Lesen Sie Harari? Oder winken sie ab? Ist er Ihnen zu banal, zu vereinfachend oder vielleicht zu schulmeisterhaft? Ertragen Sie seinen Atheismus, seinen nihilistischen Ansatz nicht? Es gibt Gründe, Hararis Bücher schnell beiseite zu legen. Aber es gibt mehr als genug Gründe, sie dennoch, und über manches Langatmige, Banale und Reduktionistische, auch Zynische und Provokante hinweg zu lesen.
Harari erzählt uns den Werdegang der 70 000 Jahre «Homo Sapiens» aus einer, seiner, Perspektive heraus, die man mitnichten in allen Nyancen teilen muss, um daraus inspiriert zu werden. Als Historiker erzählt er exakt, witzig und detailreich, oft mit ironischem bis sarkastischem Unterton. Er lässt den Leser an einer Art der Reflexion und Interpretation teilhaben, die nicht die Schubladenkiste gängiger Interpretationsmuster bemüht, sondern die möglichst unvoreingenommen wahrnehmen will, was ist. Harari meditiert regelmässig. Der so in der Tiefe gewonnene «Röntgenblick» auf die Dinge als Phänomene ist das Besondere seiner Schau. So entwickelt Harari auch manch eigenwillige Bezeichnung und Etikettierung, zum Beispiel, wenn er Ideologien partout und unterschiedslos mit Religionen gleichsetzt. Manches ist gewöhnungsbedürftig. Auf jeden Fall aber lohnt es sich, seine andere Betrachtungsweise für die Strecke seiner Bücher zu teilen ? man wird Kapitel für Kapitel durch überraschende und inspirierende Einblicke belohnt, auch, oder gerade wenn einem, trotz einer gewissen Selbsttranszendenz des Autors der transzendente Aspekt im weiteren Rahmen streckenweise schmerzhaft fehlen mag. Harari erstaunt, verblüfft immer wieder aufs Neue mit seiner aussergewöhnlichen aber stringenten Erzählung der Geschichte der Menschheit. Er deckt Parallelen und Querverbindungen in allen Glaubenssystemen («Mythen») auf, und führt die Fäden der Geschichte nachvollziehbar in die Gegenwart. Dabei nimmt er praktisch alle Gedankengebäude, Macht ? Sinn - und Bedeutungszuschreibungen sowie deren Manifestationen in der gelebten Realität aufs Korn und setzt diese Gebilde durchweg, zuweilen etwas brüsk und zynisch, in den Stand der Fiktionen. Stellt demzufolge auch die moderne, zunehmend auf Kognition (Intelligenz)und Biologie (Biotechnologie) reduzierte, sowie durch Geld (Kapital), Schrift (Bürokratie) und «erfundene Ordnungen» untermauerte und angefeuerte Wissenschaft und deren Ausrichtung fundamental in Frage. Er lässt einen meist darüber im Unklaren, inwieweit er selbst gewisse Perspektiven, wie z. B. die des Menschen als seelenlosem Organismus oder der spirituellen Sinnlosigkeit sämtlicher «Mythen» teilt, inwieweit er selbst materialistisch oder nihilistisch denkt und empfindet ? legt sich diesbezüglich nicht fest. Auf jeden Fall aber reklamiert Harari die Separation der Intelligenz vom Bewusstsein und eröffnet so einen Raum im Hintergrund, der als von der Wissenschaft unerforschtes, unberührtes, möglicherweise auch unberührbares Territorium gelten kann und der einen zunehmend spürbar durch seine Bücher begleitet. Dafür ist man umso dankbarer, als der dermassen sinnentkleidet gezeichnete Mensch nach einer Ergänzung, einer Relativierung oder zumindest Erklärung für seine Grobheit und Rücksichtslosigkeit, seinen Machthunger lechzt.
Die gefühlte Stärke des Autors der «kleinen Geschichte» liegt denn auch in der «Tabula Rasa», die er dem Leser bezüglich sämtlicher Gedankengebäude zumutet. In der Ausleuchtung und Entmystifizierung von zunehmend sinn ? und bedeutungsentfremdeten «Mythen». Er unternimmt es auch, die Relevanz der Glaubenssysteme der Moderne mit deren eigenen Glaubensgrundsätzen zu widerlegen; Zwar deren Potential, aber auch ihre Absurdität und Gefährlichkeit aufzuzeigen. Wir müssen hier, auch als möglicherweise theistisch Gläubige, Hararis Blasphemie in Kauf nehmen, um mit ihm am Grunde anzukommen, am Grunde eines hochaktuellen, von Gott «befreiten» menschlichen Denkens und Handelns, Kooperierens und Vorangehens. Und um mit ihm über diesen Weg mit allen tatsächlichen und möglichen Konsequenzen nachzudenken.
In der «kurzen Geschichte der Menschheit» behandelt Yuval Noah Harari vor allem die Entwicklung des Menschen von der kognitiven - vor ca 70´000 Jahren - über die landwirtschaftliche ? vor ungefähr 10´000 - bis zur wissenschaftlichen Revolution, die etwa vor 500 Jahren begann. Des «Homo Sapiens» der sich die Erde «brandrodend und geschichtenerzählend» untertan macht. Der Flora und Fauna ummodelt, «Nahrungsketten zerreisst und neu ordnet», der biologischen Fülle ein Ende bereitet, Arten ausrottet. Ein «Landraubtier», «ökologischer Massenmörder» ist dieser Sapiens. Die «grösste und zerstörerischste Kraft, die das Tierreich je hervorgebracht hat», sein Fussabdruck lässt sich nie mehr auslöschen, wohin er auch kommt. Seine Artgenossen drangsalisiert er und metzelt sie grausam und blutrünstig in möglicherweise «atemberaubenden Tragödien» nieder und verbreitet sich in «rasantem Feldzug» über die Kontinente. Wenngleich «kein anderes Tier jemals etwas Vergleichbares geschafft hat», befindet und titelt Harari explizit: «schuldig in allen Punkten der Anklage». Nun ja. Lassen wir das mal so stehen. Sapiens strebt mit «beispiellosen Erfindungsreichtum und unübertroffene Anpassungsfähigkeit» unbeirrbar die Weltherrschaft an. Dabei unentbehrlich sind ihm vor allem drei Werkzeuge: Die der Schrift, die des Geldes und die der «erfundenen Ordnungen». Diese nämlich sind es, welche die Verständigung und Organisation von Menschengruppen über maximal 150 Mitglieder und somit die Entstehung von Hochkulturen erst ermöglichen. Und die, ganz wichtig, aus der Entwicklung und Aufrechterhaltung von «Mythen» leben und atmen.
Die Verbreitung dieser «Mythen» oder «Fiktionen» wäre nicht möglich ohne einige Pfeiler. Einer davon ist die Schrift. Diese schloss eine «Lücke in unserem biologischen Erbe», insofern, als sie, in Kombination mit «erfundenen Ordnungen» menschliches Zusammenleben trotz «mangelndem biologischen Instinkt» in grossen Gruppen möglich macht. Sie unterscheidet sich jedoch insofern vom gesprochenen Wort, als sie Sprache nicht in ihrem gesamten Spektrum widergibt, sondern sie zugunsten des Bürokratischen und zulasten des Poetischen umgestaltet, wurde sie doch schon bei den Sumerern und anderen antiken Völkern vorwiegend zur Aufzeichnung von Daten und Zahlen benutzt. Anders als vollständige Schriftformen, wie z. B. die lateinische, oder die altägyptische, die auch Poesie, Gedichte, Geschichts- und Gesetzesbücher sowie Kochbücher hervorbrachte, genügte vielen urtümlichen Völkern diese partielle Schriftform, mit der sie vorwiegend Berechnungen anstellten, mathematische Daten verarbeiteten. Nebst der Aufzeichnung von Heiligen Schriften blieb diese Verarbeitung von Daten eine der wirkmächtigsten Aufgaben der Schrift. Mit dem überproportionalen Anwachsen der Bürokratie wuchs die Entfremdung von der natürlichen menschlichen Sprache und Denkweise, was reziprok auf den Menschen zurückwirkt. Heute, im wissenschaftlichen Zeitalter hat diese Entwicklung eine exponentiell wachsende Schieflage erreicht: Ganze Wissensgebiete haben sich «nahezu vollständig von der gesprochenen Sprache gelöst und finden fast ausschliesslich in mathematischer Schrift statt». So kommt es denn auch, dass sich die verbürokratisierte, institutionalisierte Schrift, welche uns zurzeit überschwemmt, von ihrer Rolle als «Dienstmagd des menschlichen Bewusstseins zunehmend zu dessen Herrin aufschwingt» die dabei ist, sich vollkommen zu verselbständigen und das «menschliche Joch» dabei gänzlich abzustreifen.
Ihren Höhenflug hätte sie aber nicht ohne ihren Partner, das Geld erreicht. Was ist Geld? «Geld ist ein launischer Freund» bemerkt Harari. Es befeuert den Aufstieg und den Untergang von Imperien. Geld ist das universelle Tauschmittel, mit dem wir «buchstäblich alles gegen alles eintauschen können», nicht bloss materielle Dinge sondern auch Dienstleistungen, sowie «spirituelle Werte». Gewalt kann zum Beispiel in Wissen eingetauscht werden, wenn ein Soldat sein Studium im Krieg finanziert oder Gesundheit gegen Gerechtigkeit, wenn die Ärztin ihre Anwältin mit dem Lohn ihrer Arbeit bezahlt. Geld ist «das einzige vom Menschen geschaffene System, das fast jede kulturelle Barriere überwindet und nicht nach Religion, Geschlecht, Rasse, Alter oder sexueller Orientierung frägt». Nebst dem Prinzip der universellen Tauschbarkeit beruht Geld somit auch auf dem, universellen Vertrauens. Geld hat immer versucht, Barrieren zu überwinden und ist nun dabei «die Dämme der Gemeinschaften, Religionen und Staaten zu unterspülen». Seine «dunkle Seite» ist daher, dass damit auch der Glaube an unbezahlbare Werte unterminiert wird, an Werte wie Ehre, Loyalität, Moral und Liebe, welche menschliche Gemeinschaften zusammenhalten. Geld vermittelt Vertrauen zwischen Unbekannten. Das Vertrauen in das unpersönliche System des Geldes triumphiert mit der Zeit über das Vertrauen innerhalb von Menschengemeinschaften, deren Werte werden verhandelbar wie Waren und die Welt «läuft Gefahr, sich in einen riesigen, kalten Markt zu verwandeln». Geld, so befindet Harari, sei «keine materielle, sondern eine «hochgradig spirituelle Angelegenheit», da es «Materie in etwas rein Geistiges verwandelt». Da Harari grundsätzlich keine Dimension ausserhalb von Raum und Zeit anerkennt oder berücksichtigt, unterscheidet er hier nicht zwischen «spirituell» und «alchemistisch», was in diesem Zusammenhang wohl passender wäre. Er übergeht die Tatsache, dass, egal wie potent dieses Geld als Verwandlungskünstler ist, es dennoch im Kreislauf der Umwandlung von Materie und Energie gefangen bleibt. In der, bis zur industriellen Revolution einzigen, «magischen Verwandlung» nämlich, die auch der menschliche Körper oder die Sonne vornimmt, wie Harari weiter unten feststellt. Und dass es also nichts anderes tut, als diesen Prozess zu befeuern und «auf Teufel komm´ raus» x - beliebig umzugestalten.
Harari vertritt den existentialistisch anmutenden Standpunkt, dass menschliche Transzendenz und Gottesbilder darauf aufbauen, wie Mensch lebt. Jäger und Sammler waren Animisten, da sie freien, autonomen und direkten Umgang mit allen (Geist-) Wesenheiten aus ihrer ebensolchen Lebensweise ableiteten. Die landwirtschaftliche Revolution bedingte Hierarchien, welche nun der Mensch ins Unsichtbare hinein quasi «weiterdachte» und sich so dem Monotheismus verschrieb. Trotz dieser Hypothese gibt er zu: «wir wissen nicht und werden wohl nie herausfinden, was die Jäger und Sammler glaubten». Der Fund von Göbekli Tepe, zum Beispiel wirft die Frage nach dem Zweck dieser Bauten auf, die vor ungefähr 11 500 Jahren errichtet wurden. Es ist durchaus möglich, dass in diesem Fall «erst der Tempel kam und dann das Dorf» - was klar auf theistische Überzeugungen schliessen liesse. Ungeachtet dessen aber, wieweit religiöse Ordnungen den Gemeinschaften zugrunde lagen, die «DNA als Währung der Evolution» musste sich durchsetzen und so setzte sich, trotz sinkendem Lebensstandard und anderen Opfern, die feste Siedlung mit der Zeit als Lebensmodell durch. Und mit ihr nun wuchsen die «erfundenen Hierarchien», der «Kitt», der die Massenkooperation von grossen Menschengruppen ermöglichte.
Ein interessanter Gedanke ist, dass sich für den sesshaften Bauern «die Zeit ausdehnte, während der Raum zusammenschrumpfte», dass Sesshaftigkeit also auch zur «Entdeckung der Zukunft» führte, wohl mit ein zentraler Baustein der «Mythen» und der «Geschichten über grosse Götter, Vaterländer und Aktiengesellschaften». Interessant auch deshalb, weil dieser Prozess noch andauert, worauf wir später zurückkommen werden. Ein aufschlussreiches Beispiel für einen derartigen Mythos und seine erstaunliche Natur bringt Harari gleich zu Beginn des Buches anhand des Beispiels der Firma Peugeot. Wer macht sich schon beim Autokauf Gedanken darüber, was an Mythen in so einer Firma stecken könnte? Als «eine der originellsten Erfindungen der Menschheit» bezeichnet Harari nämlich die GmbH. Wiewohl «juristische Person» sei diese nämlich dennoch juristisch nicht haftbar. Als «Körperschaft ohne Körper» und unabhängig von den Menschen aus Fleisch und Blut, die sie gegründet haben, besitzt sie, neben den Aktiengesellschaften, einen immensen Anteil an der politischen Macht. Und das, trotz «beschränkter Haftung» und obwohl sie als reine Fiktion nur «existiert», weil wir an sie glauben.
Fiktionen, erfundene Wirklichkeiten und soziale Konstrukte, so Harari, sind keine Lügen, wenn alle dran glauben. Er nennt sie «intersubjektive Wirklichkeiten» - «erfundene Wirklichkeiten» also, die allein in der kollektiven menschlichen Vorstellung existente Realitäten beschreiben. Solche liegen sowohl Körperschaften wie Nationen, Aktiengesellschaften und GmbHs zugrunde, wie auch den darunterliegenden Konzepten von Gott bez. Göttern, Religionen oder Ideologien und kulturellen Gebräuchen sowie Gesetzgebungen. Sie bilden, nebst Geld (Kapital) und Schrift (Bürokratie), in Form der Interessengemeinschaft von Markt und Staat die Grundlage zur Errichtung von Imperien. Im vorletzten Jahrhundert waren es niederländische, französische und britische Aktiengesellschaften mit ihren Söldnerarmeen, wie die der British East India Company, die auf dieser Grundlage erfolgreich die Kolonialisierung vorantrieben - die Globalisierung wäre ohne sie nicht denkbar. Heute haben «die Märkte für Telefonmarketing diejenigen für Kriege abgelöst», die Strategie ist aber dieselbe geblieben. Diese «Fiktionen» haben im Verbund mit dem Kapitalismus und der wissenschaftlichen Revolution, die sich im 16.Jh anbahnte, die heutige Welt mit ihren Machtgefällen geprägt und Verhältnisse geschaffen, in denen «Wissenschaft, Industrie und Kriegstechnologie in einer untrennbaren Beziehung» verbunden sind. Diese neue Koalition trägt im Vergleich zur landwirtschaftlichen Revolution um einiges härtere Züge und die schon zuvor geebneten Pfade werden nun, angetrieben durch die Idee von Fortschritt und Wachstum in immer engere, dichtere Bahnen gelenkt. Der Gedanke des Fortschritts untermauert im Geiste, was Kapital und Wissenschaft empirisch vorantreiben. Harari nennt den Machterwerb den «Prüfstein für Wissen» und stellt fest: «Die Rückkopplung zwischen Wissenschaft, Imperium und Kapital war vermutlich in den vergangenen fünf Jahrhunderten der Motor der Geschichte.» Und: «Die wissenschaftliche Revolution war keine Revolution des Wissens, sondern vor allem eine Revolution der Unwissenheit. Die grosse Entdeckung, die mit ihr losgetreten wurde, war die Erkenntnis, dass wir Menschen ? auf die wichtigsten Fragen keine Antworten wissen.» Nun, und in dieser Ignoranz betreten wir, etwa Mitte des 18. Jahrhunderts, die Ära der industriellen Revolution.
Worum geht es bei der industriellen Revolution? In ihrem Zentrum steht vor allem das: Energieumwandlung. Organischer Stoffwechsel in der Natur war lange der einzige Bereich, in dem Wärmeenergie und Bewegungsenergie kombiniert vorkamen. Die Sonne als Energiespenderin hielt diesen Energiefluss in Gang. Die industrielle Revolution machte es möglich, eine Energieform künstlich in eine andere zu übersetzen. Zum ersten Mal wurde so mit der Erfindung des Schiesspulvers im 9. JH in China Wärme in Bewegungsenergie umgesetzt und es sollte noch lange dauern, bis Maschinen erfunden wurden, die sich ohne Muskelkraft bewegten. Spätestens ab der Erfindung der Dampflokomotive aber war Mensch «besessen von dem Gedanken, dass sich mit? Maschinen eine Form der Energie in eine andere übersetzen liess». Es kommt nur darauf an, die richtige Maschine zu finden, dann kann man jede Energieform in jede beliebige Tätigkeit verwandeln. Der Verbrennungsmotor verwandelte «Erdöl in flüssige politische Macht» und die Elektrizität stieg zum «allgegenwärtigen Flaschengeist» auf.
Hat die Geschichte ein Ziel? Ja, sagt Harari, Kulturen befinden sich in ständigem Fluss, und haben die Tendenz, sich in Richtung Einheit zu entwickeln, «zu immer grösseren und komplexeren Kulturen zu verschmelzen». Der Preis für diese «Megakulturen», man ahnt es, ist der Verlust des Eigenen und der Diversität. So leben wir heute in einer Welt, in der die alten Kulturen sich «bis zur Unkenntlichkeit verändert» haben, nicht nur durch Vereinheitlichung von Sprache, Essgewohnheiten, Kleidung und sozialen Parametern, sondern auch durch Gleichschaltung in Politik, Wirtschaft und Rechtssystem. In einer Welt, in der die «Uhr und das Fliessband zur Schablone für menschliche Tätigkeiten» wurden und in der uns der Zeitgeist permanent in die Zukunft verweist, «angetrieben von dem nagenden Gefühl, dass hinter dem Horizont vielleicht etwas Wichtiges warten könnte», in der «Konsumismus zur neuen Ethik» avanciert ist, macht diese Umwandlung vor menschlichen Gemeinschaften natürlich nicht Halt: An die Stelle von Familie und Gemeinschaft rückt zunehmend Staat und Markt. Es sind «erfundene Gemeinschaften», wie Nationen oder Verbrauchergruppen, selbst im stetigen Wandel. Letztere, die Verbrauchergruppen lösen zunehmend die Nationen ab, der «Kulturalismus» ersetzt das «Fantasieprodukt Rassismus». Der liberale Humanismus, die tragende Ideologie des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts, befeuert diesen Prozess. Von diesem Wandel werden nicht nur traditionelle Gemeinschaften, sondern auch Glaubenssysteme, Religionen, überfahren und lahmgelegt - sie agieren nicht mehr, sondern reagieren nur noch. Eine nicht ganz von der Hand zu weisende Feststellung.
Woran also richtet der moderne Mensch seine ethischen Werte und Normen aus? Wie kommt er emotional mit der Verengung des Menschlichen hin zum Bürokratischen, Funktionellen, der Expansion des Technischen und den machtvollen, manipulierbaren Energiekreisläufen unseres Zeitalters zurecht? Worin findet dieser Mensch Sinn? Der Humanismus und mit ihm heute der liberale Rechtsstaat, die liberale Demokratie basieren, so Harari, auf der Überzeugung, dass «jedem Menschen eine heilige, unteilbare und unveräusserliche menschliche Natur innewohnt, die der Welt Sinn und Bedeutung verleiht und von der alle moralische und politische Macht ausgeht». Diese Vorstellung sei «keine andere als die christliche von der freien und unsterblichen Seele in anderem Gewand». Heiligkeit also, abgekoppelt von einem tieferliegenden, höherstehenden, sinn ? und massgebenden Urquell ? aus sich selbst heraus? Man mag zu diesem Gedanken stehen wie man will, Tatsache ist, dass der humanistische Gedanke den Menschen als letzte Entscheidungsinstanz betrachtet, ihm ultimative Verantwortung zumutet. Der Mensch steht plötzlich alleine in der Welt. Er empfindet sich als «frei», ist aber handkehrum bepackt mit einer neuen, grösseren Verantwortung denn zuvor ? nämlich der vollen Eigenverantwortung für seinen Lebenssinn, für sein emotionales Gleichgewicht, sein Glück.
In der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, einem geschichtsträchtigen und ? prägenden Dokument, ist u.a. vom «Recht auf Freiheit, Leben und Glück» die Rede. Harari nimmt dieses «Recht» aufs Korn und veräppelt den Artikel insgesamt. Nicht nur ist Glück vom Verhältnis zwischen Umständen und Erwartungen abhängig, es stellt sich zuweilen auch ziemlich unabhängig von den Umständen ein ? oder eben nicht. Weder die Französische Revolution hat uns glücklicher gemacht, noch politische Freiheiten oder Wohlstand, Frauen sind auch nicht unbedingt glücklicher, wenn sie arbeiten, stellt Harai nüchtern fest. Eher schon könne man das «Glück» der Unabhängigkeitserklärung wohl als «Lust» bezeichnen, meint er und schlägt daher ironisch u. a. diese entsprechende Umbenennung vor. Die «vorherrschende Religion unserer Tage», der liberale Humanismus, stellt zwar die «subjektiven Empfindungen des Menschen über alles andere», «stanzt» aber gleichzeitig unsere Bedürfnisse «vor». «Als Angehörige der westlichen Kultur werden unsere grössten Herzenswünsche heute durch romantische, nationalistische, kapitalistische und humanistische Mythen geprägt, die bereits seit Jahrhunderten fest verankert sind». Der «romantische Konsumismus» des Marktes mischt sich in unsere intimste Lebensgestaltung ein und trägt insgesamt, erwiesenermassen, mehr zum Unglück als zum Glück bei. Denn hier beisst sich die Katze definitiv in den Schwanz: Glück als Lust verstanden verunmöglicht den Weg zum wahren Glück, da dieses ja eben bedeutet, keinen subjektiven Empfindungen nachzujagen. Es ist genau genommen ein umfassendes Erleben von Sinn, das glücklich macht.
Das humanistische Verständnis einer sinn- und bedeutungsstiftenden «unveräusserlichen menschlichen Natur» führt sich, soweit man das aktuell beurteilen kann, jedenfalls zunehmend selbst ad Absurdum. Umso mehr deshalb, als ihr aus sich selbst heraus gar der Todesstoss droht: die Biowissenschaften nämlich finden «im Innersten des Menschen keine Seele und keinen freien Willen», sondern «nur Hormone, Gene und Synapsen, die das Verhalten des Menschen steuern». Und diese Biowissenschaften im Verbund mit der (Computer-) Technologie befinden sich auf siegessicherem Eroberungszug zur Beherrschung des 21. Jahrhunderts, in dem wir Krankheit und Tod, sowie «politische, ethische und spirituelle Zwickmühlen zunehmend als technische Fragen» behandeln. Ist die Sinnfrage selbst also auch technisch zu lösen? Wohl kaum?
Gerade das Gefühlsleben jedoch erweist sich als besonders empfänglich für die Neuerungen des technologischen Fortschritts. Nebst den Ängsten um die Zukunft und um unsere Gesundheit ist es tatsächlich auch das arme, fehlgeleitete Glücksempfinden, das sich als Anker für biochemische Interventionen anbietet. Glück ist ja, wissenschaftlich gesehen, wie alle anderen Gefühle auch, nichts als körperliche Empfindung. Und diese lässt sich, immer besser, manipulieren. Obwohl die Vorstellung des synthetischen Glücks immer noch abstösst und verstört, sind schwierige Gefühlslagen schon jetzt oft nur mit Psychopharmaka zu bewältigen. Dieser Betrug an unserem Glücksempfinden, der in seiner chemischen Manipulation kulminiert, ist dann wiederum auch nur sozusagen (ein) Türöffner für den nächsten Schritt, nämlich der «Optimierung menschlicher Eigenschaften» auf chemischer Basis. Diese ist medizinisches Projekt, weiss Harari: «Wir setzen heute «nicht mehr auf natürliche Auslese, sondern auf intelligentes Design», sprich Bio- und Cyborgtechnik sowie Entwicklung von nicht ? organischem Leben. Das fluoreszierende Kaninchen ist dabei eine Kuriosität am Rande. Was die Gentechnik zu entwickeln vermag, wie der Mensch beginnt «Gott zu spielen» beunruhigt und schockiert nicht nur Monotheisten. Gentechnik und Biochemie sind mit der «Neuerschaffung des Herrn der Schöpfung» befasst. Schon in naher Zukunft könnten Wissenschaftler an unserem Körperbau, unserem Immunsystem, an unseren geistigen und emotionalen Fähigkeiten «schrauben». Der Cyborg, ein Wesen, aus organischen und nicht ? organischen Teilen, die «untrennbar in unseren Körper eingebaut werden» und die «unsere Fähigkeiten, Wünsche. Persönlichkeit und Identität verändern» ist keine blosse Science ? Fiction mehr.
Auch am «wichtigste Projekt der wissenschaftlichen Revolution», dem ewigen Leben, wird intensiv geforscht. Calico, eine Tochtergesellschaft von Google hat sich dies zur Aufgabe gemacht und auf ihre Fahne bezw. Website geschrieben. So könnte es sein, dass die «Tage des Homo Sapiens» gezählt sind. Dass er «von einem gänzlich anderen Wesen abgelöst wird, das nicht nur einen anderen Körper mitbringt, sondern in einer anderen kognitiven und emotionalen Welt lebt.» Befreit von den «Fesseln der Biologie» entwickeln wir «mit rasanter Geschwindigkeit Fähigkeiten, mit denen wir nicht nur unsere Umwelt, sondern auch unsere Innenwelt verändern können». In Wirklichkeit «haben unsere neuen Technologien das Potential, nicht nur unsere Fortbewegungsmittel und Waffen zu verändern, sondern den Homo sapiens selbst mit all seinen Ängsten, Hoffnungen und Wünschen». In einer Gesellschaft, in der der Staat und der Markt sich an die Stelle von «Vater und Mutter des Individuums» schieben und in der die Schere der nützlichen und weniger nützlichen Mitglieder immer mehr auseinanderklafft, könnten wir uns bald allesamt als Cyborgs wiederfinden, mit einer «Elite von Übermenschen». Der Mensch könnte letztendlich, im Streben nach jener Megakultur zur «Singularität» gelangen: dem Moment, an dem «alles, was unserer Welt heute Sinn verleiht?. keinerlei Bedeutung mehr hat. Alles, was danach passiert, wäre aus unserer Sicht völlig unverständlich»
Yuval Noah Harari hält der Welt den Spiegel vor. Und es ist gut, dass er dies genau so tut, wie er es tut ? nüchtern und wissenschaftlich; abwägend, ohne ihr eine weitere Ideologie überstülpen zu wollen, ohne auch Lösungen anzubieten. Er stellt seine Sicht zur Diskussion und lädt dazu ein, hinzusehen.
Zum Schluss noch eine ziemlich abgegriffene, aber doch möglicherweise bedeutungsvolle Frage am Rande: Warum hat sich das Patriarchat in fast allen Gesellschaften und Kontinenten durchgesetzt, warum werden «männliche Eigenschaften universell höher geschätzt als weibliche»? Harari fragt, ob es daran liegen könne, dass sich entgegen der gängigen Annahme «die männlichen Angehörigen der Homo sapiens nicht durch überlegene Körperkraft?. sondern durch überlegene Sozialkompetenz und grössere Kooperationsbereitschaft auszeichnen». Hier möchte die Schreiberin fragen: liegt die ? von Feministinnen angeprangerte ? Überrepräsentation des Männlichen nicht eher darin begründet, dass Männer eine stärkere Affinität zum Abstrakten, zu den «Mythen» haben, sowie die Motivation, diese in besagten grossen Menschengruppen voranzutreiben? Es lässt sich nicht leugnen, dass Frauen zumindest auch, andere, erdnähere Prioritäten setzen und ihre Fähigkeiten lieber in unmittelbarem Kreis zur Geltung bringen. Wie sähen also sozusagen ideologieunabhängige, ressentimentbefreite, von keinem bloss reaktiven Feminismus geprägte, sondern authentische und lösungsorientierte weibliche Antworten auf die Probleme der Gegenwart aus? Was können wir Frauen dazu beitragen, die immer schwerer lastende menschliche Bürde zu erleichtern, die immer aufdringlicheren und unheimlicheren Technologien zu entmachten, den Weg zum Sinn, zum Glück wieder neu zu beschreiten?
Und die Antworten unserer muslimischen GelehrtInnen? Sie mögen nicht laut sein, diese Rufer in der Wüste, aber wer sucht und die Ohren spitzt, der kann sie doch finden.
Ob der Mensch (bloss) ein Algorithmus sei, warum der liberale Humanismus die siegreiche Ideologie ist, und ob wir auf die «Religion des Dataismus» zusteuern, darüber mehr in «Homo Deus».