiih Al-buchaariy, das sollen acht Bände werden. Diese Übersetzung ist ganz anders als die bisher auf Deutsch erhältlichen. Wir übersetzen das gesamte Werk und nicht nur Auszüge. Das ist der eine Unterschied, der wichtigste Unterschied aber ist, dass nicht nur Sprache übertragen wird mit den bekannten Mängeln und Verzerrungen, sondern qualifizierte Fachleute der Islamologie übertragen den Inhalt unter Verwendung der adäquaten und vor allem islam-konformen Fachterminologie sowie unter Berücksichtigung aller Disziplinen der Islamischen Wissenschaften. Band 1 wurde herausgegeben, Band 2 ist momentan in Arbeit.
Ein weiteres Projekt des Institutes ist die Islamologische Enzyklopädie. Eine Enzyklopädie der Islamischen Wissenschaften auf Deutsch mit 12 Bänden. Hiermit wollen wir erstmals die Islamischen Wissenschaften auf akademischem Niveau einem deutschsprachigen Publikum zugänglich machen. Herausgegeben haben wir bisher 9 der geplanten 12 Bände. Die Arbeit an diesem Projekt begann vor mehr als 20 Jahren, noch bevor wir die Islamologie-Kurse begonnen haben. Fiqhul-?ibaadaat war 1996 das erste Buch, Al-?aqiidah 1997 das zweite. Diese beiden Bücher wurden kurz darauf (1999) überarbeitet, denn bei der Arbeit an diesen Werken hat Amir Zaidan, der Autor dieser Fachbücher, sehr bald gemerkt, dass die im Westen übliche Verwendung christlich geprägter Begriffe für islamische Inhalte den Islam nicht adäquat wiedergeben, gar verfälschen. So ist z.B. der Islam ?die freiwillige Hingabe? und nicht ?die Unterwerfung? mit dem Beigeschmach des Zwangs, auch der Begriff Gläubige für uns Muslime ist nicht passend, denn Muslime glauben ALLAAH und seinem Propheten, dies ist nämlich die Bedeutung von Iimaan ?at-tasdiiq?. Es ist ein großer Unterschied zwischen ?ich glaube an dich? und ?ich glaube dir?. Denn jemandem zu glauben, setzt voraus, dass man die Wahrhaftigkeit dieser Person kennt. Deshalb überprüfen die bewussten Muslime alle Tradenten von islamischen Inhalten auf Wahrhaftigkeit, Seriosität und Erinnerungsvermögen, insbesondere in Bezug auf Inhalte, die man weder durch Logik noch durch Experimente belegen kann. Diese Liste an falschen Begriffen ist leider immer noch sehr lang und ich wünschte mir, dass viel mehr Geschwister diesen Umdenkungsprozess in Bezug auf die islamischen Termini nach nunmehr 15 Jahren zur Kenntnis nehmen und sich dazu durchringen, die ?liebgewordenen? falschen Begriffe durch eine islam-konforme Terminologie zu ersetzen. Wir müssen erkennen, dass sehr viele Vorurteile und Missverständnisse darauf beruhen, dass wir Muslime eine unpassende Sprache verwenden.
Mit großem Unbehagen haben wir gemerkt, dass sogar in den vorhandenen Quraan-Übersetzungen, die auch wir zu Anfang benutzten, durch die Verwendung dieser falschen Terminologie viel an Fehlern enthalten ist. Obwohl bei dem Projekt der Enzyklopädie anfangs kein eigener Tafsiir geplant war, erkannten wir die Notwendigkeit, vor der Herausgabe der anderen Fachbücher zunächst eine eigene Quraan-Übersetzung zu erstellen. So kam es, dass das dritte Buch dieses Projektes ein neuer Tafsiir war. Im Jahr 2000 gaben wir unsere erste neuartige Übersetzung heraus, die erstellt war unter Berücksichtigung der islamischen ?Aqiidah und der anderen für einen islam-konformen Tafsiir relevanten Fachdisziplinen, wie ?Uluumul-quraan, Usuulul-fiqh, ?Uluumul-hadiith usw. und unter Verwendung einer islam-konformen Fachterminologie, selbstverständlich wurden auch die Tafsiir- und Quraan-Kommentare führender Exegeten miteinbezogen. Im Vorwort wird in diesem Tafsiir erläutert wie wichtig es ist, auf die Fachbegriffe zu achten und es werden Beispiele für gravierende Fehler angeführt, die leider immer noch in den Quraan-Übersetzungen stehen, als Folge der Nichtberücksichtigung der ?Aqiidah und Nichtbeachtung der Terminologie.
Nach dieser Vorarbeit starteten wir im Jahr 2000 mit dem Unterrichten der Islamischen Fachwissenschaften in den Islamologie-Kursen. Da es außer für die Module Fiqhul-ibaadaat und ?Aqiidah kein Unterrichtsmaterial für die anderen islamologischen Fächer wie Hadiith- oder Quraan-Wissenschaft gab, mussten die Dozenten eigene Unterlagen für die jeweiligen Unterrichtsstunden erstellen, die als Kopien an die Teilnehmer verteilt wurden. Diese Skripte wurden im Laufe der Kurse immer wieder überarbeitet und ergänzt, denn aus den Fragen und Rückmeldungen der Teilnehmer konnte man ableiten, was wichtig, was unwichtig und was vielleicht unnötig ist und welche Themen und Fragestellungen unbedingt ergänzt werden sollten.
Nachdem für alle Disziplinen der islamischen Wissenschaften umfangreiche Skripte erstellt waren, wollten wir den nächsten Schritt gehen, und dieses Wissen nicht nur den Kursteilnehmern, sondern einem breiten Leserkreis zur Verfügung stellen. Ziel war ja von Anfang an, dass das Projekt der Islamologischen Enzyklopädie ein Waqf/Stiftung werden soll. Das Problem, als wir die Bücher drucken wollten, war dann die Finanzierung des Drucks. Da wir immer unabhängig waren und bleiben wollen, haben wir weder Sponsoren noch andere Geldgeber und auch keinen Verlag, der uns vorschreiben kann, was wir drucken sollen und was nicht.
Um Kosten zu sparen, machen wir alles, was wir selbst machen können auch selbst: neben dem Verfassen der Fachbücher, erledigen wir Korrektur und Lektorat, erstellen das Layout, geben im Selbstverlag heraus, übernehmen Organisation, Transport, Lagerung und den Vertrieb unserer Bücher. Um den Druck der ersten Bücher zu finanzieren haben wir unseren Islamologie-Teilnehmern unser Enzyklopädie-Projekt vorgestellt und um Beteiligung an diesem Waqf-Projekt gebeten. Wir haben eine Subskription für alle 12 Bände angeboten zu einem sehr günstigen Preis. Die Resonanz unsere Islamologie-Ummah war überwältigend. Viele Teilnehmer haben die Bücher im Voraus bezahlt und abgewartet und uns vertraut, dass wir die Bücher liefern. Sie haben sehr geduldig lange abgewartet bis sie das erste Buch erhielten. Mittlerweile sind 9 Bücher gedruckt und wir hoffen, dass wir die noch fehlenden drei Bände bis Ende 2016 liefern können. Die Subskription der Enzyklopädie und auch von Sahiih Al-buchaariy ist immer noch möglich. Allerdings nicht mehr zu den Bedingungen wie zu Beginn, denn die Druck- und Papierpreise sind in den letzten Jahren explodiert und außerdem erhalten die neuen Besteller nun sofort 9 Bücher.
Seit Ramadan haben wir ein weiteres Projekt verwirklicht, unsere neue Internetseite. http://www.islam-wissen.com. Mit dieser Seite wollen wir eine Alternative bieten zu den unzähligen Seiten, die eine extreme Ideologie verbreiten und den Islam entstellen. Wir wollen authentisches islamisches Wissen verbreiten und deshalb findet man auch die gesamte Enzyklopädie online und Sahiih Al-buchaariy-Band wird ebenfalls online zugänglich gemacht.
SAMW: Wirkt sich das nicht nachteilig auf den Verkauf aus?
Karola Khan: Es kommt uns nicht auf den Verkauf an, sondern darauf, dass das Wissen weitergegeben wird. Schauen Sie, die Menschen leben mittlerweile quasi im Internet und deshalb müssen wir das Wissen auch dort zugänglich machen. Es gibt aber immer noch Menschen, die ein Buch lesen wollen, die werden dann ein Buch kaufen. Auch zum Lernen und zum Nachschlagen eignen sich Bücher besser, aber zur schnellen Information, zum Nachlesen bei einer aktuellen Frage ist das Internet unumgänglich. Die Internetseite ist auch deshalb überaus wichtig, weil sie einen Gegenpol zu diesen ?Rattenfängern? setzt, die unsere jungen Geschwister auf den falschen Weg führen. Unseres Wissens ist bis anhin keiner unserer Teilnehmer auf diese Leute hereingefallen. Aber wir wissen ? auch aus den Medien - von Schülern, die diesen ?Wischiwaschi-Islamunterricht? genossen haben, nach dem Motto, man kann ja alles machen, ?Hauptsache Islam ist im Herzen ??, (Schwimmunterricht mit der Lehrerin im Bikini inbegriffen) mehrere bei den Extremisten in Syrien gelandet sind. Junge Menschen suchen einen Sinn in ihrem Leben, sie wollen ihre islamische Identität finden, sie brauchen Werte und vor allem wollen sie Grenzen kennenlernen, wenn wir sie ihnen nicht aufzeigen, suchen sie dies woanders, an den falschen Stellen im Internet bei den ?Rattenfängern?.
SAMW: Authentisches Islamisches Wissen verhindert also das Abdriften in den Extremismus?
Karola Khan: Ja sicher. Deshalb ist es so wichtig, dieses Wissen weiterzugeben und deshalb wünschen wir uns auch mehr Zugriff auf unsere neue Internet- Seite http://www.islam-wissen.com. Man kann bei uns nicht nur die Bücher lesen, sondern es gibt eine Rubrik für Fatwas, man kann Fiqh-Fragen stellen und Auskünfte verlangen. Diejenigen, die Antworten geben, sind ausgebildete Fachleute der jeweiligen Fiqh-Schulen, kein Abu X oder Umm Y die aus dem Bauch heraus ihre Meinungen kundtun. Die Antworten werden auch veröffentlich (natürlich anonymisiert), so dass man im Fatwa-Archiv stöbern und sich informieren kann.
SAMW: Um nochmals auf den Inhalt der Enzyklopädie zurückzukommen - das ist sozusagen die Essenz der traditionellen Bücher. Der Kurs und damit die Enzyklopädie sollen, wie es ein Referent mal ausgedrückt hat, einen ?Überblick über die Quellen und deren Verwendung? bieten.
Karola Khan: Die Inhalte unserer Enzyklopädie müssen natürlich die gleichen sein, wie in den Standardwerken der Gelehrten. Wir haben nichts Neues erfunden, es wird jedoch etwas anders dargestellt, auf unsere Zielgruppe, die deutschsprachen Leser zugeschnitten. Im arabischen Raum wird oft in unendlichen Variationen immer das Gleiche wiederholt, damit es sich besser einprägt. Die Europäer, besonders wir Deutschen bevorzugen es etwas strukturierter, z.B. mit System wie 1. 2. 3. a) b) c)? Deswegen: bei der Enzyklopädie wird nichts übersetzt, sondern es wird auf Deutsch geschrieben. Die Quellen, die auch angegeben werden sind natürlich die arabischen Fachbücher, eine Zusammenfassung von allem, wobei der Schwerpunkt auf den Themen liegt, die für die Muslime im deutschsprachigen Raum wichtig sind. Im Fiqhul-mu?aamalaat zum Beispiel ist diese Fatwa über die ?Halalisierung? von Riba/Zinsen drinnen. Die gesamte Fatwa, mit Übersetzung und Analyse und es wird wissenschaftlich gezeigt, dass diese Fatwa falsch ist.
SAMW: Gibt es insofern eine Zusammenarbeit mit den Muslimischen Organisationen, als sie euch in Eigenregie sozusagen- für den Kurs Leute vermitteln?
Karola Khan: Nicht die Organisationen. Es sind in der Regel unsere Teilnehmer, die uns kennen, die sich für die Kurse einsetzen. Bevor wir angefangen haben, haben wir alle großen Organisationen angeschrieben. Zuvor hatten wir ja schon mindestens 10 Jahre lang Da´wah-Arbeit gemacht, man hat uns gekannt. Als die Idee mit dem Institut kam, haben wir alle angeschrieben, unsere Vorstellungen dargelegt, den Lehrplan geschickt, um Mithilfe und Zusammenarbeit angefragt. Es kam keine Antwort, auch nach 2-3-maligem Anmahnen, Nachhaken ? nichts. Das soll allerdings nicht heißen, dass wir ein schlechtes Verhältnis haben mit den Organisationen, aber Kooperation in dem Sinn gibt es nicht. Wir kennen und respektieren uns.
SAMW: Wie ist das aber möglich nach vormaligem Miteinander?
Karola Khan: Was wir zuvor gemacht haben, waren Projekte innerhalb von lokalen Arbeitskreisen. Regionale Dinge wie Friedhofsprojekt, Krankenhaus- und Gefängnisseelsorge. Ich nehme an, es ging und geht auch darum, unter welchem Namen ein Projekt läuft. Unsere Zielgruppe sind nicht nur bestimmte Ethnien oder bestimmt Fiqh-Schulen oder Angehörige bestimmter Organisationen, sondern wir sind offen für alle.
SAMW: Wie stellt sich für Sie als langjährige ?Insiderin? die Entwicklung der Islamischen Gemeinschaften in Europa in den letzten Jahrzehnten dar?
Karola Khan: Dazu kann ich wenig sagen, denn ich lebe mittlerweile ziemlich isoliert. Es ist mit unseren Projekten sehr viel Arbeit verbunden.
SAMW: Steigt das Interesse, an dem, was Ihr anzubieten habt?
Karola Khan: Es geht wellenförmig auf und ab, nicht kontinuierlich. Das kann auch daran liegen, dass wir keine Werbung machen. Die meisten, die kommen, sagen, wenn ich das gewusst hätte, wäre ich viel früher gekommen. Was wir für die Zukunft planen, ist Online-Unterricht, so kann man mehr Leute erreichen ohne zu reisen.
SAMW: Was wäre Ihr Aufruf, Ihr Anliegen an die Muslime?
Karola Khan: Dass sie mehr Wert auf Bildung legen. Allgemeinbildung sowie auch Islamische Bildung. Denn die Priorität vieler Geschwister liegt leider auf Konsum. Die Bereitschaft, in Bildung zu investieren, muss mehr werden. Für Markenkleider oder IPads, für Urlaub etc. wird Geld ausgegeben, für Bücher und Bildung eher weniger. Auch Da?wah kann nur funktionieren, wenn wir das entsprechende Wissen haben, denn wir können nichts weitergeben, was wir nicht haben. Unser Problem ist das Unwissen unserer Ummah, dies erleichtert die Arbeit der ?Rattenfänger?.
SAMW Noch etwas anzufügen?
Karola Khan: Nun, wichtig ist uns, dass unsere Projekte bekannter werden: die Islamologie-Kurse, die Islamologische Enzyklopädie, das Buchaariy-Projekt und die neue Internetseite islam-wissen.com damit noch mehr Menschen von dem dort angebotenen Wissen profitieren können. Für die Kurse können sich außer Kursteilnehmern gerne auch Dozenten bei uns melden, denn wir brauchen Nachwuchs und wünschen uns Nachwuchs. Wir wünschen uns auch, dass die Islamischen Organisationen unseren Vorstoß als Ansporn ansehen, etwas Ähnliches anzubieten, Konzept, Lehrplan und Beratung bieten wir gerne an. Wir wollen kein Monopol in diesem wichtigen Bereich, wir wünschen uns, dass es viel mehr Bildungsangebote auf akademischem Niveau auf Deutsch gibt, denn den Bedarf können wir gar nicht allein decken.
SAMW: Liebe Karola, wir danken herzlich für das Gespräch!
Susan Youssef, eine Filmemacherin mit Libanesisch ? Syrischen Wurzeln, geboren in Brooklyn, hat ihren eigenen Weg eingeschlagen ? anfänglich gegen die traditionell ausgerichtete Weltsicht ihrer Familie ? einen Weg den sie selbst als ?wach und befreit? beschreibt. Ihr erster Film, ?Habibi? hat ? nebst anderen Auszeichnungen ? den Preis für den Besten Arabischen Feature Film am 8. Internationalen Film Festival in Dubai gewonnen. Susan ordnet ihr Oeuvre einerseits als ?semiautobiographisch? ein, fühlt sich aber inhaltlich von grossen Werken wie ?Laila und Majnoun?, Wagners Ringparabel inspiriert und zeigt auch ? offensichtliche ? Anlehnung an Richard Linklaters Produktionen. Für ihren nächsten Film ?Majnoun and the flying headscarf? hat sie ein Crowdfunding lanciert, das Ende dieses Monats ausläuft.
SAM: Das Thema Liebe innerhalb vertrackter gesellschaftlicher oder politischer Umstände ist Subjekt Ihres letzten Films ?Habibi?. Empfinden Sie, dass innerhalb der Muslimischen Gemeinschaften der Gegenwart alles, was mit dem Begriff Liebe zu tun hat, vergleichsweise eher bewahrt und gefördert oder eher behindert und zerstört wird?
Susan Youssef: Es ist interessant, die öffentliche Wahrnehmung bezüglich der Einschätzung von Liebe in Muslimischen Gemeinschaften mit der Wirklichkeit zu vergleichen. Wir haben ?Habibi?, die Geschichte einer verbotenen Liebe in Gaza City ohne jegliche Proteste oder negative Folgen drehen können. Es hat zwei Jahre gedauert, eine Örtlichkeit zu finden, wo der Film gezeigt werden konnte, aus Gründen die mit der Besetzung zu tun hatten. Als wir ihn dann vorführten, sah das Publikum darin ausnahmslos das Bestreben zweier Liebender, zusammenzukommen. Fürs Kino gilt: Menschen lieben die Liebe in allen Gesellschaften gleichermassen. Viele Familien der Muslimischen Bevölkerung in Gaza beispielsweise haben im familiären Bereich die Sorge, ihre Kinder sicher zu verheiraten, sie vor Fehltritten zu bewahren. Gleichzeitig aber hat sich jeder der Zuschauer auf persönlicher Ebene mit dem Kampf dieser beider Liebenden identifiziert, die sich den Wünschen und Vorstellungen ihrer Familien widersetzen und sogar Dinge tun, die als Fehler eingestuft werden.
SAM: Der politische Aspekt war Ihnen auch ein wichtiger. Beim Crowdfunding für Ihren letzten Film haben manche Produzenten oder auch mögliche Geldgeber ?zuwenig Erotik und zuviel Politik? beanstandet. Wie möchten Sie Ihren kommenden Film in dieser Hinsicht gestalten?
Susan Youssef: ´Marjoun´ spielt in den USA und handelt von einem Teenager, die fast unter dem Druck, eine bestimmte Art von junge Frau zu werden, zugrunde geht. Allerdings, denke ich nicht, dass ich genanntes Thema weiter ausreize, als in ?Habibi?. Es ist nicht meine Absicht, den weiblichen Körper als Objekt oder gar Fetisch darzustellen. Auch fühle ich mich nicht bemüssigt, zerstörerische oder negative Vorstellungen zu bedienen. Was immer an Intimität oder Sexualität im Film gezeigt wird, hat mit der Sehnsucht der Darstellerin nach Verwirklichung ihres ?höheren Selbst? zu tun, allem dem zum Trotz, was die Amerikanische Gesellschaft jungen Mädchen antun kann.
Als ich ein junges Mädchen war, sind mir Dinge widerfahren, über die ich damals nicht sprechen konnte. ?Marjoun? soll den jungen Frauen das Gefühl eines ?sicheren Ortes? vermitteln, an dem oder durch den sie gewisse Dinge ansprechen und aufarbeiten können. Ich werde also mein Bestes tun, um authentische Bilder und Sprache zu liefern und das heisst, herausfordernde Themen werden wohl berührt.
Politisch will der Film den Hintergrund des Amerikanischen Rechtssystems hinterfragen, welches Arabische und Muslimische Amerikaner zu Sündenböcken macht, aber es wird hier durch die Erfahrungsbrille einer jungen Frau gesehen, die darin lebt.
SAM: Ist Ihr Anliegen ? vor allem im neuen Film - das der Darstellung der Befreiung einer oder ?der? westlichen, als Muslimin geborenen Frau ? und wenn ja, inwiefern erfährt diese Gewalt und welches Ziel strebt die Befreiung an?
Susan Youssef: Wenn ich über Befreiung spreche, meine ich: die Freiheit, zu sein wer immer man sein will im Westen, Osten und ganz für sich selbst. In diesem Film sieht sich unser Teenager einerseits mit den Anforderungen des ?Amerikanischen Teenager ? Daseins? konfrontiert, aber auch mit dem Druck, den ihre eigene Familie auf sie ausübt, die Tochter nach deren Vorstellung zu sein. Ich bete dafür, dass alle unsere Mädchen die ?bestmögliche Version? von sich selbst werden mögen. Dass sie sich das Ziel der Bildung, der Mutterschaft setzen, oder was immer es ist, was sich für sie stimmig und echt anfühlt.
Als ich mich dem Filmemachen zuwenden wollte, hatte ich ein grosses Problem mit meinen Eltern. Die wollten, dass ich bald heiraten würde. Sie liebten mich, aber konnten sich nicht vorstellen, dass Hollywood ein Ort für mich wäre. 10 Jahre später haben sie sich dazu durchgerungen, mich grossartig zu unterstützen aber das war ein langer Kampf. Auf gewisse Weise hatten sie recht: Wie passt eine Frau wie ich zum kommerziellen Kino? Aber in meinem Herzen wusste ich, dass ich dazu imstande bin, mir diesen Platz zu schaffen.
Wenn ich also über ?Befreiung? spreche, meine ich Geschichten wie die meinige. Ich möchte, dass Frauen für sich selbst herausfinden können, wer sie sind und darauf zusteuern. Meine Überzeugung ist, dass wir eine höhere Berufung im Leben haben und dass wir Gott unseren besten Möglichkeiten gemäss dienen sollen.
Und eigentlich kommt das ?Befreiungsthema? insofern als Überraschungspaket daher, als ich meine Zuschauer dazu anspornen möchte, ihr Eigenes zu realisieren! Aber ich verspreche, dass ich in keiner Weise Anbiederung an Westliche Vorstellungen von ?Befreiung? anstrebe! Es geht um eine tief persönliche Sache.
SAM: In Ihrem letzten Film fiel die Feststellung: ?this religion (Islam) is about love?. Glauben Sie, dass Liebe, als eine/die tiefste und stärkste spirituelle Kraft zentraler Bestandteil der Genesung unserer gegenwärtigen persönlichen, gesellschaftspolitischen sowie auch religiösen Angelegenheiten sein muss?
Susan Youssef: Ich bin tief geprägt durch den Sufismus und den Anspruch, über die Liebe möglichst dauerhafte Verbindung mit dem Göttlichen anzustreben. In ?Habibi? arbeite ich mit der Majnoun ? Laila ? Parabel als Metapher für die verzweifelte Suche der beiden Darsteller Qais und Layla, in einer hoffnungslosen Situation Lebensinhalt und Hoffnung durch ihre Liebe zu finden. Verbindungsglieder zum Glauben durchziehen den gesamten Film, überdies hoffte ich, dass die Romanze, die schon Shakespeares ?Romeo und Julia? inspiriert hat, die Menschen in Gaza auf sehr grundlegende Art und Weise auf ihr Menschsein hinweisen würde. In ?Marjoun? wird die Suche nach dem Göttlichen direkter thematisiert, da unser Teenager immer wieder über ihren Glauben reflektiert; nichtsdestotrotz ist die Metapher immer noch präsent. Das Thema Liebe kann dabei helfen, Arabische und Muslimische Menschen im Westen ?normalisierend?einzuordnen. Gerade jetzt, in Zeiten der Furcht betreffs der Flüchtlingskrise ist dies besonders wichtig.
SAM: Was möchten Sie möglichen Sponsoren für Ihr Projekt sagen?
Susan Youssef: Ich gehöre zur ersten Generation Arabisch ? Amerikanischer Filmemacher. Das heisst, dass diese Arbeit Pionierarbeit und somit schwierig umzusetzen ist. Es gibt eine gewisse Faszination für unsere Arbeit, aber sie wird als publikumsschwach eingestuft, was heisst, dass sie schwer zu finanzieren ist. Gleichzeitig habe ich in meiner letzten Feature, ?Habibi? gezeigt, dass solche Filme der Möglichkeit längerfristig positiver Veränderungen sowohl in der Medienkultur als auch hinsichtlich des gesellschaftlichen Diskurses die Tür öffnen. ?Habibi? ist weltweit Teil von Facharbeiten an Universitäten: Von Harvard bis zur Universität in Sydney. ?Habibi? war die erste Dreharbeit in Gaza in Jahrzehnten und dennoch, es gab da schon ein Publikum, das darauf gewartet hatte. Dieses Publikum musste es ausserhalb der traditionellen Hollywood ? Kassenschlager geben, dennoch hat es uns gefunden und wir haben es bedient. Obwohl der Film vor vier Jahren seine Premiere hatte, wird er immer noch an Filmfestivals ausgestrahlt, an Universitäten gezeigt und ist auch Online verfügbar. ?Marjoun? kann das auch erreichen, aber unser Ziel ist diesmal, ein noch breiteres Publikum anzusprechen. Der Beweis ist das Drehbuch. Marjoun auf dem Motorrad provoziert Erinnerungen an James Dean. Ihr ?Road Trip? und ihre Rolle als Amerikanische Rebellin der Neuzeit macht ihre Geschichte auf breiter Basis zugänglich.
Wie auch immer ? wir sind auf das Crowdfunding angewiesen. Wir schaffen es nicht, die gängigen Investoren zu gewinnen, obwohl wir das versucht haben. So möchten wir jeden, den wir kennen, darum bitten, etwas weniges beizusteuern, auch wenn`s nur $ 1 ist, damit wir den Film machen können. Und wir wollen, dass die Leute verstehen ? sie finanzieren nicht nur ?Marjoun? sondern auch einen Ansatz für gleichwertige Darstellung von Arabern und Muslimen im Westen. Das Amerikanische System stellt nicht all die Subventionen bereit, die im Europäischen Raum vorhanden sind und so hoffen wir, dass die Europäer uns beistehen mögen.
SAM: Wir danken sehr für das Gespräch und wünschen Ihnen alles Gute!
Susan Youssef: Danke für Ihre Zeit und Unterstützung! Shukran!
Am 3. Mai 2010 wurde der Grundstein für die derzeit zweitgrösste Moschee in der Schweiz gelegt, das ImanZentrum in Volketswil-Hegnau bei Zürich. Zweieinhalb Jahre später war das Bauwerk betriebsbereit, am 14. Dezember 2012 konnte das erste offizielle Freitagsgebet stattfinden. Seither haben tausende Muslime dieses Zentrum, das für Muslime aller Länder und Ethnien konzipiert wurde, besucht.
Der Bau, mit einem Kostenvoranschlag von CHF 7.5 Mio, wurde ohne Aufnahme von Bankkrediten alleine durch Spenden aus dem In- und Ausland getätigt. Das Zentrum orientiert sich am sunnitischen Islam, interne ?Amtssprache? ist Deutsch, es wird die Freitagspredigt auf Arabisch und Deutsch gehalten. Sämtliche Ankündigungen sind in Deutsch gehalten.
Das ImanZentrum ist eine von nur vier Gebetsstätten in der Schweiz, welche von Beginn an als solche geplant und gebaut wurden. Es bietet als zweitgrößte Moschee der Schweiz nach der Genfer auf vier Stockwerken eine Gesamtfläche von 11.000 Quadratmetern. Nebst dem Gebetsraum im Erdgeschoss, mit Platz für 500 Männer und auf der Galerie im 1. Stock für 300 Frauen, umfasst der Bau im Obergeschoss 5 Schulungsräume, einen Jugendraum sowie einen Vortragssaal. Das Zentrum verfügt über zwei kleine Gästezimmer, in denen auswärtige Referenten und Gäste übernachten können, und mehrere weitere Räume, die als Büro, Frauenraum und Bibliothek genutzt werden. Im Untergeschoss gibt es einen türkischen Laden sowie ein derzeit libanesich geführtes Restaurant, beides ist vermietet und wird unabhängig vom Zentrum auf eigene Rechnung der Mieter betrieben. 75 Parkplätze gehören zum Zentrum.
Die Stiftung Islamisches Zentrum Volketswil (SIZV) ist die faktische Besitzerin des Gebäudes. Sie wurde im Dezember 2008 gegründet, hat das Baugesuch eingereicht, die Bauphase eingeleitet und überwacht. Sie verwaltet heute die Räumlichkeiten, ist Hauptansprechpartner für Behörden und Ämter.
Die IGVZ (Islamische Gemeinschaft Volketswil Zürich) wurde im Juli 2012 gegründet und ist zuständig für den Betrieb innerhalb des Zentrums. Sie finanziert sich aus Mitgliederbeiträgen und Spenden.Die IGVZ hat einen festangestellten Imam, der die religiösen und sozialen Aufgaben der Gemeinschaft übernimmt ebenso einen halbamtlichen Hauswart. Alle Mitglieder des Vorstandes IGVZ arbeiten ehrenamtlich. Der Verein ist Mitglied der VIOZ (Vereinigung Islamischer Organisationen im Kanton Zürich www.vioz.ch) Ihr Vorstand besteht aus sieben Mitgliedern schweizerischer und ausländischer Herkunft, die Präsidentin ist eine Frau: Laila-Beatrice Oulouda, Mutter von 6 Kindern, Grossmutter, gelernte Kauffrau und seit 25 Jahren Muslimin. Sie ist am IPD (Institut für Pädagogik und Didaktik) ausgebildete Religionslehrerin.
SAM: Frau Oulouda, Sie bezeichnen den Bau der Moschee in Volketswil als ?einen Schritt aus dem Schatten ans Licht?. Hat sich diese Vision bewahrheitet, inwieweit manifestiert sie sich?
Laila Oulouda: Man bemerkt, dass das Interesse am Zentrum generell steigt. Die Leute werden darauf aufmerksam, wollen wissen, was das für ein Haus ist. Und wenn sie dann kommen ? der ?WOW-Effekt?. Man staunt darüber, dass die Muslime ? hierzulande ? so etwas Schönes zustandebringen können. Ich bekomme auch immer mehr Anfragen für Führungen durchs Zentrum. Man kennt den Ort langsam und so war es ein Schritt ins Licht im Sinne eines neuen Gesehen- und Wahrgenommenwerdens.
SAM: Was gibt es über die inhaltliche Struktur des Zentrums zu sagen?
Laila Oulouda: Das Wichtigste natürlich sind die täglichen 5 Gebete sowie das Freitagsgebet. Wir haben zusätzlich einmal im Monat Frauentreffen. Weiter gibt es Unterricht für Erwachsene und Kinder. Am Mittwochnachmittag und Samstagmorgen ist Schule für Kinder (Islamunterricht in Deutsch, Arabaisch und Qur?an). Es sind nun über 100 Kinder, die diesen Unterricht besuchen, einige stehen auf der Warteliste.
Unser neuer Imam, Sheikh Youssef Ibram, gibt ebenfalls regelmäßig Unterricht. Am Dienstagabend Dars nur für Frauen, am Mittwochnachmittag Qur?an für Frauen, am Samstagabend Dars für alle. Donnerstagabend bieten wir einen Arabischkurs für Personen, die von Haus aus kein Arabisch sprechen.. Freitagabend ist Jugendabend, die Jugendlichen treffen sich in zwei Gruppen (vor 20.00 die unter 16-jährigen, danach die über 16-jährigen).
Sind genügend Leute vor Ort, gibt es einen kurzen Dars nach dem Morgengebet. Manchmal wird ganz spontan ein Dars gehalten, und am Sonntagmorgen gibt es ab und zu einen Brunch für die Besucher des Morgengebets.
Es kommt auch regelmäßig ein Referent aus Deutschland, Mohammed Johari. Leider gibt es aber manchmal Terminkollisionen und man muss eine Pause einlegen wie jetzt: Er kommt erst im Juni wieder. Seit Oktober des letzten Jahres haben wir einmal monatlich das islamologische Institut Wien zu Gast mit dem Islamologiekurs.
Wir bieten 2 Mal jährlich einen Tag der offenen Moschee. Bis jetzt hatten wir im Schnitt immer 50 bis 80 Besucher. Man kann sagen, dass das ein großer Erfolg ist. Und was natürlich unter der Woche läuft, sind die Führungen für Schulklassen und andere Gruppen wie Studentenorganisationen, die Pädagogische Hochschule Zürich kommt regelmässig, ebenso hatten wir verschiedene Gruppen der Kantonspolizei und der Feuerwehr zu Besuch, sowie den Gewerbe- und Quartierverein von Volketswil-Hegnau, weiter diverse Kirchengruppen, letzthin war auch eine Gruppe Mormonen hier.
SAM: Ergibt sich hieraus auch ein fruchtbarer Austausch?
Laila Oulouda: Im Moment steht das Interesse am Zentrum im Vordergrund. Es kann noch nicht als ein Austausch im Sinne einer näheren Zusammenarbeit mit diesen Gruppen bezeichnet werden. Wir sind immer noch im Aufbau und müssen uns erst selbst ein wenig etablieren, bevor wir uns groß austauschen können. Die Erfahrung zeigt auch, dass die Muslime weniger bereit sind, sich mit Christen zu treffen als umgekehrt. Einige Kontakte wurden vor allem unter Frauen schon geknüpft. Es wird sich zeigen, was daraus wird.
SAM: Wie sind die Kontakte mit den Behörden?
Laila Oulouda: Wir stehen in gutem Kontakt mit den Behörden, vor allem mit der Gewerbepolizei, Gemeinde- und Feuerpolizei, auch mit der Gemeindeverwaltung. Wir sind in Volketswil nun als offizieller Verein registriert, was uns gewisse Vorteile bietet, sind auch mit der Schulpräsidentin in Kontakt und planen, im Ramadan einen Iftar spezifisch für Behördenmitglieder zu machen.
SAM: Welche Nationalitäten kommen hier zusammen?
Laila Oulouda: Das ist etwas schwierig einzuschätzen, ich kann es am besten aus Sicht der Schule sagen. Wir haben Kinder aus Nordafrika (Marokko, Tunesien, Algerien, Aegypten), Vorderasien (Libanon, Syrien, Palästina, Saudiarabien), Asien (Indien, Pakistanisch, Indonesien), Afrika (Somalia, Eritrea) und natürlich Europa (Schweiz, Türkei, Mazedonien, Kosovo, Bosnien). Also die Durchmischung der Ethnien wurde wirklich erreicht. Wichtig ist für uns die Deutsche Sprache. Es gibt in der Schweiz wenige Moscheen, in denen man auf Deutsch kommunizieren kann. Dass die Khutba zuerst auf Arabisch, dann auf Deutsch gehalten wird, ist uns ganz wichtig. Der Vorstand besteht auch darauf, dass alles übersetzt wird. Wenn es einen Vortrag auf Arabisch gibt, muss es mindestens eine Simultanübersetzung dazu geben. Leider haben wir noch keine Übersetzungsgeräte ? das ist einer unserer Wünsche. Aber es findet sich immer jemand, der die beiden Sprachen beherrscht und dann simultan übersetzen kann.
Manchmal gibt es schon Zusammenstösse aber man weiß ja, dass auf die verschiedenen Rechtsschulen Rücksicht genommen werden muss, wenn jemand halt eine andere Gebetshaltung einnimmt, dass man da tolerant ist ? er macht?s so, ich mach?s anders. Da wird von uns her auch geschaut, dass hier nicht ?eingegriffen? wird, wenn einer kommt, der findet ?das ist haram?. Dass man da versucht zu schlichten. Klarzumachen, dass es verschiedene Richtungen gibt und dass hier in der Moschee nicht nur eine praktiziert werden darf. Bis jetzt geht das, alhamdulillah, recht gut.
SAM: Wie ist der Vorstand zusammengesetzt?
Laila Oulouda: Gerade gestern hatten wir Neuwahlen. Es ist leider zur Zeit nicht der ganze Vorstand besetzt. Wir haben Schweizer dabei, einen Schweiz-Marokkaner und einen Mazedonier, Männer und Frauen sind durchmischt, eine Zeitlang waren die Frauen in der Überzahl, derzeit sind es nur noch zwei Frauen. Wie gesagt, wir sind noch nicht vollständig und mein Wunsch wäre, dass noch eine Frau dazukommt.
SAM: Im Vergleich zu früheren oder anderen Projekten: Funktioniert die Kommunikation zwischen Frauen und Männern fließend?
Laila Oulouda: Ja, durchaus. Es gibt manchmal vielleicht gewisse Schwierigkeiten bei Gästen, die manchmal etwas irritiert sind, wenn sie der ?Präsidentin? vorgestellt werden aber im Großen und Ganzen sind unsere Erfahrungen positiv. Intern funktioniert die Zusammenarbeit bestens, ich fühle mich akzeptiert und respektiert.
SAM: Auf welchen Feldern agieren Sie als Präsidentin des Moscheevereins?
Laila Oulouda: Das ist recht vielfältig. Mein Hauptanliegen und der eigentliche Grund, warum ich hier dazugestoßen bin, ist die Schule. Ich wollte diese hier aufbauen. Ich bin dann in dieses Präsidium gewählt worden. Habe allerdings schon breite Unterstützung, es gibt auch das Vizepräsidium?
Es geht ums Organisieren von Versammlungen, Einladen zu Veranstaltungen, Personalführung, es gibt Mitarbeitergespräche. Man muss dem Imam und dem Hauswart ihre Aufgaben klarlegen, der Imam ist natürlich weitgehend selbständig, seine Funktion ist das religiöse Gebiet aber es sind Zeitpläne abzusprechen, Ferien zu regeln. Den Überblick über alle Aktivitäten zu behalten. Die Sauberkeit des Zentrums liegt im Verantwortungsbereich der Stiftung. Wir haben da eigentlich nichts damit zu tun. Aber auch da muss man vielleicht mal sagen, es ist nicht sauber und sich mit der Stiftung darüber austauschen. Es ist auch immer jemand von der Stiftung an den Sitzungen dabei. Die Zusammenarbeit ist da, man muss im Gespräch bleiben.
SAM: Wie steht es mit dem Einbinden der vorhandenen Ressourcen?
Laila Oulouda: Das klappt eigentlich schon, aber man muss halt immer wieder aufrufen. Wir sind halt auch noch am Lernen. Ich habe zwar schon in Moscheen mitgearbeitet, aber noch nie so intensiv wie hier. Man muss zusehen, dass man an Tagen wie Freitag oder am Tag der offenen Moschee genug Leute hat, es braucht Aufsichtspersonen bei den Männern wie bei den Frauen, die die Kinder zur Ruhe mahnen, damit haben wir recht großen Erfolg, obwohl es zu Anfang einige Kämpfe gab, es wurde uns zu große Strenge vorgeworfen. Mittlerweile aber ist das akzeptiert. Wir tragen als Aufsichtpersonen gelbe Westen mit unserem Logo drauf und die Kinder wissen jetzt schon, wenn die mit der Westen uns ansieht, muss man ruhig sein?
Auch für die Parkplatzeinweisung jeden Freitag braucht es einen enormen Aufwand, nicht jeder ist da einsichtig und das führt zuweilen auch zu heftigsten Diskussionen. Die Anzahl Parkplätze ist halt beschränkt, wir haben aber auch Absprachen mit den Nachbarn, die die Woche durch unsere Parkplätze benutzen dürfen und im Gegenzug können wir die ihren am Freitag und an Festtagen nutzen.
Die Organisation der Festgebete ist auch eine der grössten Herausforderungen. Die Frage, wie man damit umgeht, wenn an einem Tag bis zu 800 Leute hier das Gebet machen wollen. Es müssen Absprachen mit der Gemeinde gemacht werden, die Feuerpolizei muss vor Ort sein, das braucht schon einige Planung. Wir haben eine Gruppe Leute, von denen wir wissen, dass wir sie ansprechen können, Frauen wie Männer. Es soll auch ein Sicherheitskonzept entwickelt werden, man muss wissen, wie man in einem Notfall vorgeht.
Wir planen Schulungen darüber, wie man die Moschee evakuieren würde; es gibt einem doch zu denken, wenn man hört, dass Anschläge auf Moscheen zunehmen und wir sind nun mal ein Zentrum, das im Fokus steht, auch alleine (im Gelände) steht. Gerade gestern ist jemand von der Polizei da gewesen, der uns beriet, wie und wo Kameras installiert werden sollen. Wir wollen eine Gruppe zusammenstellen, die dafür geschult ist, in Konfliktfällen einzugreifen. Wir haben bemerkt, dass es nicht ausreicht, erst im akuten Fall aufzubieten, sondern man muss die Leute schulen.
Dasselbe für Moscheeführungen, wo die Anfragen und das Interesse auch rasant steigen.
SAM: Das sind, wohlbemerkt, alles freiwillige Dienstleistungen?
Laila Oulouda: Ja. Vielleicht lädt man einmal zum Essen ein um ein bisschen etwas abzugelten ? was allerdings dann teilweise wieder auf Kritik stößt. Wir wissen allerdings, dass auch die Eintreiber der Zakat ihren Lohn von jenem Geld bekommen. Also halten wir es für vertretbar, die Gelder der Vereinseinnahmen zuweilen für ein Essen mit dermaßen engagierten Helfern zu verwenden...Viele sehen einfach nicht, wie viel Arbeit im Hintergrund da geleistet wird ...
SAM: Wie wird das alles finanziert?
Laila Oulouda: Alles durch Spenden.
SAM: Inwieweit spielt die Orientierung nach Rechtsschulen eine Rolle und nach welcher richtet man sich mehrheitlich?
Laila Oulouda:Wir sind sunnitisch ausgerichtet ? alle Rechtsschulen werden toleriert. Auch im Schulunterricht wird das thematisiert. Wir hatten das gerade am Thema ?Wudu?? durchgesprochen. Die einen waschen den Nacken, die anderen nicht. Jeder soll es so machen, wie er es zuhause lernt und den anderen das ihre lassen. Diese Akzeptanz muss da sein ? der andere macht?s anders und liegt trotzdem richtig.
SAM: Wie geht man mit der Herausforderung um, als quasi ?Teilzeit?- oder ?Freizeitgemeinschaft? in religiösen Belangen und in der Organisation der Abläufe in der Moschee einen gemeinsamen Nenner zu finden?
Laila Oulouda: Ja, das ist nicht immer einfach. Verbundenheit entsteht einmal dadurch, dass alle hier sich mit derselben Umständen befassen. Es sind ja auch immer ein wenig die gleichen Leute, die man trifft und es kommen auch neue dazu. Ich finde, es ist im Laufe der Zeit schon eine gewisse Verbundenheit entstanden.
SAM: Welchen Stellenwert haben Herzensbindungen?
Laila Oulouda: Ich denke schon, einen wichtigen. Auf jeden Fall. Durch sie entsteht so etwas wie ein Heimatgefühl. Ich fühle mich in der Moschee wohl und daheim und das finde ich etwas vom Wichtigsten.
SAM: (Inwieweit) Wird seitens der Imame und Vortragenden im Zentrum auf die spezielle Situation von uns Muslimen als Minderheit innerhalb eines säkularen, pluralistischen Europa eingegangen?
Laila Oulouda: Ich denke, sporadisch schon. Wenn jemand mit spezifischen Problemen und Fragen zum Imam kommt, muss darauf eingegangen werden. Wir hatten auch schon Vortragsthemen wie ?Sozialarbeit in der Moschee? o.ä. ? Was man aber nicht will, ist, auf politische Themen eingehen. Denn das führt zu Konflikten. Wir hatten das einmal beim Konflikt in Ägypten, wo der Imam für die eine ?Partei? Stellung genommen hat. Das hat nach der Khutba fast zu einer Schlägerei geführt. Da muss man sehr aufpassen, weil wir viele verschiedene Menschen aus vielen verschiedenen (politischen) ?Lagern? hier haben.
Und was man natürlich nicht duldet und wo man eingreift, ist Radikalismus. Auch wenn Dinge propagiert werden wie, man müsse als Muslim in der Schweiz keine Steuern zahlen, denn das sei ein nichtmuslimisches Land: Hier hat der Imam an der drauf folgenden Khutba sofort Stellung bezogen und geklärt, dass wir als Muslime, die hier leben, in erster Linie dem Schweizer Gesetz unterstellt sind und dazu gehört das Zahlen von Steuern. Solche Dinge versucht man schon laut und offiziell klarzustellen.
SAM: Es wird ja von den Moscheen gefordert, dass sie ?radikale? beziehungsweise gefährliche Strömungen im Keim beseitigt...
Laila Oulouda: Ja und das ist natürlich nicht so ganz einfach. Es kommen ja hier viele Leute und man kann ja nicht jeden am Eingang nach dem Pass fragen und nach seiner Gesinnung. So kann es natürlich schon passieren, dass gewisse Gruppen und Einstellungen ihren Weg in die Moschee finden. Aber wenn man so etwas hört, versucht man gleich, einzugreifen. Wenn man merken würde, dass jemand einschlägige Propaganda macht, würde man ihm gewiss nahelegen, der Moschee fernzubleiben.
Wir haben auch die Moscheebesucher darum gebeten, Augen und Ohren offenzuhalten. Haben das auch mit der Polizei angesprochen, die letzthin hier waren, um den neuen Iman kennenzulernen, der ja ihre Ansprechsperson ist. Wir haben dann auch gefragt, wann es sinnvoll ist, die Polizei zu kontaktieren. (lieber einmal zu viel war die Antwort, man würde nicht gleich eingreifen, sondern eher beobachten)
Mit der Gemeinde haben wir ein gutes Verhältnis. Es wurde uns auch angeboten, ob man mehr in der Umgebung der Moschee patroullieren soll. Wir sollten uns melden, wenn wir glaubten, das zu brauchen. Sie würden dann ihre Präsenz beim Umrunden der Moschee verstärken. Wenn wir das verlangen würden, würden sie sofort eingreifen. Man will ja in der eigenen Gemeinde keine Probleme, alle Anwohner sind ja auch an einem harmonischen Zusammenleben interessiert.
SAM: Was sind die Highlights und was fehlt?
Laila Oulouda Die grosse Sira-Ausstellung war sicher ein Höhepunkt. Wir planen da auch Wiederholungen, es gab auch Ausbildungen dazu, ich fand das ein tolles Projekt. Highlights sind aber auch Moscheeführungen oder der Tag der offenen Moschee, wenn Leute kommen und über die schöne Moschee staunen... So viel Platz, so groß, so hell ? solche Begegnungen geben einem wieder den Auftrieb, der einen zum Weitermachen anspornt.
Auch innerhalb der Gemeinschaft gibt es sehr viele positive Reaktionen; manchmal hat man das Gefühl, jetzt geht?s gar nicht mehr und dann kommt von irgendwoher wieder ganz unerwartet Hilfe ? manchmal auch finanzielle Unterstützung. Dadurch merkt man immer wieder, dass die ganze Sache von Allah geschützt und gestützt ist ? das sind sehr schöne Erfahrungen.
Auch der Imam, den wir jetzt gefunden haben, stellt eine Kapazität dar. Er ist eine Bereicherung. Die Art, wie wir ihn gefunden haben, war auch eindrücklich: Wir haben den vorigen Imam gekündigt, weil es einfach nicht mehr gestimmt hat, sind ohne Imam dagestanden und wussten erst mal nicht weiter. Durch ?Zufall? (ich nenne es eine Fügung) sind wir an Youssef Ibram geraten, der gerade frei war... jemand von hier hat ihn in einer Moschee in Frankreich getroffen, wo er sonst um diese Zeit nie war? Solche Vorfälle zeigen einfach, dass es Qadr ist, dass es so sein musste und dass das Zentrum unter dem besonderen Schutz von Allah steht.
SAM: Was fehlt?
Laila Oulouda: Geld. In?scha Allah wird auch das kommen. Der Bau ist jetzt außen fertig. Ausständig ist noch der Innenausbau; es fehlt an Mobiliar, es ein Kinderspielplatz, der Inneneinrichtung des Gebetsraums, einige Verputzarbeiten müssen noch gemacht werden, der Architekt hat alles schon geplant... Alles Sachen, die man nicht zwingend braucht, die zu haben aber schön wäre. Sonst aber ist alles da, was man braucht. Das Zentrum läuft, es gibt Infrastruktur, Platz, keine Probleme mit den Nachbarn, keine negative Schlagzeilen...
SAM: Frau Oulouda wir danken sehr für das Gespräch und wünschen Ihnen und dem ImanZentrum alles Gute!
Unlängst ? am 1. Februar 2015 ? strahlte das Schweizer Radio eine Sendung aus, in der die Frage behandelt wurde, ob die drei ?Buchreligionen? Judentum, Christentum und Islam nicht auch bezw. viel mehr als HÖRRELIGION bezeichnet werden können. Die Antwort wies klar in die Richtung, dass dem Hören der Vorrang vor dem Geschriebenen zusteht ? unvorstellbar, eine gelebte Religion auf geschriebene Bücher zu reduzieren, Wohlklang in Rezitationen und Gesängen wegzudenken. Religionen wissen um die grundlegende Bedeutung des Klanglichen, man denke an das biblische "am Anfang war das Wort" oder den an die Israeliten gerichtete Befehl "höre und gehorche". Als Muslime kennen wir aus dem Heiligen Qur?an Allahs Befehl "Kun", der alles Seiende gemäss Seinem Willen in die Schöpfung rufen zu vermag (z. B. 36:82) und wissen auch, dass am Ende der Zeit, wenn das Universum wieder "aufgerollt" wird, ein Engel (`Izrafil) damit beauftragt ist, dies mit einer "Posaune" einzuleiten: Und es wird ein einziger "Schrei" sein? An vielen Stellen der Sure 36, Ya-Sin, finden wir solche Hinweise, zum Beispiel 36:29, sowie 36:49 ? 51.
Vor längerer Zeit, nämlich am 28. November 1981 sendete der Südwestfunk eine zweiteilige Hörsoiree. Joachim Ernst Berendts Nada Brahma. Die Welt ist Klang. Die Sendung erreichte ein grosses Publikum und löste über tausend Zuschriften aus. 1983 gab Berendt im Anschluss die Bücher Nada Brahma ? die Welt ist Klang und Das dritte Ohr. Vom Hören der Welt heraus. Dem ehemaligen Physikstudenten war es hiermit in seiner Funktion als Musikjournalist auf einmalige Weise gelungen, Wissenschaftliches mit archaischem Wissen zu verbinden, untermauert durch Klänge, sodass man hier ein tief berührendes und inspirierendes Hörerlebnis gewinnen kann, welches einen das eigene Vibrieren in einem schwingenden und er - klingenden Kosmos erahnen lässt. Es öffnet unsere Sinne hin zum Erspüren subtiler Zusammenhänge und Geheimnisse - Geheimnisse, die aus dem Grunde eines gesunden (das Wort ist mit dem englischen SOUND verwandt) Herzen unverwunden zugänglich sind - und die das Ohr ihm vermittelt. Man muss nicht unbedingt alle Schlussfolgerungen zu 100% teilen, zu denen Berendt kommt, um sich durch die "Reise", durch die er führt, beschenkt und beglückt zu fühlen.
Der Philosoph Peter Sloterdijk hat den philosophischen Tiefgang des Werks gewürdigt und seine Thesen "Universum als Musikinstrument" wie auch "Individuum als Manifestation des Universums" ausführlich besprochen. Berendt erhielt u. a. das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse (1984), die Ehrenprofessorwürde (1979), den Polnischen Kulturpreis (1970), den Kritikerpreis des Deutschen Fernsehens (1962) und zweimal den Bundesfilmpreis (1961).Seit 2012 verleiht die Stadt Baden-Baden den "Joachim-Ernst Berendt Ehrenpreis der Stadt Baden-Baden" im Rahmen eines Musikfestivals.
Berendt weist in einer Zeit einer wachsenden Informationsflut vornehmlich übers Auge, und deren überwiegend an den Sehsinn gekoppelten gedanklichen Verarbeitung auf ein Sinnesorgan hin, welches komplementär dazu ein ungleich breiteres Spektrum an Wirklichkeitswahrnehmung abdeckt, nämlich an das Ohr. Es ist dasjenige Organ im menschlichen Körper, an dem die meisten Nervenenden zusammenlaufen. Wir hören 7mal schneller, ausserdem um vieles exakter und unmittelbarer als wir sehen. Unser Hörsinn ist der empfindlichste unserer Sinne. Wir können Schwingungen hören, die kleiner sind als eine Lichtwelle, 10mal kleiner als ein Wasserstoffatom. 30`000 Nervenfasern und ebenso viele Haarzellen enden in der Cochlea, dem Innenohr. Das Gehör ist für die Aufrichtung des Menschen, einer ?Meisterleistung der Schöpfung?, von unerlässlicher Bedeutung, es bestehen ungleich mehr Nervenverbindungen zwischen der Wirbelsäule und dem Ohr als von ihr zum Auge, die Wurzeln des Rückenmarks hängen vom Vestibularzweig des Hönervs ab. Keine Bewegung entgeht der Kontrolle dieses Nervs - man kann daraus die Bedeutung von Klang für Motorik und Beweglichkeit des Körpers verstehen. Das Gehör ist zudem Voraussetzung für Sprache und Denken: die moderne Neurologie hat nachgewiesen, dass das Gehirn 90% der elektrischen Energie durch das Ohr empfängt! Der Hörsinn ist, enger als das Sehen, mit dem Herzen und so mit dem Fühlen verbunden ? schon Aristoteles stellte fest: ?das Gehör hat einen direkten Einfluss auf die Bildung des sittlichen Charakters, was für das Geschaute nicht unmittelbar gilt."
Im heiligen Qur´an finden wir, dass das Gehör durchwegs vor dem Sehsinn und meistens in engstem Zusammenhang mit dem Herzen erwähnt wird.*) Unser Prophet Muhammad, Friede und Segen Gottes sei auf ihm, allerdings, hat den Sehsinn wohlweislich als des Menschen "Liebstes" bezeichnet und demjenigen das Paradies versprochen, der seinen Verlust - die Erblindung - geduldig erträgt. Tatsächlich bestätigen auch aktuelle Studien, dass Menschen das Erblinden um vieles mehr fürchten als die Taubheit. Die reale Erfahrung zeigt allerdings etwas anderes: Menschen, die im Laufe ihres Lebens blind und taub wurden, empfinden den Verlust des Gehörs als das schlimmere Übel.
Innerhalb unseres Denkens nimmt das Visuelle, Formbezogene einen wichtigen Platz ein. Unter anderem beruht die Kunst der Dialektik darauf (?gerne? schwarz - weiss), jegliches Unterscheidende, Polare baut darauf: Standpunkte, Stellungnahmen, Weltanschauungen sie entstehen, indem wir verschiedene "Schattierungen" gegeneinander abwägen und ausspielen, sie zu "Bildern", Ideen, Ideologien formen. So gerne wir sie entwerfen und uns auf sie berufen, so zerbrechlich sind sie doch, aufgrund ihrer Bedingtheit, ihrer Abhängigkeit von einem komplexen, höchst dynamischen und wandelbaren Hintergrund, der weit über die situationsbezogenen, polaren Abstufungen hinausreicht und sich unserem Zugriff weitgehend entzieht.
Das Auge ist, so Berendt der "maskulinste, expansivste, agressivste" unserer Sinne. Da sich das Visuelle zudem der Projektion bedient, ein, wie Forscher des Gebiets wissen, ?dem Sehvorgang inhärenter Vorgang?, nimmt man Ungenauigkeit und Verzerrung im Zusammenhang damit unweigerlich in Kauf. In der Psychologie bezeichnet der Begriff "Projektion" ein Spiegeln eines seelischen Inhalts in ein Aussen, wodurch es in einen anderen Zusammenhang gesetzt und dem Eigentlichen entfremdet wird. Wir projizieren ständig ? als Individuum sowie als Kollektiv - und identifizieren uns mit verschiedensten Projektionen. Im Zeitalter der Bildschirme nun wird dem Visuellen eine zusätzliche Plattform gegeben, auf dem sich dieser Teil des Denkens weitgehend abgekoppelt "austoben" kann, wo wir ein Netz von Vorstellungen und Ansichten immer weiter ausbauen können, ohne dass dieses gleichzeitig der "Prüfung" durch die umfassende Wirklichkeit standhalten muss - im Gegenteil, es wird versucht, unsere Lebenswirklichkeit danach auszurichten - wodurch wir uns dem lebendigen, ganzheitlichen Hier und Jetzt zunehmend entfremden, ja, an unseren eigenen Konstrukten ernsthaft erkranken.
Schon Johann Wolfgang von Goethe, als ?Augenmensch par excellence" eingestuft, wusste: ?das blosse Anblicken einer Sache kann uns nicht fördern", der Philosoph Martin Heidegger sagt: ?Das Denken ist ein Blicken. Von beidem, vom Denken und vom Blicken gilt das gleiche ? es führt uns fort von uns selbst. Mit dem Denken (Blicken) begeben wir uns zu der Sache, die wir `anblicken´? Und Jean Paul Sartre stellte fest: ?Alle abendländische Philosophie ist eine Philosophie durch das Auge?. Dass Beobachtung vom Beobachtenden nicht zu trennen und dass eine Wahrnehmung der Wirklichkeit daher immer subjektiv sowie momentbezogen ist, hat wiederum die moderne Teilchenphysik offengelegt. Wir sind Teil dessen, das wir beobachten und der Vorgang der Beobachtung selbst schafft die jeweilige, "einmalige" Beobachtung! Ja, die Beobachtung kann mit dem Fragestellen verglichen werden und, wie man ebenfalls in der Teilchenphysik erfahren hat, was die Weisen aller Zeiten schon immer gewusst haben: "Die Unschärferelation lässt keinen Zweifel darüber, dass die Natur nicht dem Experiment (der Frage "an sich") antwortet, sondern DEM FRAGENDEN." Wir tun also gut daran, unsere Fragen - in jeglicher Hinsicht - ganzheitlich und mit Einbezug aller Sinne zu stellen, damit die Antworten sowie auf ihnen fussende Entscheidungen in der Tiefe greifen und wurzeln dürfen. "Frag, und es wird Tag": eine Weisheit, die ein sensibles, tief nach innen HÖRENDES Fragen voraussetzt.
?Das Auge markiert einen Endzustand ? das Ohr führt weiter?. Und: Das Auge führt den Menschen in die Welt das Ohr die Welt in den Menschen". (Lorenz Onken, deutscher Naturphilosoph). Übers Gehör sind wir, unmittelbarer als übers Auge mit dem Herzen verbunden und haben über dieses wiederum einen unmittelbaren Zugang zu Urformen der Schöpfung. Forschungen haben ergeben, dass das Herz dasjenige Organ mit dem weitaus grössten elektromagnetischen Feld ist (um vieles grösser als das des Gehirns) ja, manche erlauben den Schluss, dass gewisse Frequenzen universumübergreifend übers Herz um vieles schneller als in Lichtgeschwindigkeit - nämlich annähernd zeitgleich ? wahrnehmbar sind. Das Herz ? arabisch ?Qalb?- das sich (ständig) wendende - ist dem Dynamischen, Schwingenden und Tanzenden, dem Inneren Sein verbunden, während der "Endzustand", welchen das Auge und sein zugehöriges menschliches Denken umschreibt, zwar gerne als Vorzeigestück menschlichen "Könnens", menschlicher Macht herangezogen wird, jedoch, als Manifestation des Punktuellen, Starren, Unwandelbaren unausweichlich dem nahen Tod geweiht ist.
Schon der Philosoph, Naturwissenschaftler und Mathematiker Pythagoras hat ca 550 v. Chr. eine Theorie der ?Sphärenharmonie? aufgestellt, nach der jedes Ding seinen spezifischen "Klang" besitze und der Wissenschaftler Johannes Kepler, der zwar im 17. Jh. für seine astronomischen Erkenntnisse Berühmtheit erlangte, sich aber selbst vorrangig als Musiker verstand, hat dies bestätigt und in seinem Werk ?de harmonice mundi? (über die Harmonie der Welt) mathematisch nachgewiesen, dass die Planeten eigene klangliche Schwingungsmuster besitzen, zwischen denen Harmonien bestehen, was von der NASA in jüngerer Zeit aufgezeichnet und bestätigt wurde. Wir können also, wenn wir diese Tatsache tief in unserem Inneren "überprüfen", davon ausgehen, dass auch andere Lebewesen, ja, auch wir selbst und die Gemeinschaften, die wir bilden, "Schwingungsmuster" besitzen - man kennt das von Rupert Sheldrake angenommene Phänomen des "morphischen? (oder ?morphogenetischen?) ?Feldes" - in dem (oder als das?!) wir selbst "vibrieren" und über welches wir mit anderen solchen "Feldern" und "Mustern" verbunden sind, neue solche zu bilden vermögen.
Aus der Musik sowie aus der Forschung über das klangliche Zusammenspiel in den Sphären weiss man nun, dass Harmonien die weitaus häufiger im Universum vorkommenden sind und dass Disharmonien danach streben, sich in Harmonien aufzulösen! Auch Tiere lassen ein dem Menschen ähnliches Harmoniegefühl erkennen: Vögel und Wale, so stellte man fest, reagieren auf menschliches Falschsingen irritiert - sie hören auf, "mitzusingen", Pflanzen, denen verschieden "harmonische" Musik vorgespielt wurde, reagierten darauf ebenso verschieden. (Östliche Klänge sind der Favorit, Westliche Klassik mögen sie sehr, Hardrockmusik treibt sie in grösstmöglichste Distanz zur Emissionsquelle.) Dieses Harmoniestreben ist, in seiner engen Relation zum Mathematischen allem Anschein nach ein universelles und so auch eng mit dem Grundbegriff des "Schönen" verquickt, der von Plotin bis zu Heisenberg Naturwissenschaft, Philosophie und Religon des Orient wie Okzident durchzieht und in seiner Gestalt als universelle Forderung eint.
Harmonie also ein "Grundprinzip der Schöpfung", das "Klangliche" im weitesten Sinne möglicher - ja, vielleicht unbedingter Weg hin zu ihr? Wie dem auch sei, wir müssen hier sehr davor auf der Hut sein, eine möglicherweise in der Tiefe wurzelnde Wahrheit auf der Basis unseres Wünschens und Denkens kurzzuschliessen - auch Berendt warnt hiervor. Die offenkundige Harmonie sei uns zwar näher, die grundlegende, verborgene jedoch mächtiger, wie bereits Heraklit feststellte. So gilt das Ziel eigentlichen Hörens dem "Hören der Stille", sowie dem "Durchdringen durch die Offensichtlichkeit des Harmonischen". Sie, die Harmonie, ?dorthin zu tragen, wo wir sie noch nicht hören/sehen/schmecken und riechen können"!: ?Klang? also im Sinne einer Art von Urmuster des Seienden, das zuallererst in der Stille, in der Kontemplation, im Gebet zu suchen sei? Letztendlich als Manifestation eines "Tanzes" und ?Gesanges? zum Lob Gottes?
Im Islam kennen wir einen sehr vorsichtigen Umgang sowohl mit Musik als auch mit anderen Arten ?kurzschlüssigen Harmoniebestrebens". Gesellschaftliche Regelungen des Verbots sowie spirituelle Praktiken des Verzichts können durchaus auf solchem Hintergrund reflektiert werden. Aber auch die Pflege des guten Umgangs unter den Menschen, die Bildung gesunder (?sounder"..) Gemeinschaftswesen und die Stärkung des Individuums sowie der Zivilgesellschaft im Sinne eines möglichst umfassenden ERKLINGENS jedes einzelnen ihrer Elemente bei gleichzeitiger Verwurzelung im Göttlichen kann aus dieser Perspektive gut nachempfunden werden.
Wir sind mit Sicherheit in einer Zeit angelangt, in der wir uns vom Urgrund weiter entfernt haben, als je zuvor. In der das Sehnen nach einem Wiederverbinden mit der allem zugrunde liegenden, mächtigen Harmonie schmerzhaft spürbar werden kann. Re- ligion ist die Basis, auf welcher diese (Wieder - ) Verbindung stattfinden kann - das Arabische Wort dafür, DIIN bezieht sich auf das Transaktionsmuster, welches unserem Umgang mit dem Schöpfer wie den Geschöpfen zugrunde liegt. In dieser Zeit, in der ? angeheizt durch ein entsprechendes Wirtschaftssystem ?der "Pool der Experimentiermöglichkeiten" immer weiter ausgeschöpft wird und damit einhergehend, die Etablierung der ?menschlicher Macht" ? auf der Grundlage eines sich rasant weiter verzweigenden, verfeinernden Geflechts von Standpunkten und Ideen, Ideologien und Polemik, sowie politischen und wissenschaftlichen Weltbildern immer neuen Raum schafft, insgesamt immer aufgeregter an der Oberfläche eines Geschehens "blubbert", welches uns in seinem Kern zunehmend zu entgleiten, dessen eigentliche Wirklichkeit sich uns Schicht um Schicht zu verhüllen droht, täten wir gut daran, die Prioritäten neu zu setzen, unseren DIIN neu zu begreifen und zu beleben. Unmöglich, ohne zum einen die Massstäbe wieder gerade zu richten und das bedeutet für uns Muslime zuallererst nichts weniger, als sich vorrangig an der Gottesfurcht ? arabisch Taqwa ? sowie an der Gottesliebe und der Liebe zu unserem Propheten s.s. auszurichten. Unmöglich auch, ohne Einbezug aller unserer Sinne und ohne das demütige Eingeständnis, dass sämtliche Antworten, die wir zu geben vermögen, nur - momentbezogene - Ausschnitte widerzuspiegeln vermögen. Unmöglich daher, ohne dem (fragenden) Hören wieder mehr Raum zu geben, unsere Fragen in Gebete und unser Hören in Lobgesang münden zu lassen. Unmöglich auch, ohne Räume zu schaffen, in denen "Klangnyancen" in allen ihren Variationen wieder vielfältig zur Geltung kommen dürfen.
Das ?Erklingen? selbst allerdings liegt gänzlich in anderer Hand - Hildegard von Bingen drückte das im 12. Jahrhundert so aus: "Es sind die Menschen Gefässe von Ton. So laut sie ihre Geheimnisse auch hinausschmettern mögen, sie sind wie eine Posaune, die den Ton nur erklingen lässt, ihn jedoch nicht selber bewirkt, in die vielmehr ein anderer bläst, damit sie ertöne. So möge ich denn erklingen wie eine Posaune aus lebendigem Licht."
Oder, in den Worten unseres Zeitgenossen Peter Sloterdijk: "Für den, der wirklich sieht, ist das Auge ein Ohr des Lichts".
Wir begehen nun wieder einmal den heiligen Monat Ramadan, enthalten uns dadurch tagsüber des Essens und Trinkens. Werden dadurch zu ?leeren Gefässen?, die sich neu befüllen, neu ordnen lassen.
Der Heilige Qur'an ist dasjenige Wunder, über welches uns in Struktur, Inhalt und Klang Schönheit, Harmonie und Wahrheit aus Göttlicher Quelle erreicht. Lasst ihn uns lesen, laut rezitieren es soll uns das Wunder in dieser gesegneten Zeit tief berühren, erfüllen, wandeln!
SAM: As Salamu aleikum. Liebe Frauen, Ihr trefft Euch regelmässig in dieser grössten Moschee im Raum Zürich. Was motiviert Euch, in die Moschee zu kommen?
Iman (aus Palästina): Das Lernen , Beten und die anderen Schwestern treffen, Erfahrungsaustausch
Safiyya (Schweizerin) : es ist ein Gotteshaus...
Alima (aus dem Kosovo): Die Schule ist für unsere Kinder wichtig. Hier ist der Unterricht in Deutsch und meine Kinder verstehen Deutsch am besten. In meiner Sprache hatten sie auch Unterricht aber da ist nicht so viel hängengeblieben.
Albena (aus Volketswil/Kosovo) Was ich hier gut finde ist, dass diese Moschee nicht abhängig von einem bestimmten Land ist. Die meisten anderen Moscheen sind an der Nationalität ihrer Besucher ausgerichtet ? sind ?bosnische?, ?türkische?, ?albanische? ?arabische? Moscheen. Hier ist ein Platz für alle Muslime, egal woher man kommt. So lernt man auch Muslime anderer Kulturen kennen, lernt etwas über ihr Leben in ihrer jeweiligen Heimat, wie ist man hierhergekommen, wie findet man sich zurecht. Ich finde es schön, sich darüber auszutauschen.
Safiyya: Ich finde es gut, dass man sich hier auf gleicher Ebene gegenübersteht, sich selbst sein kann, wie man ist. Obwohl ich nicht wirklich Probleme mit den Menschen ?draussen? habe, wird man doch manchmal angegriffen....Hier kann man sich austauschen, Problemlösungen gemeinsam suchen, das Zusammensein tut einfach gut.
SAM: Trefft Ihr Euch auch ausserhalb der Moschee?
Safiyya: Es kommt natürlich darauf an wo man wohnt, als Nachbarn trifft man sich eher.
Sonja (Schweizerin): oder man nützt die beruflichen Qualitäten anderer Frauen, z. B. Therapeutinnen, Coiffeusen etc. Hier ist es so ? man kennt sich, is aber nicht unbedingt ?beste Freundinnen?. Aber man hat hier Gemeinsamkeiten, die man vielleicht ausserhalb nicht hätte. Es können sich auch Freundschaften entwickeln, die hier entstanden sind.
Alima: Immerhin trifft man sich regelmässig, am ersten Sonntag im Monat und freut sich immer wieder darauf.
Laila: Ich habe keine Familie hier und drei Kinder, für uns ist so ein Ort wichtig.
SAM: Wie würdet Ihr das beschreiben, was muslimische Frauen verschiedener Herkunft verbindet und eint?
(Alle) : Der Glaube, der Islam.
Conny (Schweizerin, Vorstandsmitglied): Alles andere wird auf dieser Basis ganz spannend. Man kann vieles dazulernen, egal ob´s ums Kulinarische geht oder um viele andere Aspekte der Vielfalt.
Laila (aus dem`Irak): Es gibt Vielfalt aber im Islam sind wir eins.
SAM: Könntet Ihr Euch vorstellen, dass die Beziehungender Frauen untereinander ein wichtiger Beitrag zum Zusammenwachsen der muslimischen Gemeinschaft darstellen?
Allgemeine Zustimmung.
Alima: Ich finde schon, dass die Frauen einiges steuern. Wir organisieren hier vieles, wie Familienausflüge, am Jum´a Kuchen backen für Sammelaktionen, Frauen sind sehr wichtig in der Gemeinschaft. Viele Dinge, die Frauen organisieren, würden die Männer nie machen.
Albena: Die Männer beschweren sich manchmal, dass wir Frauen mehr machen, dass es keine ?Männertreffs? gebe ? da kann man nur sagen, organisiert Euch halt auch selbst mal..... Ich glaube, die Frauen sind organisatorisch einfach besser. Speziell in dieser Moschee ist es glaubs so, dass der Frauenteil sehr stark und sehr stützend in der Organisation der Moschee ist.
Safiyya: Ich finde allgemein kann man heute den Zusammenhalt der Muslime nicht wirklich als ?stark? bezeichnen. Ich weiss nicht wo die Problematik dabei wirklich ist aber jeder will irgendwie sein eigenes ?Ding? machen, das schwächt auch die Ansätze hier in der Moschee. Solange wir nicht unseren Fokus mehr auf Allah richten ist Neid, Eifersucht und Fitna schon ein grosses Problem . Da sind wir noch ziemlich am Anfang, glaub` ich...
SAM: Könnte es sein, dass ein Ort wie dieser es erleichtert, Dinge auf einen (praktischen) Nenner zu bringen?
Safiyya: Als ?Realist? und ohne damit allzu negativ sein zu wollen ? ich sehe das nicht wirklich so. Ich glaube, es muss zuerst noch viel an Persönlichem gearbeitet werden, das kann die Gemeinschaft nicht ?machen?....
Conny: Ich glaube schon, dass wenn Gemeinschaft zustande kommt, die Persönlichkeit sich dadurch auch ändert. Dass man dabei gegenseitige Akzeptanz lernt, nicht nur das Eigene durchzusetzen...
Safiyya: Es kommt auf die Beteiligten an... wenn man sich jüdische Gemeinschaften ansieht, scheint es dort ? auch finanziell - besser zu funktionieren.
Su'ad (aus Algerien ): überall gibt es diese Problematik, das ist allgemein ein Problem.
Albena: Aber es ist ein guter Anfang, dass man so eine Gemeinschaft hat. Wir können nicht alles auf einmal ändern, aber ich finde es gut, dass es hier mal so eine Gemeinschaft gibt, wo alle hinkommen können, nicht länderspezifisch. So lernt man, das Andersartige mal zu akzeptieren, andere Lebensformen und so geht das dann Schritt für Schritt weiter. Stufe für Stufe, in sha Allah.
Sonja: Mir kommt dazu das Stichwort ?Übungsfeld? in den Sinn. Du sagtest, man trifft sich, lernt sich in seiner Andersartigkeit kennen und hat gleichzeitig doch das Verbindende . Man trifft sich über einen längeren Zeitraum, weiss, hier ist eine Art ?Zuhause? zum Lernen und Sich - Austauschen. Indem das jedem persönlich etwas gibt, wird daraus auch etwas, das die Gesellschaft ändert; man kann nicht die Gesellschaft als Ganzes ändern aber jeder Einzelne kann stetig etwas dazulernen. Man kann sagen, wir sind ?Multiplikatorinnen?, erzählen unseren Kindern unserem Mann, multiplizieren so das Erlebte und tragen es nach Draussen, ins Berufsumfeld, zu den Nachbarn...
Safiyyah: Also wenn man sieht, wieviele (nämlich ?megawenige?) aus unserer grossen Gemeinschaft bei den Veranstaltungen, die von Laila (der Vereinspräsidentin IGVZ Laila Oulouda) organisiert werden, erscheinen, wie z. B. zu den Vorträgen von Mohammed Johari, zeigt das mir doch, dass vieles noch nicht gereift ist.
Conny: Man muss natürlich sehen, dass das alles noch relativ jung ist... Alima: Allgemein ist es nicht einfach, Leute hierher zu bringen, einige wohnen nicht in der Nähe, andere haben andere Verpflichtungen... Auch wenn wir für die Frauen etwas organisieren ? das ist ein grosser Aufwand mit Werbung etc. nur schon für kleine Anlässe. Wie man die Leute bei grösseren Veranstaltungen herbringen kann, weiss ich auch nicht...
Conny: Ich glaube, einfach dranbleiben und darauf vertrauen, dass es wächst.
Alima: Die Leute müssen sich erst mal daran gewöhnen, dass es ein Angebot gibt, das man nutzen kann.
Conny: und es braucht ein Umdenken. Es läuft hier anders, Deutsch ist die ?Grundsprache?, Ankündigungen werden auf Deutsch gemacht. Man trifft sich hier nicht nur mit ?seinen eigenen Leuten? - das braucht vielleicht oft einen gewissen Anlauf, das geht über Jahre....
SAM: Könnte es sein, dass man mehr Gewicht auf Praktisches legen sollte, dass die Leute etwas ?theoriemüde? sind? Oder dass man vielleicht beides zu verbinden sucht?
Conny: Also deutsche Vorträge über den Islam hat es bis jetzt noch nicht so viele gegeben.
Alima: Problematisch ist es auch, wenn man mehrere Kinder hat.... besser wären vielleicht kürzere Vorträge, höchstens 1, 2 Stunden, mit organisiertem Kinderhütedienst...
Sonja: Ich finde, man darf nicht Theorie und soziale Events gegeneinander ausspielen. Wir sind ja nicht ausschliesslich sozial ? es soll ja schon für jeden möglich sein, auf seine Weise im Glauben weiterzukommen. Und da geht es um beides. Ich gehe gerne am Dienstagabend in den Dars von Shaikh Youssef und bin sehr froh darum, dieses Angebot nutzen zu können, denn das ?organisiert? die Informatiosflut in meinem Hirn. Das ist ein anderes Themenfeld, ein anderer Motivator als der Frauentreff, wo wir uns über persönliche Sachen austauschen. Für mich braucht's wirklich beides.
SAM: Wie geht Ihr mit den Differenzen um, die die muslimische Welt durchziehen, sei´s auf politischer oder auf "religiöser" Ebene - das heisst, auch mit mit der verschiedenen Auslegungen von religiösen Details inmitten dieser Vielfalt?
Safiyya: Ich respektiere andere Meinungen.
Conny: Es gibt schon viele kleine Sachen, die je nach Nation verschieden gemacht werden, was nicht leichtfertig als ?haram? abgetan werden kann, sondern wo man zuerst einmal abklären muss, woher das kommt und so lernt man dazu. Die einen sind von dieser, andere von einer anderen Rechtsschule geprägt, man kann da einiges lernen, ich glaube, das bringt die Muslime innerhalb der Gemeinschaft was Akzeptanz betrifft, weiter. Safiyya: Problematisch ist auch oft, dass viele sich als Wissend, als Gelehrte darstellen, die eigentlich kein Wissen haben. Es wird Wissen aus dem Internet eingebracht, da muss man aufpassen....
SAM: Welche Instanz ?korrigiert? das?
Safiyya: Der Imam der Moschee, der ja die Rechtsschulen kennen muss. Es gibt aber immer Diskussionen über die verschiedenen ?Richtungen?, keiner will vom ?anderen? etwas nehmen, der hat da oder dort studiert, von dem lasse ich mir schon gar nichts sagen....
Alima: Es gibt ja unbestreitbar mehrere Auslegungen im Islam. Man strebt danach, für sich das richtige, stimmige zu finden. Man sollte jedem seinen Weg lassen. Ich selbst bin im Islam geboren aber weiss noch vieles nicht, lerne tagtäglich. Man sollte sich davor hüten, andere zu verurteilen, das und jenes einzuordnen . Dinge wie ?du trägst dein Kopftuch falsch? haben hier nichts zu suchen.
SAM: Was bedeutet die Moschee für die Kinder? Gehen sie hier in die Schule? Kommen sie gerne?
Sonja: meine Kinder können aufgrund der Distanz zur Moschee nicht regelmässig kommen. Bei uns beschränkt sich die islamische Erziehung auf das, was wir zuhause mitgeben können. Aber wenn es die Möglichkeit gibt, im Zusammenhang mit einer Aktiviät mit anderen muslimischen Kindern zusammenzukommen, kommen sie immer sehr gerne. Sie fühlen sich wohl hier.
Albena: meine Kinder gehen hier in die Schule. Ich finde das ein gutes Angebot, von Kindergarten bis sechste Klasse und das wird schön nach Alter unterteilt, man hat die Wahl zwischen Mittwochnachmittag und Samstag; ich nutze den Mittwochnachmittag. Manchmal ist es in bisschen viel für meine Kindern, weil sie ja neben der Schule auch noch Fussballtraining haben etc.... Aber wenn sie dann nachhause kommen, haben sie das schon wieder vergessen, alles war super, sie erzählen vom Gelernten...
Safiyya: Mein Sohn ist 5 er geht nirgends in eine arabische Schule. Für ihn ist die Moschee Gebetsort, wir kommen oft zum Freitagsgebet, wo sein Vater oft die Khutba macht, da hört er gerne zu.... er spürt und erfährt hier das muslimische Gemeinschaftsleben, auch zum Beispiel bei 'Id ? Feierlichkeiten, das ist mir wichtig.
SAM: Seid Ihr zufrieden mit der Infrastruktur der Moschee?
Alle: ja, seeeehr!
Safiyya: ich finde nur, es fehlt noch etwas, ein Anliegen habe ich...
Alle: jetzt kannst Du's rauslassen, bring´s an...
Safiyyah: ich finde, es fehlt unbedingt die Möglichkeit zu sportlicher Aktivität, zur Fitness für Frauen mit Kopftuch! Ich weiss nicht, ob man das hier einbauen könnte oder ob wir nebendran eine kleine ?Hütte? dafür bauen könnten, mit Sauna.....
Alima: eine Wohlfühloase....
(Gelächter...)
Safiyyah: ein kleines Dorf, mit Häusern, Wohnungen, ein Bauernhof, alles schon geplant....
Alima: jetzt mal im Ernst: die Infrastruktur ist hier sehr gut, es ist schön gemacht, rollstuhlgängig, wir haben einen guten Wudhubereich, es ist auch alles gut gemacht und es fehlt an nichts.
SAM: Wie seid Ihr zufrieden mit der Leitung und Organisation des Betriebs? Was könnte daran verbessert werden und was würde jede von Euch beisteuern, welche Ressourcen könnten besser ausgeschöpft werden?
Safiyya: Ich wünschte mir allgemein nicht mehr aber mehr Qualität im Angebot, ein besseres Miteinander "fi Sabili Llahi". Das ist nicht einfach, jeder hat seine eigenen Vorstellungen, man hat Familien, etc. aber so könnte man vielleicht doch einiges mehr auf die Beine stellen, einen Putzplan erstellen etc., In einer anderen Moschee waren zum Beispiel die Aktivitäten organisiert: eine Gruppe, die Gefängnisbesuche macht, eine für Totenwaschung, etwas für den Morgen, etwas für den Abend. Eine richtige Struktur und Einteilung und das hat funktioniert.
Conny: Das grosse Problem ist, Leute zu finden, die da nachhaltig mitarbeiten.
Su'ad: Engagierte Leute sind schon viele da. Aber Diese Moschee in Zürich war halt in der Mitte der Stadt und es war nicht so gross....
Conny: Genau, es braucht halt sehr viel hier und wir sind eigentlich wenige, die aktiv sind. Zum Putzen allerings kommt ein Putzinstitut, so ein grosses Zentrum braucht das einmal in der Woche....
Alima: Es ist ja nicht nur Moschee - Gebetsraum - hier, sondern ein Zentrum, sehr gross verglichen mit anderen ähnlichen Orten. Das alles sauber zu halten, zu unterhalten, das braucht viel an Organisation und Zeit.
Su'ad: Ich kenne viele Leute, die in diese Moschee kommen möchten, es ist aber mit den öffentlichen Verkehrsmitteln nicht einfach zu erreichen. Vielleicht aber könnte man Muslime damit beschäftigen, die Arbeit suchen, etwas Geld verdienen wollen und gleichzeitig könnte das Zentrum so etwas einsparen?
Alima: Der Verein und die Stiftung arbeiten ja Hand in Hand. Es ist aber dennoch nicht so einfach, das alles zu organisieren, man kann auch nicht den Leuten nachrennen, die putzen sollten, das muss gut organisiert sein, wenn es um Dinge geht, die regelmässig gemacht werden sollen, da muss man schon dahinter sein. Kleinere Arbeiten können schon mal an einzelne vergeben werden.
Conny: Es kommt natürlich schon ein Putzinstitut zum Putzen, so ein grosses Zentrum braucht einfach ein Putzinstitut.
SAM: Habt Ihr das Gefühl, es besteht eine gute Zusammenarbeit mit den Männern? Ihr habt eine Vereinspräsidentin....
Conny: Wir haben eine Präsidentin und hatten auch schon mehr Frauen als Männer im Vorstand, das hat sich einfach so ergeben.
SAM: Hat das einen Einfluss auf die Kommunikation untereinander?
Conny: Würde ich schon sehr meinen. Zwangsläufig muss so der Kontakt viel intensiver sein.
Safiyya: die Frauen werden hier gut behandelt - nicht wie in manchen Moscheen, wo man ganz anderes erleben kann.
SAM: Werdet Ihr mit einbezogen, informiert, habt Ihr das Gefühl, dass es auch Euer Projekt ist, Eure "Plattform", wo Ihr Euch einbringen könnt?
Alle: Ja, durchaus.
Albena: Wir werden gut informiert. Es wäre vielleicht auch manchmal an uns gelegen, dass man (auch finanzielle) Hilfe anbietet oder Ideen einbringt. Die Organisatoren geben sich sehr Mühe aber man muss auch von unserer Seite spüren, dass wir auch wollen.
Safiyya: Wir haben einmal eine kleine Frauengruppe gebildet und einige Aktivitäten gestartet, das war sehr gut, ist gut gelaufen. Also man kann, wenn man will....
SAM: Wie steht es mit der Jugendarbeit?
Safiyya: Ich habe mich einmal angeboten, da etwas auf die Beine zu stellen, allerdings wird so manches Angebot auch nicht wahrgenommen. Alima: Dann muss man halt vielleicht später nochmals darauf zurückkommen, vielleicht stimmt der Zeitpunkt grad nicht...
SAM: Aber müssen da nicht vor allem die Jugendlichen selbst die Initiative ergreifen?
Safiyya: Oft blockieren die Erwachsenen sie mit zuviel "Strenge". Alles mögliche ist "haram" und die Art, auf die das mitgeteilt wird, stösst vor den Kopf. Daran müsste man wirklich arbeiten, hier müsste man umdenken. Die verschiedenen Kulturhintergründe dürfen da nicht so im Vordergrund stehen, man muss auf aktuelle Bedürfnisse eingehen, einladen. Leider erscheinen zu Vorträgen über Erziehung etc. oft diejenige, die es angehen würde, nicht. Ich wäre in meiner Situation sehr froh um einen bessere Einbindung der Jugendlichen.
SAM: Es sollten sich also diejenigen, die Wissen und erzieherische Fähigkeiten haben, den Jugendlichen als Gegenüber anbieten, das auch aktuelle Gegebenheiten mit berücksichtigt.
Safiyya: Ja, und alle Beteiligten sollten ihre erzieherischen Ambitionen allgemein etwas herunterschrauben, den Jungen nicht ständig dreinreden... sie sind immerhin da!
Alima: Vielleicht die Jugendlichen mehr einbeziehen, als Kinderhütedienst, etc., das erweist sich oft als sehr erfolgreich, vor allem, wenn sie etwas dabei verdienen können. Letzthin gab es in der Moschee eine Sammelaktion. Meine Tochter wollte zuerst nicht mithelfen. Als ihr aber dann Verantwortung übertragen wurde, hat sie ohne "wenn und aber" mitgemacht und war anschliessend ungemein stolz auf das Geld, das sie einsammeln konnte, ist total motiviert nachhause gegangen.
Su'ad: Die Frage ist auch immer die nach der Durchmischung von Mädchen und Jungen, die sollte in einer Moschee nicht sein.
(Aufgeregte Diskussion, sehr verschiedene Ansichten dazu, man kommt zu keiner Einigung.)
SAM: gibt es einen Austausch von der Moschee her zur nichtmuslimischen- Aussenwelt?
Alle: Ja, durchaus! Es gibt Führungen durch die Moschee, auch für Firmen, Schulklassen können kommen, es gibt auch den Tag der offenen Tür, der viele Besucher anzieht.
SAM: Was müsste sich verändern, damit das Leben von Muslimen im Lande lebendiger, greifbarer, "ganzheitlicher" wird und könnte diese Moschee einen Ausgangspunkt dafür darstellen?
Alima: Mir wäre es ein Anliegen, dass die verschiedenen Moscheevereine mehr zusammenarbeiten, einheitlicher würden, es gibt so viele Moscheen, überall verstreut. Da müssten zuerst einmal die Gelehrten daran arbeiten, dass sie einen gemeinsamen Nenner finden, dann würde die "Basis" auch eher mitziehen. Ein Übel ist auch das Einbringen von Internetwissen, welches sich verbreitet, das behindert das Zusammenwachsen.
Safiyya: Ich fände es schön, wenn wir einen islamischen Sender hätten, nicht nur Radio, auch Fernsehen...
Alima: Dafür müssten die Muslime eben verstärkt zusammenwachsen. Ansonsten scheitert es schon am Gesuchstellen.
Albena: Probleme gibt' s auch auf sprachlicher Ebene. Viele Gelehrten der älteren Generation können zuwenig Deutsch, um aufzutreten.
Conny: Ich finde, die Schönheit des Islam muss die Muslime wieder erfassen; nicht irgendeine "Kultur", sondern die Schönheit! Dann gibt es automatisch nicht mehr diese Spaltung unter den Muslimen. Dann wird diese Schönheit auch die nichtmuslimische Gesellschaft erreichen, in der wir leben.
Mit ihrem Buch ?für ein besseres Miteinander? geht es Esther Fouzi um einen ?Insiderbericht? aus der Sicht eines ?gewöhnlichen Muslims, von Du zu Du, mit einer Terminologie, die auch von Menschen ohne Hochschulabschluss verstanden wird?. Ein Buch, das ?Ängste abbauen, Verständnis fördern sowie zum Nachdenken anregen? will, das ?nicht den Anspruch erhebt, für alle Muslime zu sprechen?, hingegen der Herausforderung entspricht, mit der wir uns täglich konfrontiert sehen, ?Antworten auf Fragen zu geben, die man muslimischen Nachbarn, Bekannten oder Freunden stellen möchte?.
SAW: Esther Fouzi, ich freue mich, mit Ihnen dieses Gespräch führen zu dürfen. Sie bieten mit Ihrem Buch eine im Ansatz sehr persönlich gehaltene Begegnung auf Augenhöhe, schreiben explizit aus Ihrer persönlichen Sicht. Welche Resonanz haben Sie bis anhin bekommen?
Esther Fouzi: Von denen, die es gelesen haben - meist Muslime - habe ich nur positive Reaktionen bekommen. Gerade das Persönliche hat gefallen. Was anfangs etwas irritieren könnte, ist die ?volksnahe? Sprache im Vergleich mit anderen Schriftstellern. Die Botschaft kommt so aber unmittelbarer an. Ich habe oft gehört "in weiten Teilen haben Sie mir aus dem Herzen gesprochen". Gefallen hat vor allem, dass keine "Besserwisserei" herüberkommt und dass Missstände auf beiden ?Seiten? angesprochen werden.
SAW: Sie nennen den ?übermächtigen Drang, auf die falschen Anschuldigungen Antworten zu finden? als Motivator zum Schreiben. In Ihrem Buch sind Sie nach einer Darstellung Ihres persönlichen Werdegangs, auf Glaubens/ Aqida- fragen sowie auf Rechtsfragen (?Scharia?/Fiqh) eingegangen. Das Thema Integration, das Frauenthema, die Unterstellung der ?Gewalt und des ?Terrors im Islam? ? nichts haben Sie ausgespart. Auf welche Weisen können wir uns als Einzelpersonen für diesen anspruchsvollen Dialog ?rüsten??
Esther Fouzi: Wichtig ist sicher der persönliche Kontakt und Austausch. Können wir uns als Nachbarn, Freunde, Vereins- und Berufskollegen begegnen, ist schon vieles an Vorurteilen darüber entkräftet, wie "DER" Muslim ist, denn dann sieht man den Menschen dahinter. Mir kommt vor, es ist das A und das O, dass man sich nicht zurückzieht, Einladungen folgt, auch z. B. bei interreligiösen Veranstaltungen. Und wenn wir von "Rüsten" sprechen, ist es natürlich unablässig, sich über seine Religion Wissen anzueignen, um Antworten zu geben können. Wir sind, ob wir wollen oder nicht, "repräsentativ" für den Islam und werden als Muslime allesamt als "Experten" gesehen, obwohl wir das nicht sind - aber wir sind Ansprechpartner im Alltag.Viele Fragen seitens der Nichtmuslime betreffen ja Belange, die uns selbst beschäftigen, auf die wir für uns selbst Antworten finden sollten.
SAW: Als Minderheit in der pluralistischen Gesellschaft ist also vor allem unsere Sozialkompetenz gefragt, sowie gewisse Kenntnis religiöser Inhalte. Unser politischer Handlungsspielraum bleibt - durchaus auch aus islamischer Perspektive ? auf den Rahmen und die Bedingungen der Mehrheitsgesellschaft beschränkt. Die Praxis der allermeisten Muslime im Land zeugt von ebensolcher Sichtweise. Warum wird dennoch alles, was mit Islam zu tun hat, auf die politische Bühne gezerrt, warum will man uns ? im Gegensatz zu anderen Religionen ? sogar in religiösen Belangen hineinreden?
Esther Fouzi:Ich könnte mir schon vorstellen, dass das eine "sicherheitspolitische Dimension" hat ? insofern, als die Anschläge gewisser Muslime doch in die Gesellschaft eingreifen. Man versucht dann über politischem Weg, das Recht zu gewährleisten, Sicherheit zu schaffen. Solche aufrüttelnde Vorfälle sickern ins Bild über den Islam, den man als teilweise gewalttätige Religion wahrnimmt, die man dann durch politische Mittel "zurückstutzen" möchte, sodass man sich wieder sicher fühlen kann. Die Diskussionen über Kopftücher, Burkas, Minarette sind eigentlich Stellvertreterdiskussionen. Man befürchtet, dass die Muslime doch noch eines Tages "ihren Staat" verlangen und bekommen können - und die Scharia ist ja so, wie sie gegenwärtig politisch und strafrechtlich umgesetzt wird, oft eine einzige Abschreckung, Gerechtigkeit und Menschenrechte werden nicht beachtet. Ich glaube, die Leute haben einfach Angst. Angst, dass, wenn die Muslime sich vermehren, es irgendwann "kippt". Ich sehe das eigentlich als eine sehr weit hergeholte Angst - aber Angst ist ja nie rational. Dazu spielt auch die Verteidigung eigener Wertvorstellungen eine Rolle, die man schützen will. Ausserdem wird wahrscheinlich einiges aufgebauscht, damit gewisse Parteien und Politiker sich profilieren können, als solche, die die Ängste der Bevölkerung ernst nehmen, sie zu schützen und aktiv zu handeln verstehen, wobei man sich natürlich fragen kann, wieweit z. B. ein Kopftuch - Burka - oder Minarettverbot (in der Schweiz) hier hilfreich ist - es wird ja auch explizit gesagt, man wolle "Zeichen setzen". Vieles ist also ?symbolisch? - bedeutet andererseits doch einen Eingriff in die Religionsfreiheit der Muslime und ist diskriminierend.
SAW: In Ihrem Buch kann man durchaus auch Kritik an den Muslimen lesen. Inwiefern sehen Sie in der gegenwärtigen herausfordernden Situation für uns auch Vorteile im Sinne einer möglichen Belebung unseres Din(Religion)?
Esther Fouzi:Ich sehe hier eigentlich wirklich viel an Potential. Wir werden wachgerüttelt durch Anschuldigungen - das ist im Moment nicht angenehm, zwingt uns aber, uns mit der eigenen Religion und Religiosität auseinanderzusetzen. Zwingt uns Vergleiche zu ziehen, zwischen Glauben und Gebräuchen hier und dort, zwingt, Traditionen zu hinterfragen und sich so auf die Quellen zu besinnen und zu versuchen, das Leben bewusster zu gestalten. Ich sehe es als Chance, schädliche Gebräuche und Gewohnheiten ein- für allemal abzuschaffen. Es liegt an uns, etwas daraus zu machen.
SAW: Sie wünschen sich (S 168) ein ?Neudurchdenken? auf der Ebene des Fiqh, ein ?neues Schöpfen? aus den alten Quellen ? vor allem auf Basis des heiligen Qur?an. Man kann in Ihrem Buch eine gewisse Skepsis gegenüber traditionell erarbeiteten, ? auch über Jahrhunderte bewährtem - lesen, vor allem auch der Auslegung der Sunna - bis hin zu den anerkannten 4 sunnitischen Rechtsschulen. Sehen Sie in solchem Vorgehen nicht die Gefahr der völligen Beliebigkeit eines ?erneuerten Islam?, aufgrund der Tatsache des gegenwärtig weltweiten Fehlens einer gesunden, umfassend gelebten islamischen Praxis? An welchen Parametern sollte gemessen, ?aussortiert? werden, auf welchem Boden sollten wir bauen?
Esther Fouzi:Erstens: Meine Kritik richtet sich an das, was im Argen liegt, nicht an das, was sich bewährt hat. Als Grundlage wäre unbedingt diejenige der Gottesfurcht zu nennen als Voraussetzung für die nötige Sorgfalt und Verantwortlichkeit bei der ehrlichen Suche nach Verständnis der Gebote und dem Willen Allahs und ihrem Ziel dahinter sowie beim Erlass von sinnvollen Gesetzen. Man muss verschiedenen Sichtweisen besprechen und dies muss natürlich mit dem nötigen Hintergrundwissen getan werden, von Experten die sich in der Geschichte, in den islamischen Wissenschaften, im Fiqh auskennen, die aber auch bereit sind, Aktuelles zu überdenken und mit einzubeziehen. Die Gefahr der Beliebigkeit, muss ich sagen, war schon immer gegeben, seit 1400 Jahren, Einigkeit gab es auch unter den ersten Muslimen nicht, es haben sich gewisse Denkweisen durchgesetzt. Ich habe ja auch die Begründer der Rechtsschulen zitiert, die selbst sagten, man solle ihnen nur dann "folgen" wenn man ihre Urteilsfindung nachvollziehen und gutheissen kann ? auch sie haben die Leute davor gewarnt, Urteile unhinterfragt zu übernehmen. Ich denke, das ist irgendwann verlorengegangen. Man sagt heute einfach, die Rechtsschule sagt das und das und keiner weiss mehr, wie denn die Vertreter der Schule zu ihren Schlüssen gekommen sind. Es fühlt sich manchmal an, als ob uns Einzelnen die Religion ein Stück weit weggenommen worden wäre und dann verändert zurückgegeben wird. Ich denke, es muss auch für Laien möglich sein, nachvollziehen zu können, wie man zu Schlüssen gelangt ist und im Recht, gerade im Strafrecht finde ich es wichtig, die aktuellen Möglichkeiten und Gegebenheiten mit einzubeziehen sowie allgemein offener für die Notwendigkeit zu werden, Antworten auf Fragen unserer Zeit zu finden. Antworten auf anspruchsvollere, drängendere Fragen, als ob Donald Duck gesehen werden darf - weil er keine Unterhosen anhat, oder wie blickdicht die Strümpfe der Frau (beim Gebet) sein sollen.
SAW: Es wird uns Muslimen immer wieder eine "regressive Haltung" vorgeworfen. Wie sollen wir vorgehen, um den vielschichtigen Anforderungen der Zeit zu entsprechen, den ?Faden neu aufnehmen? ohne gleichzeitig altbewährtes achtlos über Bord zu werfen?
Esther Fouzi: Es ist schwierig, als Einzelperson hierauf eine Antwort zu finden. Auf jeden Fall die Leitsätze des Qur´an im Auge behalten. Da geht es um das Wohl der Gemeinschaft, dann geht es um Verwirklichung von Gerechtigkeit, es geht darum, dass der Mensch durch das Recht einen Rahmen bekommt innerhalb dessen er sich seines Lebens sicher fühlen, planen, sein religiöses Leben führen kann. Die Leitsätze von Gottesfurcht, Verantwortung als "Khalifen" umsetzen, das Wohl der Schöpfung sowie das Wohlgefallen des Schöpfers im Auge behalten.
SAW: Würden Sie zustimmen, dass unsere gegenwärtige (muslimische) Ausgangslage ? sei es als Minderheit in nichtmuslimischer Umgebung oder auch als ?muslimischer Staat? innerhalb einer säkular und kapitalistisch gelenkten Welt ? eine in dieser Form erstmalig erlebte - Ausnahmesituation darstellt, würden auch Sie sich mehr Schutz unserer muslimischen Inhalte und Werte seitens der Machthaber in der muslimischen Welt wünschen?
Esther Fouzi:Das habe ich mir ehrlich gesagt noch nicht so genau überlegt. Die Muslime haben jedenfalls geschlafen und dadurch sind sie überrumpelt worden. Die Kolonialisation hat sicher tiefe Spuren hinterlassen, das Selbstwertgefühl war im Keller. Man hat versucht, sich mit einer neuen Religiosität wieder eine Identität zu verschaffen. Aber so, wie der Islam seither in diesen Ländern umgesetzt wird, kann man da von Schutz nur noch träumen. Wenn wir ganz ehrlich sein wollen, ist es doch so, dass man in den islamischen Ländern auch als Muslim am wenigsten Schutz hat, in unseren westlichen Staaten am meisten. Warum flüchten so viele Muslime aus ihren Ländern nach Europa. Das ist für mich die Ausnahmesituation, dass wir sogenannte muslimische Länder haben mit korrupten, diktatorischen Machthabern und dass man auf der anderen anderen Seite Länder hat, die sich zwar explizit zum Säkularismus bekennen, wo es einem als Muslim aber besser geht. Ich habe allgemein das Gefühl, die Muslime fühlen sich gegenüber der westlichen Welt zu oft in der Opferrolle und vergessen dabei, was ihnen ihre eigenen Leute, ihre Elite, ihre Machthaber antun. Ein grosses Problem ist sicher der menschliche Faktor an und für sich und in vielen muslimischen Ländern ist ein befremdlicher "Islam" entstanden, einer, der nicht dem entspricht, was man sich als Muslim erhoffen würde, sondern eine von willkürlichen Machtstrukturen gelenkte Ordnung, der man sich wohl oder übel fügen muss - ich denke, es gibt derzeit auf der ganzen Welt keinen "islamischen Staat", der diesen Namen verdient.
SAW: Das grosse Thema und Politikum Integration: Obwohl, wie Sie einleuchtend darstellen, Muslime sich aus subjektiver Sicht meist ausreichend integriert fühlen, sieht die Mehrheitsgesellschaft ?enormen Handlungsbedarf?. Ghettoisierung wird uns vorgeworfen, zu wenig Engagement in der Gesellschaft sowie in der Erziehung eigener Kinder. Besteht hier wirklich ein Defizit und wie kann diesem Appell entsprochen werden?
Esther Fouzi: Ich habe im Buch darüber geschrieben, dass ich hier ein Defizit empfinde und gewisse Vorwürfe teilweise nachempfinden kann, in der Tendenz bestätigen muss. Ghettoisierung, wie sie zum Beispiel in Frankreich, auch in England existiert, gibt es in der Schweiz nicht. Es könnte dazu kommen, wenn es mehr Verbote und Restriktionen gibt und sich die Muslime daraufhin zurückziehen. Das,was die zweite und dritte Generation der Einwanderer tut, sehe ich aber grundsätzlich als Entsprechung auf den Appell. Es findet gegenwärtig eine Art automatischer Wechsel in einen anderen Modus statt, die zweite, sowieso die dritte Generation ist bereits derart eingegliedert, dass "Integration" gar kein Thema mehr ist. Woran manche Erwachsenen der ersten Generation noch arbeiten könnten, wäre die Sprache, die sie dazu in die Lage versetzen würde, sich in Vereinen oder ehrenamtlichen Tätigkeiten zu engagieren, Nachbarn und Bekannte einzuladen. Meistens sind jene, die die Sprache sprechen, schon im Berufsleben integriert, während jene, die mehr Zeit für soziales Engagement hätten, die Sprache nicht sprechen. Aber die Zeit arbeitet für sich...
SAW: Sie arbeiten seit einigen Jahren als Religionslehrerin für Kinder und Jugendliche. Wie gehen junge Muslime mit der multiplen Herausforderung verschiedenen (Kultur-) Hintergrunds um, der sie in Schule, Familie, Freundeskreis ausgesetzt sind?
Esther Fouzi:Ich denke, dass das stark von der Erziehung abhängt, die sie zu Hause genossen haben. Es kommt oft auch auf den Stellenwert an, den die religiöse Erziehung, die Befolgung von Geboten einnimmt - dort wo letztere etwas lockerer genommen wird, auch wenn das Herz dran hängt, ergeben sich weniger Probleme mit Klassenlagern, Schwimmunterricht etc. Bestimmt spielt auch die soziale Offenheit der Familie nach aussen eine Rolle. Ich habe es noch nie erlebt, dass einer meiner Schüler zu mir kam und mir sagte, Frau Fouzi, ich habe ein Problem...Ich denke, sie schaffen es - als Chamäleon oder indem sie sich durchsetzen und auf ihrem Recht beharren.
SAW: Der ?traurige Alltag? mancher Frauen ist leider (immer noch) Tatsache, Sie sprechen es an. Könnten Sie sich vorstellen, dass sich die Situation für Frauen allgemein im Vergleich zu früher sowohl durch zunehmenden politischen und ökonomischen Druck als auch durch ein damit einhergehendes, islamfremdes und sehr einseitiges Weiblichkeitsverständnis eher verschlimmert hat ? auch aber nicht nur für muslimische Frauen?
Esther Fouzi: Grundsätzlich, denke ich, hat sich die Situation für Frauen nicht verschlechtert sondern verbessert und zwar weltweit. Was in den westlichen Ländern passiert, wird auch - nicht zuletzt durch die Globalisierung - in den islamischen Ländern wahrgenommen. Das Leben, das man bisher geführt hat, die Rechte, die einem zugestanden werden, werden hinterfragt, und es wird nach "etwas mehr" davon verlangt. Man kann sich vorstellen, dass auch ein anderer Lebensentwurf möglich wäre, was Frauen unter Umständen dazu antreibt, eine zufriedenstellendere Situation für sich anzustreben. Andererseits kann man nicht negieren, dass das Frauenbild vor allem in der Darstellung der Medien einseitig wäre. Wenn man sich aber in der Bevölkerung umhört, merkt man, dass diese Sichtweise höchstens im Teenageralter übernommen wird, später sucht und findet man eigene Wertmasstäbe. Wirtschaftlich wächst wohl der Druck auf die Frauen, die Familie zu unterstützen oder gar zu ernähren. Andererseits bekommen sie so die Möglichkeit, sich aus unbefriedigenden Beziehungen zu lösen. Es geht Hand in Hand: mehr Unabhängigkeit mit mehr Verpflichtungen, aufgrund äusserer Bedingungen oder entsprechend innerer Bedürfnisse - je nach Empfindung und und Gewichtung der einzelnen Frau. Die Entwicklung hat Vor - und Nachteile, ich würde sie nicht nur als negativ sehen.
SAW: Auch hier ein Potential, das dem Druck innewohnt?
Esther Fouzi: Auf jeden Fall. Ich weiss nicht, ob Frauen, trotz der steigenden Belastung wieder tauschen möchten, auch wenn sie teilweise die Rolle des Familienernährers übernehmen. Oder ob ihnen ihre Selbstbestimmung das wert ist. "Traurig" wird der Frauenalltag dann, wenn frau meint, als "gute (muslimische) Frau" vieles zu müssen, das Leiden geduldig ertragen zu müssen.
SAW: Sie sprechen von Ihrem Wunsch und der Hoffnung, dass die ?Utopie? eines die Gesellschaft durchdringenden ?Wir ? Gefühls? doch Wirklichkeit würde. Glauben Sie, dass hierzu gerade Frauenkompetenz gefragt wäre?
Esther Fouzi:Ich glaube durchaus, dass Frauen in der Lage sind, hier mitzuwirken, dass sie da am "richtigen Platz" wären, die Sache etwas vorwärtszubringen. Es soll aber nicht darum gehen, Männer an den Pranger zu stellen, Frauen als Opfer darzustellen. Auch Männer müssen am besseren "Wir - Gefühl" mitarbeiten, auch wenn Frauen besser dazu prädestiniert sind.
SAW: Sie nennen den Adab - den guten Umgang - als "einen der wichtigsten Faktoren des erfolgreichen Zusammenlebens" als "Schmiermittel im Getriebe des Miteinanders": das gute Benehmen. Was können wir tun, um diesen untereinander zu fördern?
Esther Fouzi: Vorbild sein, sich selber erziehen. Mitmenschen so behandeln, wie man sich wünscht, dass man selbst behandelt wird. Unnötige zornige Bemerkungen herunterschlucken, den Kindern Vorbild sein. Und das heisst Selbsterziehung. Auf die Sprache achten. Selbstkritik, bevor man mit Schuldzuweisung beginnt. Für andere auch Entschuldigungen finden, bevor sie von ihnen ausgesprochen werden, nachfragen, anstatt Übles zu unterstellen, offen auf einander zuzugehen. Auch die Gefühle ansprechen. "Ich habe das so und so empfunden". Ehrlichkeit mit anderen wie mit sich selbst. Nachsichtiger, barmherziger sein.
SAW: Wäre solches Verhalten auch in (vereins - ) politischem Kontext denkbar und wünschenswert?
Esther Fouzi: Natürlich. Aufeinander zugehen und nachfragen, warum macht ihr das so. Anstelle von Unterstellungen und Konsequenzen in Form von Verboten, Regelungen. Adab ist im Grunde genommen Rücksichtnahme auf die anderen. Das Gegenteil davon wäre Egoismus. Adab heisst, das Wohlbefinden anderer auch zu bedenken. Man kann über alles reden, auch über Politisches, Ideologisches.
SAW: Sehen Sie die Gefahr, dass angesichts der tiefschürfenden globalen Umwandlungen unser Din zum ?lifestyle? verkommen könnte, bestenfalls fürs Individuum identitätsstiftend wirksam bleibt, ("Schaum auf einer Wasserflut") oder führt eine immer enger werdende Spirale der Gewalt und der Restriktionen zunehmend zu Konfrontation, Eskalation, Krieg?
Esther Fouzi: Ich bin kein Prophet (lacht). Aber ich glaube, der Islam hat eine zu starke Kraft in sich, als dass er sich irgendwann "auflösen", zum lifestyle werden würde. Ich würde mir aber wünschen, dass er nicht so militant verstanden wird, wie er heutzutage verstanden wird, sondern dass man sich wieder auf die geistigen Werte, besinnt, und im weltlichen Bereich nicht versucht, etwas aufzuzwingen. Wenn eine Gemeinschaft entstehen soll, soll diese aus freien Individuen bestehen, die sich freiwillig zusammenschliessen, weil sie das gleiche Ziel haben. Und die auch verschiedene Ansichten auszuhalten vermögen. So eine Gemeinschaft würde ich mir wünschen. Was den islamischen Staat (nicht IS, sondern dieses Ideal, dem viele Muslime entgegenhoffen) betrifft, muss ich sagen, so wie die Menschen in ihrem gegenwärtigen"Sein ausgestattet" sind, wäre es wahrscheinlich besser, man hätte vorläufig weiterhin einen säkularen Staat mit Religionsfreiheit. Das mag ketzerisch klingen, aber überall, wo man Ansätze zu sogenannten "islamischen Staaten" gesehen hat, waren diese verbunden mit Repressalien, Freiheiten wurden beschnitten, Ungerechtigkeit nahm zu. Entgegen der islamischen Tradition werden in solchen "Staaten" auch Zugehörige anderer Religionen oft zu wenig geschützt, haben nichts mehr zu lachen....Da muss man sagen, nein, so lieber nicht. Ich glaube, der Mensch müsste sich da noch ziemlich entwickeln...Es wird immer verschiedene Ansichten geben, in Politik wie Religion. Nach allem, was wir in den letzten Jahren gesehen haben, muss man fast sagen, "um Himmels Willen, bitte keinen islamischen Staat", solange die Menschen nicht auf einem höheren Niveau sind; wir sind einfach noch nicht fähig, noch nicht reif dazu.
SAW: Frau Fauzi, ich danke sehr für das Gespräch. Alles Gute.
SAM:Sehr geehrter Herr Professor Fischer vielen Dank, dass Sie bereit sind zu diesem Gespräch. Wir leben einerseits in einer Zeit der exzessiven Nutzbarmachung von Energien und Ressourcen und zum anderen der Beobachtung und Einordung aller gewonnenen Information. Dieses Strukturgebende wird in der Physik als "freie Energie" verstanden, die in Arbeit und Bewegung umgesetzt werden kann - nebst der Grösse der "Entropie", jener Restenergie, welche immer übrigbleibt und wächst. Welche Auswirkung denken Sie, hat dieses immer rasanter betriebene Sammeln von Informationen und das Einteilen in ja/nein, entweder/oder - Optionen auf den Menschen und die Gesellschaft in der wir leben?
Prof Dr. Fischer: Eine gute Frage, die Sie genauso gut einem Soziologen oder Politikwissenschaftler stellen könnten. Mein Verdacht ist: wir sammeln Informationen um Sicherheit zu haben, wir wollen wissen, was passiert. Ein Grundphänomen des Menschen ist, dass er gerne die Zukunft kennen, für die Zukunft planen möchte. Astronomie zum Beispiel wurde seit der Antike nicht betrieben, um die Sterne zu erklären, sondern dazu, herauszufinden, was sie einem sagen, und Horoskope machen wir ja heute noch. Früher fragte man, was steht in den Sternen? Heute fragen die Genetiker: was steht in den Genen? Wir wollen immer mehr wissen, um eine "überraschungsfreie Zukunft" zu bekommen. Das Kuriose ist nur, dass es ein Paradox gibt, welches verhindert, dass wir jemals mithilfe von Wissen die Zukunft wissen. Denn- das Leben, das wir führen, hängt ja von dem Wissen ab, das wir haben! Das heisst, auch in Zukunft hängt das Leben, das wir in führen, von dem Wissen ab, das wir in Zukunft haben. Nun kann ich alles Mögliche wissen, nur eines nicht, nämlich das, was ich in Zukunft weiss, dann wüsste ich es ja schon. Dadurch, dass ich in keinem Fall wissen kann, was ich in Zukunft weiss, wird das Leben, das vom Wissen abhängt, immer unsicherer, je mehr ich weiss. Dieses merkwürdige Paradox bedeutet für mich, dass man gelassen sein kann! Ich persönlich freue mich, dass die Zukunft da ist, offen ist - wobei das Rätsel für mich ist, ob die Zukunft schon da ist und ob wir in sie hineingehen, wie in ein Zimmer, oder ob die Zukunft dadurch entsteht, dass wir einfach vorangehen. Aber das ist jetzt eine andere Frage. Ich bin ein Verfechter der Offenheit, fühle mich am wohlsten, wenn ich weiss, etwas ist offen, man kann es gestalten, man kann sich etwas einfallen lassen. Ich möchte keine Vorschriften haben, nach denen ich agieren kann. Ich brauche natürlich Hilfestellung, benutze hier gerne die Metapher des Bildes: Ein Bild, das Sie malen, möchten Sie gerne "offen malen", Sie möchten das Bild ja "erfinden". Aber es ist nur dann ein Bild, wenn es einen Rahmen gibt. Der Rahmen kann Familie sein, kann Ihr Geburtsland, kann Glaube sein, eine Gemeinschaft sein. Wir geben uns alle einen Rahmen vor. Aber in dem Rahmen möchten wir eine offene Leinwand haben, die wir bemalen können mit unserem Leben. Und ich glaube, Menschen könnten gar keine geschlossene Zukunftsvorhersage ertragen. Natürlich möchte man sich absichern, aber das ist nur der Rahmen - das Bild selbst muss offen bleiben.
SAM: Sie bezeichnen die Entropie als "Vorratskammer des Möglichen", durch die die Zeit eine Richtung bekommt - welche Rolle spielt diese?
Prof. Dr. Fischer: Es gibt offenbar eine Grösse, die immer wächst und durch die die Zeit eine Richtung bekommt. Aber das ist nur lokal. Ich glaube, dass es Bereiche gibt, in denen die Entropie auch abnehmen kann aber im Gesamtsystem der Erde zum Beispiel muss sie zunehmen. Das heisst, wenn Sie jetzt hier Ordnung schaffen, dann hat die Entropie hier deutlich abgenommen aber natürlich auf der ganzen Welt nicht. Die Entropie ist eine schwierige Grösse sobald ein bewusstes Wesen dazukommt und sich da einmischt. Es gab im 19. Jahrhundert einen Physiker, Maxwell, der hat sich einen "Teufel" ausgedacht; er hat sich überlegt, wenn dieser "Teufel" operieren könnte, so, dass die Entropie nicht maximiert wird, was würde das bedeuten. Er stellt sich vor, der sitzt in der Mitte zwischen zwei Gefässen - im einen ist heisse, im anderen kalte Luft -, und er sorgt dafür, dass die Energie vom kalten Bereich übergeht in den heissen Bereich, sodass der heisse Bereich heisser und der kalte Bereich kälter wird. Im Normalfall würde es ja ausgeglichen werden - die heisse und kalte Luft würden zusammenkommen und warm werden. Und das ist der Hauptsatz der Thermodynamik, die besagt, es geht nur in diese Richtung. Nun ist die Frage, wenn so ein "Teufel" da sitzen und es anders machen würde, was würde das bedeuten. Der "Gag" an der Sache ist, der Teufel muss sehr klein sein, da er die Moleküle ja messen muss. Und er muss, um etwas über diese Moleküle zu wissen, Informationen haben. Wenn er aber Informationen in dem Umfang hat, in dem er sie braucht, dann kann er nicht so klein sein, dass man ihn nicht mehr berücksichtigt. Er muss also irgendwann sein Wissen vergessen, löschen. Und beim Löschen gerät er ganz durcheinander, so dass eigentlich der eigentliche Effekt, den er hatte, aufgehoben wird. Sodass nun wieder der zweite Hauptsatz gilt?. Man kann lokal Inseln der Ordnung finden: das nennt man dann einen Garten oder eine Gemeinschaft oder ein aufgeräumtes Kinderzimmer. Hier müssen Sie immer Bewusstsein und Informationen einsetzen. Wenn Sie aber diese Informationen in die physikalischen Gesetze "stopfen" wollen, dann wird es schwieriger, weil man diese physikalischen Gesetze noch nicht kennt. Sie machen ja ein Experiment: Sie entnehmen einem System Information, aber diese Information ist in den Gesetzen, die Sie benutzen nicht enthalten. Das ist eine komische Sache! Ich glaube nämlich, dass die Physik nochmals neu geschrieben wird, und das hat auch damit zu tun, dass wir etwas lernen müssen, was wir immer noch nicht ganz verstanden haben: wir denken immer noch, dass Physik die Beschreibung der Natur ist. Ist sie aber nicht! Physik ist die BESCHREIBUNG UNSERES WISSENS VON DER NATUR - und das ist ganz was anderes!
SAM: Könnte man sagen, dass dieser "Teufel/Dämon" der Mensch ist, dass der Mensch eben das tut, was dieser Dämon tut?
Prof Dr. Fischer: Na klar, wir sortieren. Wir sitzen da und möchten gerne Ordnung schaffen. Die Situation kann man sich in allem vorstellen. Man kann sich das am Beispiel reiches Land armes Land vorstellen. Sie lassen sozusagen immer nur die Reichen in das reiche Land und die Armen in das arme Land. Normalerweise würde sich das ausgleichen aber das verhindern wir. Unsere Gesetzgebung, unsere Migrationsregeln verhindern das. Dasselbe mit dem Geldfluss - hier sind die Reichen, da fliesst viel Geld, die Armen haben kaum Geld. Man würde glauben, das gleicht sich aus, tut es aber nicht; die Reichen werden reicher und die Armen werden ärmer, da stimmt auch irgendetwas nicht "mit der Physik". Aber ich würde auch nicht erwarten, dass es eine soziale Physik des Geldes gibt.
SAM: Unser Geldsystem ist ja so aufgebaut, dass wir ein möglichst grosses Repertoire an Möglichkeiten generieren können, wir schöpfen Geld aus dem Nichts und schlagen Zinsen drauf. Das heisst, die Möglichkeiten entfalten sich rasant.
Prof Dr. Fischer: Ich persönlich bin kein Ökonom. Ich verstehe das Finanzsystem nicht. Ich verstehe aber ein paar uralte Gedanken der Menschheit und was ich glaube ist, dass die Ökonomie ein alchemistisches System ist. In der Alchemie gab es den Stein des Weisen. Mit dem Stein des Weisen konnten Sie alles machen und er veränderte sich nicht. Diesen Stein nennt man heute Kapital. Ich glaube, dass der Wirtschaftsprozess ein alchemistischer Prozess ist, der irgendwann an sein Ende kommen wird. Ich würde das jetzt nicht voraussagen aber ich glaube, dass man vieles von dem, was ökonomisch passiert, nur im Sinne des Glaubens der Alchemisten verstehen kann: Verwandlung durch Kapital! Aber das ist ein ganz grosses anderes Thema.
SAM: Es ist trotzdem sehr interessant, Ihren Gedanken zu folgen. Könnten Sie diese Parallele der Idee des Kapitals zur alchemistischen Vorstellung näher erläutern?
Prof Dr. Fischer: Die frühen Alchemisten hatten ja, ganz allgemein ausgedrückt, die Vorstellung der Transformation des Unedlen zum Edlen. Gott habe zwar die Welt geschaffen hat, aber es sei die Aufgabe des Menschen, diese Welt zu perfektionieren. Gott hat eine Erde geschaffen, auf der Menschen dafür sorgen können, dass das Paradies entsteht. Das ist sowieso der Grundgedanke auch später bei der Evolution bei Darwin. Da wird ja Gott nicht abgeschafft, sondern Gott wird als jemand gesehen, der die Menschen so macht, damit diese die Welt gestalten können, Gott macht die Tiere so, dass sie sich selbst entwickeln können. Er hat die Natur so eingerichtet, dass sie sich selbst ?machen? kann. Das ist eine mögliche Sichtweise. Die Alchemisten sind auch der Meinung, dass in den Dingen das Gute da ist und dass es nur `rausgeholt werden muss. Das nennt man heute Pädagogik. Sie glauben, dass das Wissen in den Kindern ist und sie holen es nur raus. Es ist immer die Frage, ob im Menschen nur das Gute drin ist. Es gibt auch die Gegenposition des grossen Philosophen Immanuel Kant, dass das eigentliche, das Radikale im Menschen das Böse sei und zwar, weil Kant ein extremer Denker der Freiheit ist. Wenn Sie als Mensch wirklich frei sind, dann sind Sie auch frei, das Böse zu tun. Wer hindert Sie daran - Ihr Gewissen. Aber wo kommt Ihr Gewissen her? Das ist wieder eine andere Frage. Also wo immer Sie hinschauen, Sie haben eine Antwort mit einer neuen Frage und das nenne ich das offene System des Diskurses - das beruhigt mich ungemein. Der Mensch sieht immer eine Grenze, will drüber - und dahinter ist nur die nächste Grenze. Aber ein Wille hört nicht auf, an diese Grenze zu kommen. Der Wille des Menschen ist unbegrenzt.
SAM: Wir sehen ja heute einen Berg von Antworten vor uns und es scheint, dass durch die vielen Antworten, die wir uns schon geschaffen haben das Fragestellen gewissermassen "aus der Mode gekommen" sei.
Prof Dr. Fischer: Ja, wir geben nur Antworten! Ich habe darüber einen Aufsatz geschrieben: ?Wie viele Antworten hat eine Frage?. Das Kuriose ist, dass wir in einer Kultur leben, die eigentlich vom Fragen lebt - Sokrates in der Europäischen Denktradition. Ich weiss jetzt nicht, wie andere Kulturen das angegangen sind aber klar ist, dass in der Europäischen Kultur das Fragen eine Rolle spielt. Was ist Gerechtigkeit, was ist eine Tugend, wie soll der Mensch leben, wem soll er gehorchen? Das sind alles Fragen die jeder für sich beantwortet aus Lebenserfahrung, aus Freundschaft ... .Nur in der Praxis, in der Öffentlichkeit, nennen wir`s mal in der politischen Öffentlichkeit wählen wir nie Leute, die Fragen stellen, sondern nur Leute, die Antworten geben. Also der Politiker weiss genau, wie er die Inflation bekämpft, weiss genau, wie er das Problem mit der Ukraine löst, weiss genau, welche Waffen wir nach Syrien liefern, das wissen die alle ganz genau und ich verstehe das nicht... (lacht..). Aber Sie möchten natürlich keinen Politiker haben, der keine Ahnung hat. Das Ideal des starken Mannes... Merkwürdiges Paradox auch hier: es gibt diese schöne Gedicht von Erich Kästner: "Die Fragen sind es, aus denen das, was bleibt, entsteht, denk an die Frage Deines Kindes "was tut der Wind, wenn er nicht weht"."Also, wir können immer nur Fragen stellen, auf Geheimnisse stossen und durch das Fragenstellen ein Gefühl für das Geheimnisvolle der Welt, die uns umgibt bekommen. Nach Albert Einstein ist das Gefühl für das Geheimnisvolle das Schönste, was der Mensch erleben kann. Wenn er das erlebt hat, dann hat er das Bedürfnis, Kunst und Wissenschaft zu betreiben. Ich glaube, dass das eine gute Charakterisierung einer menschlichen Ur - Eigenschaft ist. Also immer staunen. Was mich ärgert an der modernen Publizistik ist, dass die einem dieses Gefühl für das Geheimnisvolle nimmt! Es heisst immer, das hat man gemessen, jetzt verstehen wir, wie das und jenes entsteht - nichts verstehen wir! Man ist nicht mehr ganz so hilflos wie vorher. Aber man ist doch nur sozusagen wieder mit einem neuen Geheimnis konfrontiert. Es wäre mir lieber, wenn man das vermitteln würde, auch Schülern vermitteln würde. Das Gefühl für das Geheimnisvolle.
SAM: Mir tritt immer wieder das Bild vom Dämon vor Augen, der sich aufbläht und aufbläht und irgendwann muss er sich zitternd ergeben...
Prof. Dr. Fischer: Ja, der muss immer grösser werden, weil er immer mehr Informationen braucht und wenn er sie vergessen will, dann braucht er so viel Energie, dass er anfängt zu zittern und seine Aufgabe nicht mehr erfüllen kann. Also vergessen ist nicht umsonst. Ganz strikt physikalisch gibt es einen Preis des Vergessens und wenn man ihn bezahlt, kommt die ganze Kraft der Entropie wieder zum Vorschein, die die Zeit in eine bestimmte Richtung treibt. Sie können bei jedem Satz sagen, der vernünftig und die Welt als abgeschlossen erklärt, dass in dem Satz eine Lücke ist, wo das Geheimnis reinkommt. In jedem Satz, der abgeschlossen zu sein scheint, der die Welt zu erklären scheint, ist ein "Loch" wo das Geheimnisvolle sofort wieder da ist sie können die Metapher des Zimmers nehmen, sie können es abschliessen aber das Schlüsselloch bleibt offen. Sie können sagen, ?die Welt besteht aus Atomen" nur müssen Sie mir dann erklären, was ein Atom ist. Mich beruhigt das; manche Leute möchten alles abgeschlossen und fertig haben, aber das wäre das Schlimmste, was einem passieren kann.
SAM: Ja, furchtbar! Nicht zuletzt, wenn man die politische Welt betrachtet und sieht, wie katastrophal dieses exzessive Urteilen, Polarisieren und Besserwissen sich auswirkt und was es gerade im religiösen Bereich bewirkt, der ja das spirituelle, paradoxe, geheimnisvolle beinhalten, würdigen und hüten sollte.
Professor Dr. Fischer: Ich bin mit Religion nicht so vertraut. Aber ich versuche immer, das Ursprungswort "Religion" zu verstehen. Das ist die Rückbindung. Das ist auch das Erlebnis, das die Wissenschaft hat, durch das sie ein religiöses Erlebnis haben kann. In der Wissenschaft ist die grosse Leistung gewesen, dass das Subjekt das erkennt. Sich getrennt hat von dem Objekt, das er erkennt. Also das "Ich" tritt aus der Welt "heraus" und tritt der Welt gegenüber, will diese beschreiben und in der Beschreibung komm` ich nicht vor. Und was wir am Schluss in der Quantenphysik gemerkt haben: das geht nicht! Ich MUSS in der Beschreibung drinbleiben, ich kann mich nicht aus der Welt `rausnehmen! Das heisst, beim Nachdenken über die Welt merke ich, wie ich an die Welt gebunden bin - und das ist Religion. Also der Wissenschaftler ist eigentlich der religiöse Mensch. Das hat Max Planck ausgedrückt. Max Planck hat gesagt, es gibt zwei verschiedene Arten von Menschen: den wissenschaftlichen und den religiösen. Der Unterschied besteht darin, dass der religiöse Mensch am Anfang bei Gott ist und der wissenschaftliche am Ende zu Gott findet. (Lachen) Wenn das Religion ist, dann bin ich religiös, weil ich sehe, dass ich durch mein Nachdenken über die Welt an die Welt zurückgebunden werde und die Welt ein Wunder ist. Das ist schön und da fühle ich mich übrigens geborgen darin. Ich komme da nicht raus, ich komme immer wieder zurück. Das haben die Romantiker schön ausgedrückt. Bei Novalis heißt es: Wo gehen wir denn hin - immer nur nach Hause! Und das wissen Sie ja auch, Sie können hingehen, wo sie wollen, auf den Himalaya oder auf die Malediven, nach LA - Sie sind immer nur bei sich selbst, Sie finden immer nur sich selbst und das Eigentliche, was Sie suchen ist ja, wer Sie selbst eigentlich sind.
SAM: Man kann sich als nächstes die Frage stellen, warum bin ich denn in die Welt gekommen. Darauf kann man die Antwort geben, dass dieser Ursprung Gott ist.
Prof. Dr. Fischer: Es gibt halt Fragen, die man nicht beantworten kann. Wenn Sie so fragen, setzen Sie einen Nullpunkt, einen Anfang voraus, der mit einem sinnvollen Eingreifen dafür gesorgt hat, dass ich jetzt hier sitze. Dann ist das Hiersein von Ihnen sozusagen der Endpunkt, Ihre Schöpfung ist der Anfangspunkt. Das ist aber ein einseitiges Verständnis von Zeit. Dann nämlich setzen Sie voraus, dass die Zeit geradlinig nach vorne verläuft, das muss ja aber nicht sein. Es könnte ja sein, dass die Zeit zyklisch verläuft und Sie sind nur deshalb hier, "weil jeder mal drankommt".
SAM: Ich sehe ?mich? schon nicht als das Endziel. Im Islam heisst es: Gott hat die Welt geschaffen, um erkannt zu werden.
Prof. Dr. Fischer: Im Westen sagt man, die Natur hat den Menschen erschaffen, um von ihm erkannt zu werden. In unserer Gestalt "erkennt die Natur sich selbst" es ist eine ähnliche Formulierung. Nur sage ich nicht Gott sondern "die Natur". Das ist ja zunächst mal nur ein Wort - aber das stimmt überein. Ich glaube auch, dass der Mensch sich dadurch feiern kann, dass er die Natur ist, die in der Lage ist, sich selbst zu erkennen. Aber daraus folgere ich nicht, dass ich Gott bin.... Und jetzt bin ich wieder für das Offene... denn irgendwie klappt das ja nicht. Wir erkennen uns nicht, suchen ja nur immer weiter. Wir geben uns immer nur Mühe... wir sind sozusagen der "Gott der ewig sucht" und der andere Gott ist der, der schon fertig ist, und wartet, dass wir das merken... Sie haben noch Fragen?!
SAM: Sehen Sie eine Möglichkeit, die Pole des Männlich-/ Weiblichen sozusagen quantenphysikalisch zuzuordnen?
Prof. Dr. Fischer: Männlich - weiblich? Quantenphysikalisch...? (Denkt nach?Also meinen Sie Welle - Teilchen, der Mann ist das Teilchen, die Frau die Welle?...Das könnte sein...
SAM: Das könnte sein...! Vielleicht sage ich Ihnen, wie ich auf die Frage komme. Ich gehe davon aus, dass heutzutage das männlich ? einteilende, strukturorientierte Denken in einem ungesunden Übergewicht im Verhältnis zum weiblichen Element ist...
Prof Dr. Fischer: Es gibt Annahmen, Vermutungen, dass die Wissenschaft ein Produkt männlichen Denkens ist, weil es ja auch ein Herrschaftsdenken ist. Die Idee der Wissenschaft ist, das Gesetz zu finden, mit dem ich die Natur beherrsche. Und ich denke mir, dass Frauen gar nicht danach suchen würden. Frauen würden danach fragen, mit der Natur in Einklang zu leben. Männer suchen nach Hierarchie und Frauen versuchen eher, ein Team zu organisieren, durch Gespräch zurechtzukommen. Dann wären also Frauen der Wellencharakter und der männliche Teil wäre der "harte Teilchencharakter" - von mir aus kann man das so sehen, ich habe da noch nicht darüber nachgedacht. Und die sind komplementär. Das würde aber bedeuten, dass die Entscheidung, ob etwas männlich oder weiblich ist, nicht vom Objekt selbst abhängt sondern vom Beobachter, denn das Elektron ist ja unabhängig davon, es ist manchmal Welle manchmal Teilchen. Was ich vom Elektron erfahre, hängt von der Fragestellung ab.
SAM: Interessanter Gedanke?
Prof Dr. Fischer: Und wenn die Antwort von der Fragestellung abhängt, vom Interesse und der Neugierde, - das stelle ich mir wieder eher weiblich vor. Wenn ich versuchen würde, den Unterschied zwischen Männern und Frauen einfach zu charakterisieren, ich glaub, dann wollen Männer immer eine Auskunft haben, Frauen wollen immer ein Gespräch anfangen.
SAM: ja, das ist so, tendenziell....
Prof. Dr. Fischer: ein wissenschaftliches Experiment ist im Grunde männlich : ich will eine Auskunft haben, bist du da oder nicht, wie schnell bist du, wie schwer bist du. Und Frauen würden denken, dass das Objekt dann antwortet und ich anschliessend mit ihm in ein Gespräch trete. Das ist sozusagen die Idee der Quantenmechanik, dass das Elektron gewissermassen eine Auskunft gibt, die eine neue Frage formuliert. Insofern ist Quantenmechanik weiblich, klassische Mechanik ist männlich. Ich habe da noch nie drüber nachgedacht, aber mir scheint, dass man das tun kann. Es ist völlig eindeutig, dass der Teilchencharakter männlich ist - punktum fertig schluss und die Frau ist eher überall, man versucht, noch zusammenzubleiben...
SAM: Könnten Sie sich vorstellen, dass bestehende Misstände durch eine Umgewichtung und Wandlung in ein anderes, besseres Lot kämen? Gibt es z. B. Perspektiven aus der Physik, aus denen wir schliessen könnten, dass es an der Zeit wäre, dass der "Informationsdämon" wieder vergessen muss, um einen Ausgleich zuzulassen zwischen dem polarisisierenden, strukturgebundenen? einerseits und dem "Pool der Möglichkeiten" auf der anderen Seite? Prof. Dr. Fischer: Hm. Also was ich glaube ist, dass wir immer noch erwarten, dass durch die Analyse der ganzen Informationen eine bestimmte Antwort herauskommt und nicht gewissermassen nur ein Gefühl für eine Antwort. Es könnte allerdings sein, dass solche genauen Standortbestimmungen gar nicht wichtig sind, sondern dass das Verhalten insgesamt eine Rolle spielt und dass man ein intuitives Gesamtbild anstreben sollte, nicht ein punktuelles. Und das ist, glaube ich wieder eine Frauensache. Also noch sind wir so, dass wir uns beim Informationssammeln übernehmen. Denn bei der ganzen Sammlung bleibt ja die Frage nach der Bedeutung auf der Strecke. Die NSA sammelt, in der Genetik sekretiert man ein Genom nach dem anderen, nicht nur die des Menschen sondern auch die sämtlicher Mikroorganismen. Die Datenfülle wird immer unübersichtlicher aber man müsste jetzt anfangen, sie zu verstehen und zu deuten und das Deuten ist nicht mehr eine quantitative sondern eine qualitative Aufgabe mit Einbezug der Phantasie, mit Lust auf Zusammenhänge, auf Verbindungen. Eine der grössten Biologinnen des 20. Jahrhunderts, Barbara McClintock, hat ihren grossen Erfolg dadurch gehabt, dass sie, wie sie das selbst ausdrückte, ein "Gefühl für den Organismus" entwickelte. Wir müssten aber sozusagen ein Gefühl für eine Gesellschaft, für ein Stadtleben, dafür wie Menschen sich austauschen, ein Gefühl für die Bedeutung von Daten aber das kann man nicht so einfach trainieren, weil das im Ansatz dieser Wissenschaft nicht enthalten ist. Diese ist eben strukturiert männlich und ein Gefühl ist nicht etwas, das man einfach abfragen kann. Das Gefühl ist auch etwas, das sich dauernd erneuert, es ist sozusagen immer im Werden. Um einen einfachen Kontrast zu finden - Männer interessieren sich mehr am Sein "wie ist das" und Frauen interessiert "wie wird das, was kann daraus werden". Frauen sind auch zukunftsoffener, zukunftszugewandt, haben die Zukunft schon intuitiv im Blick. Ich glaube, dass Frauen Information besser deuten können. Frauen würden auch andere Arten finden, um Terroranschläge zu verhindern als durch blosses Sammeln von Daten, würden z. B. die Kinder besser erziehen, würden miteinander reden. Sie würden an das Migrationsproblem anders herangehen. Manche Frauen in der Regierung wie z. B. Margaret Thatcher waren da wohl die falschen, nämlich "bessere Männer". In der Physik gibt es das Beispiel von Marie Curie und Ilse Meitner - die waren, im Gegensatz zu Barbara McClintock, die ich noch persönlich kennenlernen durfte und über die ich in einem Buch geschrieben habe, auch ?bessere Männer?. Die hat Wissenschaft vorgetragen, die Männer nicht verstanden haben. Ich habe sie portraitiert, in dem Buch "Aristoteles, Einstein und Co". Es gibt eine Biografie über sie "a feeling for an organism". Der weibliche, interpretatorische, künstlerische Aspekt gehört auf jeden Fall dazu, ich wüsste aber nicht, wie das in der Praxis installiert werden sollte.
SAM: Kennen Sie Joachim Ernst Behrendt?
Prof. Dr. Fischer: Nada Brahma! Ich bin ein grosser Fan von Nada Brahma. Als ich das zum ersten Mal gelesen oder gehört habe, war ich fasziniert. Ich persönlich glaube, dass er völlig recht damit hat, dass wir bessere Menschen wären, wenn wir mehr hören würden. Manchmal allerdings habe ich das Gefühl, er überdehnt sein Anliegen etwas. Aber das weiss er selbst?. Die Augen sind ja als Jagdaugen gemacht worden, die Ohren sind mehr für die Gesamtorientierung. Ich glaube, dass wir alle sanfter und liebevoller wären, wenn wir besser hören würden und ich nehme mir das auch fest vor. Nachrichten zum Beispiel höre ich im Radio und sehe nicht fern. Wenn allerdings so die Gesänge des Planeten Pluto transformiert werden zu "Planetenmusik", ist mir das irgendwann zu viel. Ich glaube, dass er dann ein bisschen zu sehr in seine Zahlenmystik verliebt ist. Aber das stört den Gesamteindruck nicht und vielleicht ist da auch etwas dran. Er ist ja selbst ein Suchender, der sich selbst wundert, dass das alles möglich ist und er lernt und lernt... Ich habe bei ihm zum ersten Mal richtig verstanden, was eigentlich ganz selbstverständlich ist, nämlich die Bedeutung der höheren Stimmen der Frauen. Wenn Männer und Frauen zusammen sprechen, hört man die Frauen. Auch im Chor, man hört dann die Männer nur, wenn die Frauen schweigen. Also ist von der Evolution die Stimme der Frau so eingerichtet worden, dass man sie auf jeden Fall hören sollte. Aber da wir ja in einer männerdominierten Welt leben, orientieren wir uns am Sehsinn. Die Frauen würden sofort den Sehsinn reduzieren auf einfachere Dinge - weg vom "raubtierhaften Sehen" , hin zum Hören und es könnte auch sein, dass das die "Verwandlung zu einer besseren Welt" ist, wenn wir sie wirklich als das, was Behrendt "Klang" nennt, verstehen. Also die Welt als Klang! Meine Lieblingsbeschäftigung, wenn ich abends allein zu Hause bin, ist nicht fernsehen, sondern CDs zu hören. Ich spiele selbst ganz schlecht nur Querflöte aber ich höre dann einfach. Das Hören hat also wunderbare Vorzüge. Ich glaube auch, dass der Verlust des Hörsinns das schlimmere Leid ist als der Verlust des Sehsinns. "Israel höre"... ?Gott sprach?....Man entnimmt ja auch der Bibel, dass da zwar Licht wird, aber es wird erst gesprochen. Das erste, was die Bibel erwartet, ist also, dass gehört wird - es muss jemand hören! Wobei mich mehr interessiert an diesem ersten Vers in der Bibel, dass am Anfang kein Gott ist sondern Finsternis. Und ich bin fest davon überzeugt, dass das eigentliche, das wir verstehen müssen, die Dunkelheit ist -denn wir kommen aus der Dunkelheit und gehen in die Dunkelheit. Und wenn wir einen Gedanken denken oder einen Satz sagen, der war vorher im Dunkeln, den holen wir dann da raus - wir können nicht sagen, wo er vorher war. Der Gedanke, den wir haben, der kann ja kein Gedanke gewesen sein - das ist wieder das Problem des Anfangs?sodass ich ein "Verehrer der Dunkelheit" bin im Sinne von Rilke "du Dunkelheit, aus der ich stamme....?Wir stammen alle aus der Dunkelheit und in der Dunkelheit ist auch Stille. Ich habe ein Buch darüber geschrieben, das heisst "durch die Nacht", das erscheint im nächsten Jahr. Wir kommen alle aus der Nacht und gehen durch die Nacht, wir lieben die Nächte und wir müssen halt den Tag überstehen und das ist auch Goethe, Philine. Die Nachtzeit wird als Gegenzeit definiert, das ist die Zeit, wo man einfach da ist. Am Tag haben wir Geschäfte, - aber abends sind Sie einfach nur da, das ist die Zeit der Nacht und das ist die Zeit der Frau. Männer wollen immer ankommen, Frauen wollen da sein. Und ich glaube das ist das - es reicht, wenn wir da sind. Wir kommen jetzt ein wenig ins Schwärmen, das hat ja mit Wissenschaft immer weniger zu tun aber auch Wissenschaft kommt aus dem Dunklen und muss das Dunkle verstehen.
SAM: Das "Yin", die Dunkelheit , das Weibliche. Die Nacht ist auch die Zeit, in der Gläubige die Nähe Gottes sucht?.
Prof. Dr. Fischer: Und in der Dunkelheit gibt es einen "Herrn", der heisst Luzifer - der Lichtträger. Und den gibt`s in jeder Religion, soweit ich weiss. Es gibt immer den Feind, den Satan, den Luzifer, den gibt`s auch im Buddhismus. Es gehört zur menschlichen Denkweise, dass wir immer das Gegenstück brauchen. Mann - Frau, oben - unten, Nacht - Tag, wir brauchen immer das Gegenstück. Redner - Zuhörer. Aber eben HÖRER.
SAM: Herzlichen Dank, Herr Professor Fischer für dieses Gespräch!
Schon die Annäherung war schwierig ? keiner der Bewohner des Asylzentrums W. wollte für ein Interview zur Verfügung stehen. Auch M. vergewisserte sich nach dem Gespräch, dass man ihn nicht namentlich erwähnen würde. Trotz seiner gefassten, schicksalsergebenen Haltung scheint die Vorsicht durchaus angebracht, werden Aufenthaltsbewilligungen doch gerade an bestimmte Bevölkerungsgruppen nur zögerlich vergeben, Restriktionen, gar Bussen hingegen leichtfertig ausgeteilt. Bald 10 Jahre ist M. in der Schweiz. Im Zentrum in U. wohnen annähernd 200 Menschen aus Somalia, Iran, Türkei, Eritrea, Irak, Afghanistan auf engstem Raum zusammen. Die Mehrzahl davon dem Krieg in ihrem Land entflohen, keine Wirtschaftsflüchtlinge. Männer, Frauen, Kinder, einzeln und in Gruppen, in jeglicher Formation. Sowohl Frauen mit ihren Kindern als auch Minderjährige - 14 ? bis 80 ? jährige machen sich alleine auf den Weg. Der Weg hierher führt entweder ? mit dem berüchtigten Schiff ? über Libyen und übers Meer, dann hoch nach Italien und weiter. Oder auch übers Land: Türkei ? Griechenland. Sind die Menschen traumatisiert? Ja, zu Beginn auf jeden Fall. Alkoholprobleme sind häufig, Schlägereien und Sachbeschädigungen an der Tagesordnung. Vor allem die ersten 2, 3 Monate sind kritisch danach bessert es langsam. Viele, auch die Muslime, suchen im Alkohol das Vergessen ? in Wirklichkeit aber vermehren sich gerade durch den Alkoholkonsum die Probleme. Es gibt massive Zusammenstösse, niemand möchte eingreifen, man muss die Polizei, die Ambulanz rufen. Es gibt starke Männer, die in ihrem Zorn massive Sachbeschädigungen im ganzen Haus anrichten oder sich selbst in lebensgefährlicher Weise schwer verletzen. Die erste Zeit ist immer die kritischste, viele werden depressiv.
Inwiefern kommt Hilfe von den Behörden? Werden die Asylbewerber von der Bevölkerung akzeptiert? Längst nicht immer. Einige Ethnien haben es bei den Behörden um vieles leichter als andere, den Grund dieser Unterscheidung kennen wir nicht, möglicherweise spielt ihr religiöser Hintergrund eine Rolle. Beispielsweise Bewerber aus Eritrea bekommen nach kurzer Befragung in aller Regel sofort die Bewilligung ?B? (vorläufig befristete Aufenthaltsbewilligung). Auch afghanische Flüchtlinge werden kulant behandelt, bekommen in der Regel bald die Bewilligung ?F? (vorläufig aufgenommene Ausländer). Andere warten oft jahrelang auf einen Bescheid der Behörden, fünf, sechs, sieben Jahre. Dann wird negativ entschieden, man kann Rekurs einlegen ? danach wieder: warten. Arbeiten darf man auch mit Bewilligung ?F?, während der Wartezeit, wenn immer möglich wird das genutzt. Die Möglichkeiten sind allerdings beschränkt: Chancen hat man höchstens im Gastgewerbe oder im Gartenbau. Auch Sprachkenntnisse spielen eine Rolle, spricht jemand die Landessprache steigen die Chancen. Somalische Bewerber bekommen in aller Regel ?F? oder negativen Entscheid. Muslimische Sudanesen: keine Chance. Die heiß ersehnte Bewilligung ?B? hingegen bekommt von 200 Bewerber vielleicht einer ? man hat also klar das Gefühl, dass hier selektiert wird.
Gibt es Deutschkurse? Nur in der Kirche, am Freitag von 12 bis 14h, genau zur Zeit des Jumaá ? Gebets. Wer nicht teilnimmt, muss Busse zahlen. Man ist stark der Willkür der zuständigen Sozialarbeiter ausgeliefert, manche sind hilfreich, andere gar nicht.
Was erhoffen sich die Menschen, die hierher kommen? Man denkt, man könne hier ein neues Leben beginnen, der zurückgelassenen Familie helfen, deren Lage oft prekär ist. Z. B. in Somalia hat man fast keine Lebensgrundlage ohne Unterstützung aus dem Ausland. Es herrscht Krieg, die einzige Hoffnung neben den Familienangehörigen sind Hilfsorganisationen wie das Rote Kreuz. Wenn jemand um Asyl ansucht, bekommt er in der ersten Wartezeit 500 Schweizer Franken monatlich, wird er abgewiesen, sind es während dem Rekurs noch sfr 300, als angenommener Flüchtling sfr 900 im Monat. Mindestens sfr 200 wandern pro Monat ins Heimatland, hat man kranke Verwandte, oft um einiges mehr. Viele haben Mitte des Monats bereits kein Geld mehr und machen Schulden bei Mitbewohnern. Es sind oft halbe Kinder, knapp volljährig, die von hier aus ihre Eltern, Geschwister, deren Kinder ernähren. Der Druck seitens der Familie ist gross.
Haben die Flüchtlinge in der Regel vor, langfristig hierzubleiben oder stellen sie sich eher auf einen vorübergehenden Aufenthalt ein, während dem sie Geld verdienen können um danach in die Heimat zurückzukehren? Es gibt beides. Manche tragen sich mit dem Gedanken, zurückzukehren und daheim ein Geschäft aufzubauen. Für andere ist Europa ?alles?. Die Mehrzahl will bleiben, vielleicht 70 ? 80%, meist sind es jüngere, es gibt aber auch sehr alte Menschen, die sich aufs Bleiben einstellen, unter Umständen Familie hier haben, sich hier eine höhere Lebensqualität erhoffen. Andere Menschen ab einem gewissen Alter würden um keinen Preis ihr Heimatland verlassen wollen.
Wie steht es um die Zufriedenheit der Menschen hier? Viele sind nicht zufrieden, haben vor allem Angst um den Glauben ihrer Kinder. Wie viel Zeit verbringen wir mit unseren Kindern und wie viel Zeit sind sie unter anderer Aufsicht? Wir sind hierhergekommen mit unserem Glauben, unsere Kinder wurden hier geboren. Es fehlt der Adhan, der Gang zur Moschee ? mit diesem wächst der Glaube langsam. Ich kann die Kinder hier am Wochenende in die Madrassa schicken aber das reicht nicht. Es ist ein ?Glücksspiel? mit 50/50 ? Chancen. Man sieht häufig junge Menschen, die den Glauben ihrer Eltern hinter sich lassen und dies offen zugestehen. Man kann da nichts machen.
Was würden Sie sich von Seiten der einheimischen Muslime wünschen? Die Muslime wären aufgerufen, mehr für uns zu tun. In solchen Heimen sind oft über 50% Muslime, niemand besucht sie. Etwa 10% davon beten. Ein ? zweimal im Monat eine Unterweisung in ihrem Din (ihrer Religion) würde sie sicher unterstützen. Es wäre ganz etwas anderes, wenn ab und zu ein Imam hierherkäme, auch eine Frau, die den Frauen als Gesprächspartnerin zur Seite steht. Sowieso gehen nicht alle Kinder freiwillig in die Madrassa... Es gibt unter den Bewohnern des Hauses wohl manche, die zu dieser Art Unterricht qualifiziert wären, auch Lehrerinnen. Allerdings sind diese häufig selbst bedrückt und überfordert und nicht in der Lage, diese Aufgabe in grösserem Rahmen wahrzunehmen. Viele der Bewohner würden gerne den Qur´an lesen, wenn sie es könnten. Es wäre sicher hilfreich für die Muslime, in ihrem Iman gestärkt zu werden, würde ihre Depressionen lindern und ihre gegenseitigen Aggressionen dämpfen, allzu oft geraten sich gerade Muslime in die Haare, die an einem Tiefpunkt angelangt sind. Wenn man Zuwendung und Hilfe erfährt, wird man dankbar, zufriedener. Man würde sich miteinander und in der Schweiz allgemein wohler fühlen. Eine andere Art von vorstellbarer Hilfeleistung wäre, wenn es Anwälte gäbe, die den Asylbewerbern günstig zur Verfügung stünden. Es gibt viele Asylbewerber, die in der Heimat massive Probleme haben, jedoch nicht wissen, wie sie ihre Rechte hier einfordern können. Der kleinste Fehler, ein falsches Wort, bewirkt oft einen Negativentscheid. Die räumliche Enge ist ein weiterer Problempunkt. Nur eine Toilette pro Stock, eine Küche für über 60 Menschen, bis zu 5 Familien müssen sich einen Kochherd teilen. Es gibt oft Konflikte und Streitereien wegen dem Putzen, wenn etwas kaputt geht; in Zimmern von geringer Grösse leben drei Asylbewerber zusammen, das ist die Regel, auch bei Familien. Die Kinder dürfen nicht auf dem Gang spielen, auch das wird gebüsst. Hat dann jemand vielleicht einen positiven Entscheid bekommen, stellt sich das Problem der Wohnungsfindung. Oft findet man keine Wohnung und muss bleiben.
Wenn Sie ihren Lieben in ihrem Heimatland einen guten Rat geben wollten, empfehlen Sie ihnen dann, dort zu bleiben, oder hier um Asyl anzusuchen? Keinesfalls empfehle ich ihnen, ihr Land zu verlassen. Aber sie glauben, sie wüssten es besser, würden Europa übers Internet kennen und wollen nicht hören. Es geht mir hierbei vor allem um ihren Din (ihre Religion). Natürlich kann man überall vom Weg des Glaubens abkommen aber die Wahrscheinlichkeit ist hier ungleich höher ? wie gesagt ich schätze 50%, im Vergleich zu vielleicht 10 ? 20% im Heimatland.
Können Sie sich frei bewegen, wenigstens innerhalb der Schweiz? Nein, man darf sich nicht einmal aus dem Kanton wegbewegen, auch nicht für einen Besuch. Dort, wo man registriert ist, muss man bleiben. Was unter Umständen zu schwer verständlichen Entscheiden führt ? Leute, die perfekt französisch sprechen und daher in der französischen Schweiz viel die besseren Chancen hätten, müssen hier bleiben, auch mit Bewilligung ?B?. Mit dieser kann man höchstens, wenn man eine Arbeit findet, in einen anderen Kanton ziehen. Mit ?F? oder gar ?N? - keine Chance.
Was wünschen Sie sich von Allah taala für sich und andere? Jedem das, was er sich im Herzen wünscht, was er braucht!
Und für Sie selbst? Für mich? Was Allah für mich arrangiert hat, akzeptiere ich. Ich bitte nicht um dies und jenes, das ich glaube, zu ?brauchen?. Mein Geld reicht aus, ich kann damit auch anderen oft aushelfen. Solange ich für meine Kinder zu essen habe, kann ich Gott danken. Al Hamdu Lillah.
Heimat, das kann ein Ort sein, an dem es uns "warm ums Herz" wird. Wir kennen Farben und Formen, Strassenbilder, Athmosphäre, Gerüche und Geräusche. Es sind uns die Windungen der Strassen, deren Bodenwellen vertraut, wir wissen, welches Bild uns hinter der nächsten Ecke erwartet, verbinden jedes Fleckchen mit Erlebnissen, Personen, Situationen, Gefühlslagen und fühlen uns - im Rückblick zumindest - in all diesen Stationen des Lebens aufgehoben. "Daheim" eben. Denn dieses Stück Erde hat uns getragen in "guten und schlechten" Zeiten, hat uns "Stabiliät" vermittelt in Momenten der Freude und Erfülltheit, in denen der Trübsal oder der Erschütterung, der Bodenlosigkeit in uns selbst. Die Wärme in unserem Herzen, die sich in der Heimat einstellt, kann grossenteils als Dankbarkeit für dieses "Tragen" eingestuft werden.
Heimat kann aber auch ein "Ort" sein, an dem wir im weiteren Sinne "wohnen". "Daheim" sein (oder nicht) können wir auch in Tätigkeiten, Sprachen, Verhaltensweisen und Gewohnheiten, geistigen Betrachtungen oder menschlichen Beziehungen. Alles, was unser Wesen zum Schwingen und Klingen zu bringen vermag, Resonanz ermöglicht, unserem Sein einen "Klangkörper" zu verleihen vermag, wird als ein Stück "Heimat" empfunden. Sobald es einem Wesensanteil von uns gelingt, in solch einem "Raum" oder "Feld" in harmonische Schwingung zu kommen, empfindet es Geborgenheit, Zuhausesein.
Der Philosoph Martin Heidegger hat dieses Daheimsein im Sinne eines "Austragens der Fülle, Weite, Tiefe, Heimatilichkeit und Ewigkeit" des "liebenden in der Welt Sein Könnens" der "Grundbefindlichkeit der Angst des auf sich selbst zurückgeworfenen, isolierten Daseins" entgegengestellt. Heidegger hat den Begriff des WOHNENS transzendent gesetzt, dieses Wohnen (in der Welt) gar mit dem Sein des Menschen identifiziert. Er definiert es als "ontologisches Geschehen" (Geschehen des Seins), es stelle den Menschen "aus dem Alltag heraus in dessen Seinswahrheit."*) Dieses "Wohnen des (menschlichen) Feldes" in einem "Raum" beschreibt er als "vermittelndes Gebäude zwischen Mensch und Welt", das heisst, als ein Fundament, welches im erweiterten Raum einen Ausgangsort bietet. Allerdings handelt es sich gemäss Heidegger nicht um statische Gebäude, in denen wir es uns "bequem" machen können, sondern es ist das (dynamische) Bauen, als Wahr - nehmen des menschlichen Seins sowie auch das Denken, welches er immer als ein "Hindenken selbst zu einem fernen Ort" begreift, in dem es nicht um ein Sich - Einrichten geht sondern um menschliche Selbstverwirklichung. "Im Bauen verwirklicht sich der Mensch, insofern wohnt er."
Wir brauchen also einerseits Bezugspunkte bezw. - felder in unserer Existenz um uns in der Welt zurechtzufinden. "Orte" im weitesten Sinne, die dazu geeignet sind, unserem Wesen jenes Erklingen zu ermöglichen, welches in seiner Steigerung ins Orchester des Lobpreises Gottes einzustimmen vermag. "Räume" als Orte für das Tun des "Bauens", durch welches wir in etwas grösseres "hineinweben" und " - schwingen" und durch welches wir unser Menschsein verwirklichen.
Diese Ausgangsorte unseres Tuns sind in gegenwärtiger Zeit starkem Wandel unterworfen. Der "Takt" welcher den Ton unseres "Bauens" angibt, wird ständig schneller, härter, oberflächlicher. Die stetige Herausforderung zur Anpassung an durch technisch - elektronische Entwicklungen auferlegte Veränderungen verlangt uns viel an Flexibilität, auch Kraft ab, fordert ein grosses Mass an Fokussierung auf das "Aussen", welches wir häufig nur auf Kosten unseres zutiefst menschlichen, individuellen "Hineinbauens" in tiefere, weitere Räume aufbringen können.
Ortsbilder verändern sich von demütiger Ausgewogenheit und Schönheit, hin zur Manifestation von Extremen menschlicher Machbarkeit. Tätigkeiten unterliegen zunehmend dem Diktat weltweit gleichgeschalteter (elektronisch gesteuerter) Takte und Rhythmen, umfassen längst nicht mehr das eigentliche Potential unserer Kreativität und werden, besonders diejenigen des Broterwerbs, als zunehmend einschränkend, einseitig auslaugend, Selbstverleugnung fordernd empfunden. Menschliche Begegnungen finden - in entsprechend abgeflachter Forme - grossenteils auf Bildschirmen statt, die zu unseren ständigen Begleitern und erstrangigen Bezugspunkten geworden sind. Ja, man kann wohl mit Fug und Recht behaupten, eines unserer wichtigsten "Zuhause" ist heutzutage jenes des "World Wide Web" - hier "wohnen" wir, hier "bauen" wir.... Beziehungen, Gefühle und Erlebnisse bleiben immer öfter an der Oberfläche unserer Wahrnehmung und in ihrem Ausdruck weit hinter dem eigentlich Möglichen unseres Seins und Werdens zurück. Der harte, monotone Rhythmus, welcher auch die moderne Musik charakterisiert, hat sich in allen Lebensbereichen niedergeschlagen, vom befehlenden Stakkato der Elektronik getrieben jagen wir immer weiter hinein die Breite alles Machbaren, hinaus aus der Tiefe des Seins.
Um der "Grundbefindlichkeit der Angst" entgegenhalten zu können, um sie als Platzhalter in der Tiefe unserer Wesen in ihre Schranken zu weisen, kämen wir nicht umhin, dem "liebenden In - Der - Welt - Sein - Können" alle nur möglichen Formen und Gestalten zu geben, neue "Resonanzkörper" zu bilden, in denen unser (liebendes) Sein in seinen Tiefen zu schwingen vermag. Selbst Instrument obliegt es uns gleichzeitig, uns den kosmischen, göttlichen Melodien und Rhythmen zu öffnen, unserem Wohnen, unserem Daheimsein wieder die ihm gebührende Weite - Fülle - Tiefe zuzugestehen. Unserem menschlichen Dasein die Tore wieder weit zu öffnen, welche ihm das "Bauen" hinein ins Bleibende, Ewige - einzig wirkliche Zuhause erlauben.
*)Eduard Heinrich Führ : Martin Heideggers Phänomenologie des Wohnens