Ein allgegenwäritges Bild: eine Gruppe von Menschen, die mit ihren Smartphones beschäftigt schweigend im Kreise sitzen, im Zug im Restaurant, zu Hause. Es beschleicht einen dabei irgendwie ein Gefühl von "stehengebliebener Zeit". Oder der Gedanke ans Höhlengleichnis Platos in einer Variation von immer wieder "zurückgespiegelter" Schatten, die in sich gefangen bleiben, weit davon entfernt, als Schatten einer darüber hinausgehenden Wirklichkeit überhaupt identifiziert zu werden. "Der Rahmen, die Matrix auf deren Basis unsere Gedanken mithilfe dieser Medien strukturiert und mitgeformt werden, formt zweifelsohne auch unsere Psyche mit", meint die US - Soziologin Sherry Turkle. "Wir verlieren die Fähigkeit, allein zu sein und erst das Alleinsein ermöglicht uns, uns selbst zu finden... das wiederum ist die Voraussetzung dafür, überhaupt Bindungen eingehen und Einfühlungsvermögen bilden zu können. Wir führen keinen Dialog "von Angesicht zu Angesicht" sondern bleiben gemeinsam einsam".
Schon seit jeher stand der Mensch gewissermassen im Spannungsfeld zwischen Schein oder Sein, zwischen Vorstellung und Wirklichkeit, mit dem mehr oder weniger ausgeprägten Wunsch das Wirkliche zu "extrahieren", zum Kern des Daseins vorzudringen. Die Philosophie, Domäne des Geistes, geht diesen Weg übers Denken, der "Geschmack" der Wahrheit hingegen ist Beigabe des Handelns. Nur über die lebendige Interaktion schöpfen wir unseren Erfahrungs - und Wissensschatz, sammeln Bausteinchen auf dem Weg zur Weisheit.
Im Islam gibt es für Transaktionen aller Art Vorgaben: Eine gute, reine Absicht wird vorangestellt. Fairness, keine Übervorteilung, Transparenz und: einmal getan, ist die Sache "bei Allah". Das gilt für Geschenke, für Zuwendung, für soziale Verträge und Bindungen (Ehe - und andere Vertäge). Auch das Islamische Wirtschaften beruht auf ebendiesen Grundsätzen und verbietet deshalb den Zins (Riba), der hier jegliche zeitliche Verzögerung der Transaktion (Riba Nasia) mit einschliesst. Vergleichen wir diese klaren Richtlinien mit der Art von Austausch, der wir uns heute gegenübersehen, kann sich einem schon mal der Magen umdrehen. Im Bereich der wirtschaftlichen Transaktionen sehen wir uns einem Wust von (noch) uneingelösten Versprechungen, Zahlungsaufschüben, Spekulationen über den künftigen Wert von Gütern und Wetten darauf gegenüber - während die Inbetriebhaltung dieser Spiele durch immer neue, mittlerweile rein elektronische "Kredite" aus dem Nichts hervorgezaubert wird, und der ganze Hokuspokus wird dreist durch Verzinsung und Verzinseszinsung in schwindelnde Höhen gepusht. Abgesehen vom riesigen Ungleichgewicht, das hier global geschaffen wird, besteht eine weltumspannende, alles durchdringende Abhängigkeit der Einzelparzellen dieses Spiels untereinander sowie gesamthaft von deren Quelle, den Banken. Der Faktor Zeit ist allpräsent mitinvolviert, man könnte eigentlich sagen, er ist zunehmend für sich alleine DAS Zahlungsmittel an sich. Geht man davon aus, dass die Arten der menschlichen Interaktionen miteinander "verwandt" sind und aufeinander einwirken, muss man hier eine überaus krankmachende Qualität feststellen.
Der Literaturwissenschaftler Rüdiger Safranski hat vor Kurzem ein sehr bemerkenswertes Buch mit Betrachtungen über die ZEIT - unter eben diesem Namen - herausgegeben. Er beleuchtet darin Zeit aus der Tiefe und unter Bezugnahme auf grosse Denker. So kann man bereits in den ersten Seiten lesen: "die vergesellschaftete Zeit ist auch die bewirtschaftete Zeit. Es wird mit Zeit gehandelt. Zeit wird zu Geld. ...Es bilden sich in der Gesellschaft Regionen mit unterschiedlicher Geschwindigkeit....die Zeit wird politisiert...." Geld - so Safranski im Kapitel über die vergesellschaftete Zeit - "öffnet den Zeithorizont nach beiden Seiten - in die Vergangenheit und in die Zukunft. Mit dem ganz und gar gegenwärtigen Geld" (man beachte hier den Unterschied zu einem Zahlungsmittel wie Gold oder Silber, die der Zeit quasi "standhalten"!) "wird eine Vergangenheit mit einer Zukunft verrechnet. So ist der Geldverkehr immer auch eine Transaktion mit der Zeit. Und im Kapitel "Zeit der Sorge": Zeit sei "als Gegenstand nicht zu fassen - immer schieben sich Ereignisse dazwischen... man ist immer auf etwas ausgerichtet, im Raum und in der Zeit.... diese intentionale Spannung, die sich auf ein Noch - Nicht oder Nicht - Mehr richtet, erleben wir als Zeit! (S 64)
Das moderne Wirtschaften nun spannt den Bogen dieser "intentionalen Spannung" unnatürlich weit, hält die Spannung künstlich aufrecht, baut sie immer weiter aus. Eine Spannung, die, so kann man annehmen, durchaus auch auf unser Lebensgefühl einwirkt, die es zu einer grossen Kunst macht, den Moment in all' seiner Vielschichtigkeit sowohl zu erfassen als auszuhalten und in ihm adäquat aktionsfähig zu bleiben. Durch die digitalen Medien, so bestätigt auch Safranski, wird diese Spannung auf einer weiteren Ebene gefüttert. Sie stellen, wie das Geld, einen Faktor dar, der diesen "Zeithorizont nach beiden Seiten zu öffnen" vermag, auch hier "die Zukunft als Domäne der Vorstellungen, mit der eine nicht abgeschlossene Vergangenheit immer aufs Neue genährt und bedient wird"!
Die spirituelle Wahrheit, dass alles mit allem verbunden ist, hat sich längst auch auf wissenschaftlichem Gebiet, wie z. B. der Quantenphysik oder der Tiefenpsychologie bestätigt. "Wenn an einem Punkt etwas geschieht, welches das kollektive Unbewußte berührt oder in Mitleidenschaft zieht, so ist es überall geschehen?, wusste schon der Psychiater Carl Gustav Jung. Das, was Jung unter dem Begriff des "kollektiven Unbewussten" (Erlebtes, Archetypisches), zusammengefasst hat, ist Teil unserer Identität, ebenso wie die Gesellschaft als formgebende Instanz, oder unsere künftigen Zielsetzungen und Möglichkeiten. Auch beschreibt Jung eine innere Motivation, die in diesem Unbewussten bezw. den Archetypen wurzelt, er nennt sie das "Numinosum", eine dem Göttlichen entspringende Urkraft, um vieles gewaltiger als der vernunftgesteuerte Wille, die unser Wollen und Streben, Wünschen und Sehnen aus der Tiefe durchdringt.
Nun wirkt, allem Anschein nach, aus dem (kollektiven) Unbewussten eine zunehmend traumatisch besetzte Wirklichkeit. Die Vermeidung einer echten Auseinandersetzung mit sich selbst sowie eine zugrundeliegene Endlosschleife der Verschuldung schiebt die "Stunde der Wahrheit" bezw. der "Er-/Auf-/Lösung" immer wieder auf und verursacht somit eine ständige - persönliche und kollektive - Retraumatisierung einhergehend mit dissoziativen (persönlichkeitsspaltenden) seelischen Erkrankungen und Perversionen, der Tendenz zu Gewalt ("Terror"), Realitätsverlust und Wahn. Gleichermassen kann man beobachten, dass auch das "Numinosum", diese Urkraft im Menschen, welche Ganzheit anstrebt, zum Ausgleich tendiert, teils furchterregende Züge entwickelt und stetig an unheilvoller Kraft gewinnt. Es wäre zu bedenken, ob es auch mit ihr in Verbindung steht, was wir weltweit an Gewalt und Schrecken beobachten können bezw. mit der aktuellen Unfähigkeit der Menschheit, sie in förderliche Bahnen zu lenken.
Um der ständigen Retraumatisierung und ihren Konsequenzen zu entkommen, müssten wir uns neu ausrichten; neue Rahmen schaffen; einem menschengerechten Ganzwerden auf persönlicher wie gemeinschafticher Ebene den Weg ebnen um dem Überhandnehmen der menschlichen Schattenaspekte Vorschub zu leisten. Müssten dem tiefen Willen in uns zum universellen Gleichgewicht, zu umfassender innerer und äusserer Prosperität und einem wohlwollenden Miteinander, wieder vermehrt auf affirmative, aktive Weise Raum geben.
Vielleicht könnte man anknüpfend an die Ursachenlehre des Aristoteles sagen: in der causa formalis sowie der causa materialis, sind und bleiben wir, wenn wir sie in ihrer Zweitrangigkeit nicht entlarven, gefangen - bezüglich der causa efficiens (derjenigen der Ursächlichkeit) und der causa finalis (Zielursache) hingegen sind wir ernsthaft herausgefordert, unsere persönliche Motivation und unsere Zielsetzung zu überprüfen - dasjenige, was im Islam als das Niyyat (die innere Ausrichtung) bezeichnet wird. Gerade als gläubige Menschen kommen wir eigentlich nicht umhin, den Fokus auf diesen Anfangs - und Endpunkt zu legen. Dabei dürfen wir uns auch bewusst machen: der Verstand ist ein Spiegel der Vor - Stellungen. Das Herz hingegen einer der Wirklichkeit. Diesen vor allem gilt es zu polieren.
Nochmals zurück zu Safranski und der ZEIT, Kapitel "Zeit und Sorge". Wie Sherry Turkle postuliert auch Safranski das Erleben von Alleinsein und "Langeweile" - im Gegensatz zur Ablenkung und zum Dauerkonsum - als elementar notwendige Grunderfahrung, in der das "Initiationsereignis der Metaphysik des Alles oder Nichts" sich ereignen kann. Der "Schrecken des horror vacui'", sich der "Abgründigkeit des Menschen zu stellen" (M. Heidegger) ermöglicht nämlich "nichts Geringeres als die Freiheit des Daseins als solche...welche aber ...nur geschieht, wenn es (das Sichbefreien) sich zu sich selbst entschliesst". Safranski/Heidegger nennen hier die Voraussetzung dafür, was der Muslim in letzter Konsequenz als Tauhid - die Anbindung an den Einen Gott - kennt. Hier und über die Ausrichtung unseres Herzens, liegt zweifelsohne der "Dreh - und Angelpunkt" für jeglichen Neubeginn. Sodann kennen wir Muslime die Sunna unseres Propheten als Leitfaden für den persönlichen wie gemeinschaftlichen Weg. Wirkliche Ganzwerdung, "Individuation" nach Jung, findet so im Pendeln zwischen "Verselbstigung" und "Entselbstung" statt, in der Hinwendung zum Göttlichen im Wechsel zwischen der Auseinandersetzung mit sich Selbst und der Ausrichtung auf ein Du, im Dienst und im Aufgehen am Anderen.
Im bekannten Hadith überliefert durch Abu Huraira sagte unser Prophet (Friede sei mit ihm):
?Beschwert euch nicht über die Zeit (ad-Dahr), denn Allah ist die Zeit.?
Eine tiefgründige und auf der Basis des oben Angedeuteten, auch überaus herausfordernde Aussage. Nicht umsonst warnen Gelehrte und Weise unter den zeitgenössischen Muslimen vor unseren modernen wirtschaftlichen Praktiken als Praxis des "Schirk", Beigesellung von Göttern neben Gott. Wir kennen noch einen Ausspruch unseres Propheten - der Friede und die Gnade Gottes sei auf ihm:
Die Zeit ist ein schneidendes Schwert. Wenn du sie nicht schneidest, dann schneidet sie dich.
Der grosse Gelehrte Muhiyydin Al Arabi hat diesem hinzugefügt: ?Wisse, dass die Welt in jedem Augenblick durch einen überwältigenden Sieg der Einheit (Ahadiyah) über die Vielheit zur Nichtexistenz verschwindet? Der Gottsuchende ist Sohn des Augenblicks, die Gegenwart kehrt nicht wieder.?
Möge es uns gewährt sein, den Moment zur Gänze zu erfassen und in ihm immer wieder über uns hinauszuwachsen; im besten Sinne Söhne und Töchter des Augenblicks zu sein.