In welcher Wirklichkeit leben wir eigentlich? Und, «wenn ja, in wie vielen»? (Frei nach R. D. Precht). Ist meine Wirklichkeit realer, als die meiner Nachbarin? Wo überhaupt verläuft die Trennlinie zwischen subjektiver und intersubjektiver Wirklichkeit und – gibt es eine objektive Wirklichkeit oder ist alles relativ und wird erst in Beziehung real? Ja, und was bin Ich inmitten dieser Relationen? Gibt es ein klar abgegrenztes, stabiles «Ich»? Anlässlich von Ausnahmezustand, Viren und Quarantäne hatte und hat man derzeit genügend Anstoss, Zeit und Musse, für solche und ähnliche Fragen. Aber Fragen, die einst (Hobby-) Denkern und Mystikern vorbehalten waren, verschwinden zusehends aus den Gesprächen unterm Abendhimmel und materialisieren sich als Forschungsobjekte auf dem Seziertisch, unter dem Elektronenmikroskop und in den Techniklabors von Silicon Valley. Und ihre Deutung und Handhabe wird dem einzelnen Menschen zunehmend aus der Hand genommen und ausgelagerten, algorithmischen Abläufen innerhalb einer technokratischen Gesellschaft anheimgegeben. Die ursprünglich metaphysische Frage nach der Wirklichkeit aber rückt auf dieser Ebene immer weiter aus dem Blickfeld und es wird unvermeidlich, angesichts ihrer Komplexität Auswahlen der Interpretation anhand des Prinzips der Verwertbarkeit zu treffen.
Yuval Harari hat findig und schlüssig dargelegt, wie über die Schrift Gedankengut verbreitet und etabliert werden kann, sodass damit nicht nur kollektive Identitäten über (unbeschränkt) grosse Menschengruppen hinweg geschaffen werden, sondern auch neue Räume entstehen, in denen Inhalte sich manifestieren und machtwirksam werden. Den Glauben an diese «Geschichten» bezeichnet er durchweg als «Religion». Dass Geld, Schmiermittel des Austauschs, mit einem inhärenten Wachstumsfaktor versehen, diesen Prozess exponentiell anheizt, kulminierend in beliebiger Energietransformation und Materieumwandlung über Elektrizität, Maschinen und Quantencomputer, als moderne Gefässe der Machtausübung. Dass eine auf Berechnung und damit auf kausale, determinierte Abläufe fokussierte, bürokratische «Erzählung» und Beschreibung der Welt eine Entfremdung von der ganzheitlichen Wirklichkeit des Menschseins mit sich bringt, die sich sowohl in der Definition der gemeinsamen Ausrichtung und Zielsetzung niederschlägt, als auch die subjektive Entscheidungsfreiheit immer stärker eingrenzt. Die Wissenschaft, als Motor im Prozess, will sich das Prädikat der «Objektivität» zuschreiben, bleibt allerdings, weit davon entfernt, objektiv und unabhängig zu sein, stets der sie bestimmenden Ordnung verhaftet. Sowohl was die Interpretation der Wirklichkeit betrifft, als auch, was die Nutzbarmachung ihrer Ergebnisse anbelangt, die sie ihr im Gegenzug vollumfassend zur Verfügung stellt. Der exponentielle Wachstumsfaktor in unserem Geld findet, im Verbund mit der verbürokratisierten Schriftsprache, in der Wissenschaft ein Instrument für eine Umgestaltung der Welt unter neuen Vorzeichen. Harari entlarvt diese Art von Wissen treffend als die dritte Ressource neben Rohstoffen und Energie. Während letztere aber per se endlich sind, ist «Wissen», das immer tiefer in die kausalen Zusammenhänge eindringt, eine wachsende Ressource, sie wächst mit dem Grad ihrer Nutzung. Sie manifestiert sich, innerhalb ihres unheiligen Bündnisses, wie von Zauberhand in der materiellen Welt - mit ihrem Zuwachs wachsen unterm Strich auch die Ressourcen Rohstoffe und Energie und damit die Plattformen der Machtausübung. Und sie drängt alle Wahrnehmungen, ausser der mit ihr verbundenen, aus dem Kontext des zwischenmenschlich Relevanten, spiegelt sich in Sinn – Inhalte – und Wertfragen stets an den ihr übergeordneten Glaubenssätzen, verwirklicht sich gemäss deren Zielen und treibt so ein Monopol auf die Ausgestaltung der Wirklichkeit voran. Und während der Zoom ins immer kleinere Detail für die subjektive menschliche Wahrnehmung und Erfahrung höchstens auf metaphorischer Ebene von Nutzen ist, wächst seine Relevanz und sein Einfluss innerhalb der «intersubjektiven» und gesellschaftspolitischen Ordnung diametral dazu an. Das Subjekt als Wahrnehmendes und als Interpret seiner eigenen Wirklichkeit wird somit zunehmend vom «Objekt» bezw. einer Art von «Übersubjekt» der Autorität über Beobachtung, Interpretation und Auswertung bevormundet.
Was ist «Ich»? Aus einer Perspektive, die alles Organische als Ansammlung von unablässig fluktuierenden Teilchen betrachtet, kann auch «Ich» als unteilbare Einheit nicht bestehen bleiben. Nachdem sich weder die Seele noch Bewusstsein oder Geist unter dem Mikroskop und auf dem Seziertisch offenbarten, liess sich im Kontext des Biologischen auch kein einheitliches «Ich» finden. Ausgehend von den beiden Gehirnhemisphären, besteht der Mensch wissenschaftlich gesehen aus unzähligen, oftmals widerstreitenden, leicht beeinflussbaren inneren Faktoren und Instanzen. Entscheidungsfindung findet als «Tauziehen» zwischen diesen statt. Eher sind wir aus dieser Perspektive also «Dividuen», nämlich Teilbare, als «Individuen» (Unteilbare). Die Vorstellung des «Ich» gehört, meint Harari, hier ganz im Einklang mit der wissenschaftlichen Sicht, zu den «erfundenen Geschichten… genauso wie Nationen, Götter und Geld». Geist und Bewusstsein lassen sich jedoch, als Gefässe der Wahrnehmung nicht so einfach «entsorgen» und auch Yuval Harari gefällt es nicht, diese womöglich im «Mistkübel der Wissenschaft» zu sehen, ist der Geist doch fester Bestandteil der Vipassana – Meditation und unentbehrlicher Prozessor im Bewusstseinsstrom, innerhalb dessen Wünsche, analog zu den Manifestationen des «Ich», entstehen und vergehen.
Wir erleben Bewusstsein als das Verbindungsglied zur Welt und zu uns selbst. Es zeigt sich als Reflexion, im Denken, in der sprachlichen Artikulation und nährt sich aus Empfindung und Emotion. Man kann es verfeinern, eine erhöhte Sensibilität und Differenziertheit entwickeln, es lässt sich, dem «Ich» vergleichbar, jedoch schwer fassen und umschreiben. Aber die «Geschichten», die wir uns über unser Leben und über uns selbst erzählen und der Sinn, den wir in ihnen erkennen, ist ihm zuzuschreiben. Die moderne Wissenschaft hingegen weiss erstaunlich wenig über Geist und Bewusstsein und ist «weit davon entfernt, dieses Rätsel zu entschlüsseln». Umso intensiver befassen sich Bio- und Neurowissenschaftler mit dem Gehirn, welches man mit seinen 80 Milliarden Nervenzellen und Synapsen beobachten, dessen biochemischen Phänomene der Reizübertragungen man in Form von «Signaturen» erkennen kann und wo man Schlaf, Wachheit, oder auch Gefühle wie Wut oder Liebe zu lokalisieren vermag. Es ist möglich, Zusammenhänge und Kausalverbindungen zwischen den elektrischen Strömen im Gehirn und subjektiven Erfahrungen nachzuweisen, nicht aber, festzustellen, dass subjektive Erfahrung die Ursache für die Bewegung der Elektronen ist, oder dass irgendwo so etwas wie Geist auf der Basis einer freien Entscheidung, gar eines autonomen «Ichs» in den Vorgang eingreift. Ist also Bewusstsein eine Angelegenheit von biochemischer Reizübertragung, des Aufeinandertreffens von Teilchen, gipfelnd in einer Art «infinitivem Regress», aus dem es dann entspringt? Dies wäre ganz im Sinne der Evolutionstheoretiker und die Hoffnungen mancher Wissenschaftler mögen in diese Richtung gehen. Einstweilen geht man davon aus, dass zwar Tiere, Descartes zum Trotz, offenbar Bewusstsein besitzen, Maschinen, auch datenverarbeitende, wie Computer oder die Börse, und Gegenstände hingegen kein Geist besitzen. Sie können, das ist das Kriterium, aus sich selbst heraus nichts fühlen oder begehren. Genaugenommen aber ist niemand dazu in der Lage, «Geist» oder «Bewusstsein» bei anderen Wesen als bei sich selbst festzustellen und es könnte dementsprechend schwierig sein, zu beurteilen, ob Roboter und Computer ein solches (je) besitzen (werden), sind sie doch ganz anders aufgebaut, als organische Lebewesen. Man kann in der Frage jedoch ruhig Gelassenheit zeigen und abwarten, denn die Funktion des Bewusstseins weicht aktuell der rational fassbaren, wissenschaftlich gestaltbaren und praktisch nutzbaren Vorstellung des «unbewussten Algorithmus». Da dieser nämlich innerhalb aller biochemischer und neuronaler Abläufe beobachtet und definiert werden kann, erübrigt es sich zunehmend, sich mit dem Bewusstsein überhaupt zu befassen; die Lösung ist darum, dessen Erforschung einfach beiseite zu lassen. Man bestreitet einfach die Relevanz des Unerklärlichen und beschreibt, anstelle dessen, alles Leben und dessen Äusserungen als Zusammensetzung von Algorithmen. Wurden im letzten Jahrhundert auch Emotionen, im darwinistischen Sinne, noch mit ihrer überlebenstechnischen Notwendigkeit begründet, der Geist und der Wille als Souverän über unseren Körper und Triebfeder unserer Entscheidungen verstanden, werden nun Gefühle wie Glück und Leid, Freude und Angst, Ekstase und Verzweiflung, Schmerz, Wut und Liebe als «nichts anderes als unterschiedlich ausbalancierte körperliche Empfindungen» definiert. Gängige wissenschaftliche Lehre ist heute: Emotionen haben keine «Funktion». Sie sind mehr oder weniger angenehme Sinnesempfindungen, die sich, unabhängig vom Anlass ihres Entstehens, im Körper als «Hitze, Brennen, Spannung, Erregung, Ruhe, Kribbeln, Schauer» etc. äussern. Dem Bewusstsein wird von den Forschern in diesem Kontext zwar immer noch «möglicherweise grosser moralischer und politischer Wert» eingeräumt, eine wie auch immer ins Biologische wirkende Funktion wird ihm jedoch schlicht abgesprochen. Aus wissenschaftlicher Perspektive übernehmen diese – Algorithmen. Und mit ihnen eine Flut von Daten.
Unter einem Algorithmus, als Begriff seit dem 9 Jh in Gebrauch, versteht man eine «methodische Abfolge von endlichen Schritten mit deren Hilfe Berechnungen angestellt, Probleme gelöst und Entscheidungen getroffen werden können». Gleiche Voraussetzungen bringen das gleiche Endergebnis. Maschinen funktionieren auf der Basis von Algorithmen. Sie basieren auf mathematischen Formeln und Gleichungen, man hat für sie aber mit dem Aufkommen von Computern und Datenverarbeitung eigene Sprachen entwickelt, die über das Rechnerische hinausgehen, sogenannte formale Sprachen. Damit werden komplexere Handlungsabläufe so beschrieben, dass sie von einem Computer verarbeitet werden können. Computerprogramme werden in dieser Sprache, mit strikter, fantasieloser Syntax geschrieben. Ihre Algorithmen sind in ihren Schritten determiniert, ausser man baut einen Zufallsfaktor absichtlich ein. (Quelle: Internet). Sie sind, sozusagen, die technologische Weiterentwicklung der verbürokratisierten Schrift, welche die Bandbreite der menschliche Ausdrucksvielfalt einschränkt, entfremdet und nun auf rein funktioneller Basis weiterentwickelt. So fremd uns das Wesen der Algorithmen aber ist, wir schätzen sie dennoch überaus, als alltägliche Begleiter, als «Gehirn» in unseren Haushaltsgegenständen und Fortbewegungsmitteln und über Computersysteme und Apps sind sie in mittlerweile in allen unseren Lebensbereichen präsent. Seien es die Algorithmen von Google, Facebook, oder Amazon, die uns zum Teil bereits besser kennen, als unsere Freunde, die des Navigationssystems in unserem Auto, oder die «Watch» auf dem IPhone, ihr Einbezug in unser Leben wird zusehends interaktiver: Während wir sie benutzen, «lesen» sie uns, entwickeln ihre Kompetenzen dadurch weiter und werden als KI – Programme zu Partnern, die uns immer mehr an Verantwortung abnehmen. Im Gesundheitsbereich z. B. Watson, ein Programm von IBM, das bei der Erfassung und Diagnose von Krankheiten, bereits «enorme potenzielle Vorteile gegenüber menschlichen Ärzten» hat und die Ausbildung von Ärzten schon bald überflüssig machen könnte. Apothekencomputer arbeiten im Gegensatz zu Menschen fehlerfrei. Google Flu Trends kann Grippetrends 10 Tage voraussehen. Es gibt künstlerische, z. B. musikalische Programme wie EMI, die einen Vertrag hat, ein Album und einen Hit herausbrachte. Im Bereich «Spiele» war eines der ersten aufsehenerregenden Programme, der Schachcomputer «Deep Blue», der 1996 den damaligen Schachweltmeister besiegte. Die neue Generation der KI aber setzt mehr auf maschinelles Lernen denn auf menschlichen Input, das heisst, sie entwickelt sich autonom weiter. Wie z. B. das Spiel «Alpha Go» von Google Deep Mind. Solche Programme entwickeln in Eigenregie neue, nie gekannte Strategien, mit denen sie Menschen weit überlegen sind. Waze, eine GPS - Navigationsapp, ist viel mehr als eine Karte. Sie kommuniziert mit uns interaktiv und schlägt Entscheidungen vor. Derartige Algorithmen werden schnell zum Souverän, wenn sie mehr wissen als wir, wir sie mit der Entscheidungsfindung betrauen und somit mit Macht ausstatten. Wie auch Cortana, die digitale Assistentin von Microsoft, bereits Bestandteil von Windows, die über den Zugang zu allen Dateien, Emails und Anwendungen in allen Lebenslagen «beratend zur Seite zu stehen» will. In nicht ferner Zukunft könnten diese Systeme zu Akteuren werden und unmittelbar miteinander sprechen, ohne dass ihre menschlichen «Mandanten» etwas davon wissen. Sie könnten sich weiters gegenseitig manipulieren, um die Interessen ihrer Besitzer zu befördern, ja, sogar die Unsitte der Vetternwirtschaft übernehmen und anderen Algorithmen mehr Macht übertragen. Sie könnten eine wichtige Rolle bei der Arbeits- und Partnersuche spielen und Erfolg könnte somit bald schon von der Qualität von Cortana, Google Now oder Siri abhängig werden. Heikel wird diese Art der «Beratung», wenn die Programme sich zwischen meinen verschiedenen «Selbsts» - nämlich dem erinnernden und dem erlebenden – entscheiden müssen, dann nämlich geht es um die Entscheidung zwischen Vernunft und (kurzfristigem) Genuss. Nicht immer will man sich für die effizienteste, gesündeste, zukunftsträchtigste Option entscheiden. Selbstoptimierung könnte unumgänglich, die Entscheidungsfindung darin zwanghaft werden.
Es sind die Biowissenschaften, die zum Schluss kamen, dass auch Organismen Algorithmen sind und die diese Vorstellung vorantreiben. Das Verständnis von Giraffen oder Tomaten, Bäumen, Menschen, Bienenvölkern oder Städten als Algorithmen durchbricht nicht nur per Definitionem die Schranken zwischen Pflanze, Tier und Mensch, sondern zunehmend auch zwischen Organischem und Anorganischem. Längst schon ist die Stigmatisierung von Psychopharmaka durchbrochen, auch die der «Aufmerksamkeitsoptimierung» von Schulkindern mit Aufputschmitteln wie Ritalin. Die Frage der Umgestaltung der Blaupause unseres Körpers, der DNA, schon bei der Entstehung von Leben, steht ständig im Raum. Mit bionischen Prothesen und Organen, einer Vielzahl an biometrischen Geräten, und Nanorobotern, die unsere Gesundheit überwachen und die rund um die Uhr online sind, soll Mensch in Zukunft ausgestattet werden. Diese müssen übers Netz permanent aktualisiert werden, damit die Krankheiten aus dem Cyberspace nicht auch bei meinem Herzschrittmacher, meinem Hörgerät und bei meinem nanotechnischen Immunsystem einhaken, die so «gehackt» werden, und ich eines Morgens aufwache, um festzustellen, dass nun «Millionen ferngesteuerte Nanoroboter» durch meine Venen kreisen. Ja, «Abkopplung wird den Tod bedeuten». Nicht nur die Willensfreiheit ist bedroht, nicht nur wird die veränderte Wahrnehmung auch unsere Sinn – und Bedeutungsinhalte modifizieren, auch die Schere zwischen den Privilegierten dieses Hightech - Systems und den «Verlierern» darin wird sich weiter öffnen. Auf dem Arbeitsmarkt ebenso wie im Gesundheitssystem gilt es, mit der Technik mitzuhalten. Bedroht ist einerseits eine breite Palette von «Allerweltjobs», die von Algorithmen viel besser erledigt werden können, andererseits wird es neue, gefragte Hightech - Jobs geben, wie z. B. Designer für virtuelle Welten. Und die Priorität im Gesundheitssystem könnte sich eher dahin wenden, Gesunde zu optimieren, als die Gesundheit von «Massen nutzloser Armer» zu verbessern. Eine Aufspaltung der Menschen in biologische Kasten steht uns ins Haus – in eine kleine und privilegierte Elite optimierter Menschen und eine relativ «nutzlosen niederen Kaste», die von den Computeralgorithmen ebenso beherrscht werden, wie von den «Übermenschen». Die liberale Lösung, sozialer Ungleichheit als unterschiedlichen menschlichen Erfahrungen gleichen Wert zuzuschreiben, wird zunichte gemacht, wenn nicht nur die ökonomische, sondern auch die biologische Kluft wächst. Es gilt, mit den nichtorganischen Algorithmen mitzuhalten, die sich unaufhaltsam von Handlangern zu Tonangebern wandeln.
Nicht nur der freie Wille, Pfeiler des liberalen Humanismus, nimmt unter dem Elektronenmikroskop immer grösseren Schaden. Was geschieht mit menschlichen Gefühlen als Autorität, als Parameter für Sinn und Wertzuschreibung, gar «Währungsdeckung» in einer von maschinellen, rationalen Vorgaben und der Nützlichkeit verpflichteten Welt? Welche Funktion bleibt dem Geist? Sie alle stehen vor einer Art Generalherausforderung. Und in einer Welt, in der die Gesetze der freien Marktwirtschaft gelten, in der Wachstum Bedingung ist, gilt für Organismen und DNA – Moleküle, für Geschichten, Vorstellungen und Fiktionen dasselbe, was für anorganische Algorithmen gilt: aufgewertet wird, was auf dem Markt besteht, abgewertet, was «überholt» wurde. Humanistische «Mythen», Glaubenssätze und «Lieblingsfiktionen» stehen wankend auf dem Podest. «Wir stehen vor einer wahren Flut äusserst nützlicher Apparate, Instrumente und Strukturen, die auf den freien Willen individueller Menschen keine Rücksicht nehmen». Ja, auch Homo sapiens selbst könnte bald zum «obsoleten Algorithmus» werden, Künstliche Intelligenz und Biotechnologie könnten unsere Gesellschaften und Ökonomien, unseren Körper und unseren Geist schon bald überholen.
Mit Sicherheit werden Menschen ihren wirtschaftlichen und militärischen Nutzen verlieren, weshalb das ökonomische und das politische System ihnen nicht mehr viel Wert beimessen wird. Als Kollektiv zwar wird das System den Menschen weiterhin schätzen, nicht aber als einzigartiges Individuum – bis auf die wenigen Angehörigen der neuen Elite optimierter Übermenschen. Und nicht nur seines Wertes, auch seiner Macht könnte Homo sapiens beraubt werden, wenn externe Algorithmen damit betraut werden, die z. B. als Investoren oder Liegenschaftsverwalter auch Prozesse führen und eine algorithmische Oberschicht bilden könnten, die den Grossteil unseres Planeten besitzt. Aber auch die Menschheit als Kollektiv sieht sich politisch herausgefordert, denn aufgrund veränderter Bedingungen für Datenverarbeitung sind auch Demokratie, Parlamente und Wahlen in Gefahr. Wähler spüren schon länger, dass ihnen der demokratische Mechanismus keine Macht mehr verschafft. Die neoliberale Maxime, alle wichtigen Entscheidungen und somit unsere Zukunft dem Markt zu überlassen, ist gefährlich, denn, man weiss es, was für den Markt gut ist, ist es nicht unbedingt für den Menschen. Das Verschwinden von Macht aus dem Kompetenzbereich von Wählern wie Politikern, zieht unvermeidliche Schuldzuschreibungen und manch abstruse Verschwörungstheorie nach sich und verhilft «Anti – Establishment – Kandidaten» aller Färbungen zum Aufstieg. Fest steht aber, die Macht wird nicht über Politiker wie Donald Trump, Bernie Sanders oder durch einen EU – Austritt zu den Wählern zurückkehren, auch die Entmachtung von Milliardären wäre zu kurz gegriffen. Solche Ansätze unterschätzen die Komplexität des Systems. Gutmeinende Politiker wie Diktatoren sind gleichermassen überfordert, werden durch die Entwicklungen «förmlich erschlagen» und denken daher auch in viel kleineren Dimensionen als ihre Vorgänger vor 100 Jahren, denn in einem chaotischen System ist der Tunnelblick immer von Vorteil. Obwohl die heutigen «Propheten» und (politische) Visionäre über ein ungleich breiteres Spektrum an Möglichkeit verfügen könnten, als ihre Vorgänger vor 100 Jahren, fehlt es in der Politik anfangs des 21. Jahrhunderts vollkommen an Visionen. Länder werden verwaltet, nicht mehr geführt. Das Unterfangen, neue Menschen zu schaffen, hat sich ausgelagert - die Verbindung von «gottgleicher Technologie mit einer Politik, die auf kurze Sicht fährt», hat ihre Schattenseiten und Machtvakuen halten selten lange vor. Wenn die traditionellen politischen Strukturen im 21. Jh. sich nicht mehr dazu in der Lage sehen, sinnvolle Visionen zu produzieren, dann werden sich neue und effizientere Strukturen bilden, die dies übernehmen und die «völlig anders aussehen als frühere politische Institutionen» egal welcher Couleur. Und wenn die Menschheit dieser Aufgabe nicht gewachsen ist, könnte sie es vielleicht «jemand anderen» versuchen lassen.
Kurz zurückgeblickt und reflektiert: Die Auslagerung von Verantwortung über Banken in juristische «Körperschaften» wie GmbHs und in die Zukunft, in Kombination mit immer neuer «Wertschöpfung» hat dazu geführt, dass Menschen nun gezwungen werden, reale Verantwortung zunehmend an «Körperschaften» abzugeben, die sich aus ebendiesem System ergeben und die dem Menschen definitiv entgleiten.
Zwei «Haupttypen der neuen Techno – Religionen» erscheinen nach Yuval Harari nun am Horizont: die des «Techno – Humanismus» und die der «Datenreligion». Die «Techno – Religion» ist die konservativere von beiden, die sich weiterhin an den traditionellen humanistischen Werten orientiert, an ihnen festhalten möchte. So will er die Kontrolle über den «geheiligten» menschlichen Willen, den «Nagel», an dem der Humanismus «das gesamte Universum hängt» aufrechterhalten. Erreicht soll das werden, indem Mensch sich fortlaufend selbst optimiert. Der technische Fortschritt wird uns allerdings dazu zwingen, die «massgebende Instanz», unsere inneren Stimme, auch unser Glücksstreben zu kontrollieren, quasi einzutunen, an «Knöpfen herumzudrehen» und Ungleichgewichte auszubalancieren, die nur allzu oft und in Zukunft voraussichtlich immer öfter, vielversprechenden Karrieren und soliden Beziehungen Abbruch tun. Vielleicht, fragt Harari rhetorisch, gelingt es ja gerade auf diesem Weg, der «Ummodlung» und Manipulation unserer Wünsche, die «Kakophonie widerstreitender Geräusche in unserem Inneren zugunsten einer «authentischen Stimme» in den Hintergrund zu drängen? Ja, vielleicht könnte man gar über wirkungsvolle Medikamente, Gentechnik, elektronische Helme und direkte Schnittstellen zwischen Gehirn und Computer Zugänge schaffen zu einer, ähnlich den Spektren von Licht und Klang, unendlichen Vielfalt von Bewusstseins – und Geisteszuständen, die «keine Fledermaus, kein Wal und kein Dinosaurier» je erlebt hat, die vom Menschen bisher höchstens mithilfe von Meditation, Rauschmitteln und Ritualen erfahren werden konnten? So wäre ein unvergleichlich breiteres Feld an Wunschmöglichkeiten verfügbar. Aber wäre dieses Szenario denn an sich wünschenswert, ist es erstrebenswert, «unangenehme Wünsche» aus der Welt zu schaffen – und wie verhielte sich dieser Eingriff in die Tiefe der menschlichen Psyche im Verhältnis zur Sinnfindung? Wie auch immer – der liberale Humanismus wird, so er im Kern bestehen bleiben will, dem «Techno – Humanismus» Platz machen müssen und dieser setzt auf ein technisch upgegradetes, «höherwertiges menschliches Modell»: auf HOMO DEUS. Dieser wird einige wesentliche menschliche Merkmale behalten, aber mit einem optimierten Körper und Geist versehen sein, die ihn in die Lage versetzen werden, sich sogar gegen die ausgeklügeltsten nicht – bewussten Algorithmen zu behaupten. Die Entwicklung dahinter bezeichnet Harari als die «zweite kognitive Revolution», und als solche als die «aktualisierte Variante der alten Träume des evolutionären Humanismus», der schon vor einem Jahrhundert die Schaffung von Übermenschen forderte.
Die zweite Variante von «Religion» im 21. Jahrhundert, wählt den Ausstieg aus dem Dilemma der menschlichen Wünsche als Zentrum der Welt in die Verlagerung des Quells allen Sinns und aller Autorität hin zur: Information. Die «Datenreligion» geht davon aus, dass das Universum aus Datenströmen besteht. Der Wert eines jeden Phänomens und Wesens darin bemisst sich nach seinem/ihrem Beitrag zur Datenverarbeitung. Entstanden ist der «Dataismus» nach Harari aus dem Zusammenfluss zweier wissenschaftlicher Flutwellen: dem Darwinismus, der Organismen als Algorithmen definiert und der Turing – Maschine, die elektronische Algorithmen immer ausgeklügelter fortentwickelt. Der Dataismus ist es, der im Einklang mit den Biowissenschaften behauptet, dass für biochemische wie elektronische Algorithmen genau die gleichen mathematischen Gesetze gelten und der somit die Grenze zwischen Lebewesen und Maschinen einreisst. Für Politiker, Unternehmer und Konsumenten hat er «ungeheure neue Möglichkeiten im Angebot» - er verspricht für manche Wissenschaftler den Heiligen Gral zu liefern: eine einzige, übergreifende Theorie, die alle wissenschaftlichen Disziplinen von der Musikwissenschaft über die Ökonomie bis zur Biologie vereint. Beethovens 5te und ein Grippevirus liessen sich so mit den gleichen Grundbegriffen analysieren und auswerten. «Ungeheuer attraktiv» scheint diese Möglichkeit. Der Dataismus «kehrt die traditionelle Erkenntnispyramide um». Einst galten Daten als der erste Schritt in einer vorausgesetzten Kette geistiger Aktivität: aus Daten gewinnt man Informationen, diese werden in Wissen und danach in Klugheit verwandelt. Dataisten aber glauben, dass «Menschen die ungeheuren Datenströme nicht mehr zu bewältigen und zu Klugheit zu destillieren» vermögen und dass daher die Arbeit der Datenverarbeitung elektronischen Algorithmen anzuvertrauen ist, deren Kapazitäten die des menschlichen Gehirns weit übertreffen. Der menschliche Geist wird also hier ausgebootet, indem die erste Stufe in der Kette geistiger Aktivitäten, nämlich die Information, zum dominanten Faktor erhoben wird und in Form des Internets aller Dinge, vom Bewusstsein abgekoppelt, an dessen Stelle tritt. Auf politischer oder systemischer Ebene ist diese Version der Bewältigung vergleichbar dem Kommunismus. Die menschliche Spezies ein einziger Apparat bezw. ein Datenverarbeitungssystem, einzelne Menschen Mikrochips im System, einem System, das immer weniger verstanden wird.
Manche Parallele zwischen den «Religionen» und deren Simulation der Inhalte gerade auch theistischer Religion, wird anhand des Dataismus, Fortsetzung des Kapitalismus, besonders deutlich. Wie schon der Kapitalismus nimmt auch der Dataismus, nach einer neutralen, unauffälligen Einstiegsphase, im fortgeschritten Stadium für sich in Anspruch, über Richtig und Falsch zu bestimmen. Die oberste Maxime, Quell aller guten Dinge im Kapitalismus, das Wirtschaftswachstum, wird im Dataismus durch die Informationsfreiheit ersetzt, oberster Wert dieser Religion ist der Informationsfluss. Dieses maximierte, alles durchdringende Datenverarbeitungssystem wird überall sein, alles kontrollieren und miteinander verbinden: Autos, Bäume, Hühner, Kühlschränke und Menschen. Ähnlich auch der hinduistischen Vision der Verschmelzung mit Atman. Der Vorzug von Menschen gegenüber Hühnern und anderen Tieren darin besteht allein darin, dass sie komplexere Prozessoren sind und «Datenfitzelchen von sich online stellen können». Die «unsichtbare Hand des Marktes» im Kapitalismus wird durch die unsichtbare Hand des Datenflusses im Dataismus ersetzt. Traditionelle Religionen sagen, Gott sieht mich jede Minute und kümmert sich um all meine Gedanken und Gefühle. Die Datenreligion sagt, dass jedes meiner Worte und jede meiner Handlungen Teil des grossen Datenflusses ist, dass mich die Algorithmen ständig im Auge haben und sich um alles kümmern, was ich tue und empfinde. Menschen wollen im Datenfluss aufgehen, denn dann sind sie Teil von etwas Grösserem als sie selbst. Erfahrungen haben nur dann Wert, wenn man sie teilt. So ist der Dataismus auch missionarisch und die grösste Sünde dieser «Religion» ist, den Datenfluss zu blockieren. Auch einen «Märtyrer» hat die Bewegung schon, nämlich Aaron Swartz, der sich erhängte, nachdem ihm zur Last gelegt wurde, dass er Daten einer Plattform unrechtmässig online gestellt hatte. Ein freier Datenfluss könnte durchaus auch Umweltvorteile haben, beispielsweise Luftverschmutzung und Müll verringern oder über eine Rationalisierung des Verkehrssystems. 50 Mill Autos könnten 1 Milliarde private PKWs ersetzen… vorausgesetzt, ich verzichte auf meine Privatsphäre und lasse die Algorithmen stets wissen, wo ich bin und wo ich hinwill. (Mittlerweile hat sich gerade gezeigt, dass auch Sorge um die Gesundheit ein grosses Potential besitzt, den Datenfluss gehörig in Schwung zu bringen.) Auch Sinnfindung wird den Algorithmen übertragen, welche nun, folgerichtig, die Gefühle als Instrument der Sinnfindung ablösen. Abkopplung vom Datenfluss birgt die Gefahr einer Sinnkrise. Wo aber kommen die Algorithmen her? Dies ist das «Geheimnis», das «Mysterium» des Dataismus. Computerfreaks schreiben sie, aber die wirklich wichtigen Algorithmen, wie etwa der Suchalgorithmus von Google und andere Masteralgorithmen werden von riesigen Teams entwickelt, von denen niemand den ganzen Algorithmus richtig begreift. Zudem entwickeln diese ja ihre Eigendynamik – und können Wege einschlagen, die Menschen noch nie gingen und wohin sie ihm auch nicht folgen können. Selbst wenn der Dataismus unrecht hat und Organismen nicht nur Algorithmen sind, wird er die Welt dann übernehmen, wenn er zum übergreifenden wissenschaftlichen Paradigma wird. Auch kann man wissenschaftlich nicht ausschliessen, was u. a. Ray Kurzweil im Buch «The Singularity is near» beschrieben hat: die Ausbreitung eines Algorithmus über den Planeten Erde hinaus, hinein in die Weite des Universums.
Yuval Harari betont zum Schluss, dass die «entworfenen Szenarien als Möglichkeiten, weniger als Prognosen verstanden werden sollten». Dass sein Anliegen sei, «den Ursprüngen unserer gegenwärtigen Konditionierung nachzuspüren, um ihren Griff zu lockern». Genau dieses Anliegen wollte auch mit diesem Artikel aufgegriffen werden. Es sollte auch veranschaulicht werden, dass und wie unsere Überzeugungen sich manifestieren. Es gibt in diesem Sinne kein «Aussen» und «Innen», alles fluktuiert…
Natürlich muss man als theistisch Gläubiger, als Muslim, Yuval Harari in manchem grundsätzlich widersprechen, allem voran in der Leugnung der Seele, jenes «Organs», das den Menschen mit dem Göttlichen, Ewigen verbindet, Zugang zu einer anderen Dimension gewährt sowie jener Dimension selbst. Aber wir alle sind aktive Teilnehmer am Prozess des «Abenteuers» im abgekoppelten Räumlich – Zeitlichen. Wir alle sind, im 21. Jahrhundert, nolens volens, Mittäter bei der Hinausschiebung von Verantwortung, Mitspieler im Spiel der Täuschungen, Mitgefangene in der Blase des Verlustgeschäfts, das sich «Fortschritt» nennt. Und nicht nur das. Wir sind Zeugen der fundamentalsten und ungeheuerlichsten Verschwörung der Menschheitsgeschichte: Derjenigen gegen Wahrheit, gegen Gerechtigkeit, gegen jegliches natürliche Gleichgewicht. Letztlich einer Verschwörung gegen die Wirklichkeit schlechthin zugunsten von Vergänglichkeit, Täuschung und Fiktion. Der Mensch, der seine eigene Geschöpflichkeit zur Diskussion stellt, sich selbst oberste Schöpfer – und Gestalterqualität anmasst, keinen Souverän ausser sich selbst anerkennt und seine Verantwortlichkeit als optional und beliebig eingeordnet hat, hat sich vor allem gegen sich selbst und seine ureigenste Natur verschworen. Wir haben die Freiheit mitbekommen, zu Zeugen gegen uns selbst zu werden, den Folgen davon aber können wir uns nicht entziehen - in der Dimension des Zeitlichen wie in der des Ewigen.
Yuval Harari hat mit seinen Büchern, mit seinem Röntgenblick durch alle «Geschichten» und Fiktionen der Menschheit, auch mit seiner radikalen Entlarvung aller Ansätze menschlichen Hochmuts, Übermuts und der Zuschreibung und Anmassung von Göttlichkeit, unweigerlich einen wertvollen Beitrag geleistet, uns aufzurütteln. Neben der Seele aber hat er noch ein Organ verkannt, das beim Festhalten an wahrer Spiritualität, auch an Religion im wahrhaftigen Sinne, im Sinne von Hinwendung zum Quell der Existenz, essenziell ist: Das Herz. Keine Kultur und Tradition, in der dem Herzen nicht eine zentrale, auch spirituelle, Funktion zugeschrieben wird. Heute wird auch an der «Herzintelligenz» wissenschaftlich geforscht und Erstaunliches zutage gefördert. Das Herz als spirituelles Organ ist über das Zentrum der Emotionen hinaus möglicherweise auch Sammelbecken des «Ich», des «Selbst», auch des Bewusstseins. Es wird in der islamischen Tradition als Organ der Unterscheidung, Differenzierung, des Wissens und des Ursprungs der Absicht und Ausrichtung verstanden. Mit Sicherheit kommt ihm eine Schlüsselfunktion bei der Navigation durch die Herausforderungen unserer Zeit zu.
Wenn Bewusstsein durch unbewusste Algorithmen ersetzt wird, wird so gesehen also das Zentrum des Menschen stillgelegt, zugunsten herz – und seelenloser Intelligenz. Möge Allah uns davor bewahren, Der alleinige Inhaber von Kraft und Macht, Der, der alles sieht, hört und durchdringt und jedem Ding seine Form und Bestimmung gegeben hat. Erhaben ist Er.