Wir leben in einer Zeit, in der sich die Möglichkeiten des Menschen in nie dagewesenem Ausmass zu entfalten und vor uns auszubreiten scheinen, sowohl durchs zeitliche Fenster in die Vergangenheit besehen als auch im Lichte unserer unmittelbaren Gegenwart, die alleine nie Dagewesenes offenbart. Während diese Mannigfaltigkeit einerseits eine grosse Faszination beinhaltet da sie eine grössere Freiheit im Forschen, Entdecken, Experimentieren und Handeln impliziert, gerät gleichzeitig vieles aus dem Gleichgewicht. Es scheint, dass ausgedehnte menschliche Macht und Handlungsfreiheit auch viel an Leid und Chaos bewirkt, nicht nur im ?Aussen? sondern auch was die Substanz, die Grundbedürfnisse der menschlichen Seele betrifft.
Wir sehen uns in der Folge mit verschiedensten Missständen konfrontiert. Sowohl auf politischer als auch auf gesellschaftlicher und persönlicher menschlicher Ebene erleben wir eine Verschärfung aller Probleme: die Bedrohung und Zerstörung von Werten, Institutionen und Ressourcen aller Art, die unserer Umwelt sowie die des menschlichen Miteinanders, des inneren menschlichen Gleichgewichts. Kriege bedrohen uns, schwelen oder toben in vielen Regionen der Erde, Hunger, Elend, das Auseinanderfallen von Menschengemeinschaften, allgemein grassierende menschliche Rohheit und Mangel an Verantwortungsgefühl füreinander, der Verlust jeglichen ?Lebenssinns?, der über plumpen Konsum hinausgeht.
Man kann auch beobachten - dass wo auch immer man ansetzen mag, man mit der gesamten globalen Problematik verknüpft ist. Kein ?Einzelprojekt? ? und sei es eine Familie - kann wachsen, ohne dass sich die gesamte ?Weltlage? darin in irgendeiner Zusammensetzung wiederfindet, es ist nicht möglich, etwas auszuklammern, sich eine ?heile Ecke? zu schaffen. Ob dies am ?Zeitalter der Globalisierung? liegen mag oder ob die Vernetzung aller Dinge immer schon auf unsichtbare Weise vorhanden war, soll hier dahingestellt bleiben; Fakt ist, dass die hochkomplexe, eng vernetzte und keineswegs unproblematische Weltlage unsere Einzelunternehmungen nicht einfach macht. Nun hat sich Menschsein und menschliches Verhalten in seinen Grundzügen zwar über die Zeiten nicht grundsätzlich verändert, man kann dies, wenn man sich mit der Geschichte befasst, leicht feststellen. Es ist nur der ?Schirm der Zeit?, der sich immer weiter ?aufspannt? und uns alles menschenmöglich Realisierte und Umgesetzte in immer grösserer Klarheit und Vielschichtigkeit vor Augen hält. Die Vielfalt vermag, uns zu verwirren, in tausendfacher Form abzulenken und unseren Fokus, unsere Konzentration aufs Eigentliche zu verwässern. Gleichzeitig erleben wir durch sie unsere innere Entfernung sowohl vom Ursprung, dem Zentrum aller Dinge als auch als Menschen voneinander - und es kann einem vorkommen, als ob man sich auf einem ?unsichtbaren Schleudersitz? befände, der sich mit zentrifugaler Fliehkraft von einer Mitte entfernt.
Bei der Entscheidungsfindung in konkreten Belangen der Gegenwart kommt es nun darauf an, einerseits unsere ?Koordinaten? innerhalb von Raum und Zeit auf der ?innerweltlichen? und zwischenmenschlichen Ebene zu bestimmen, indem wir den ?Zoom? unseres Blickfeldes sowohl in die Vergangenheit richten als auch die Möglichkeit der Gegenwart ausloten. Der heilige Qur?an sagt dazu z. B.:
In ihren Geschichten ist wahrlich eine Lehre für diejenigen, die Verstand besitzen. Es ist keine Aussage, die ersonnen wird, sondern die Bestätigung dessen, was vor ihm war, und die ausführliche Darlegung aller Dinge und eine Rechtleitung und Barmherzigkeit für Leute, die glauben. (Sure 12:111 )
Und:
Und in eurer Erschaffung und in dem, was Er an Tieren sich ausbreiten läßt, sind Zeichen für Leute, die überzeugt sind. (45:4)
Wenn wir nun in der Gegenwart handeln, müssen wir unseren Fokus ?enger? stellen. In diesem Moment gewinnt auch eine andere Dimension an grosser Bedeutung, nämlich die im Herzen verankerte Dimension des menschlichen ?Wertesystems?. Neben dem in Raum und Zeit festzumachenden ?Koordinatensystem? existiert nämlich noch ein anderes, dauerhaftes und unabhängiges solches System, das der Ausrichtung des Menschen innerhalb ?ewiger Werte?. Man nennt diesen Teil in uns heutzutage wohl ?ethisches Empfinden? ? als Muslime und als Gläubige allgemein wissen wir, dass dieses Empfinden Teil der göttlichen Schöpfung ist und dass ER, erhaben ist ER, uns dieses letztendlich nur dazu gegeben hat, um den Weg zu IHM ?zurückzufinden :
Und Ich habe die Dschinn und die Menschen nur dazu erschaffen, damit sie Mir dienen (sollen). [51:56]
Auch wenn wir hartnäckig dazu neigen, dies zu vergessen*): ALLES in uns und ausserhalb von uns ist darauf angelegt, dieses Ziel zu erreichen, es stellt den eigentlichen Sinn und Inhalt unseres Lebens dar, das Göttliche, Gott, ALLAH zu erkennen und IHM zu dienen! Alles in uns sowie um uns herum ist quasi ?Hilfsmittel zu diesem Zweck?: das Angenehme, wie das Unangenehme, unsere besten wir unsere übelsten menschlichen Eigenschaften ? letztere wohl dazu, um im (globalen sowie auch ganz privaten) ?Wettstreit? mit den ersteren (als ?Prüfung? sozusagen) das Ziel der aktiven Hingabe an Gott zu erreichen! Eine Dynamik, eine Aufgabe, die uns als Individuen immer wieder bis zu unseren äussersten Grenzen und darüber hinaus fordert.
Wir wissen auch, dass unser eigenes Ego mit seinen Tendenzen unser grösster Feind bei diesem Ziel unserer dienenden Ergebenheit in Gottes Wille ist: Zorn, Eifersucht und Neid, Geiz und Gier, Hochmut und Eitelkeit, Prahlsucht und Zurschaustellung sowie die ?Hawa?, die Neigungen und ?Stürme? der Seele, die uns in Turbulenzen erfassen, herumschleudern und oft in reichlich unwirtlichen ?Gegenden? und armseligen Zuständen zurücklassen können. Als Egoisten einerseits, auf Gemeinschaft angewiesene Wesen andererseits leben wir ständig in der Gefahr, die Gemeinschaft zugunsten unserer eigenen Zwecke übervorteilen zu wollen. Obwohl wir auf Führung angewiesen sind, widersetzen wir uns sehr gerne alledem, was uns an gutem Rat und weiser Anleitung mitgegeben wird und experimentieren lieber auf den verschlungenen Pfaden der eigenen Vorstellungen und Neigungen. Nun sehen wir aber klar, dass das Missachten der ?Achse der ewigen Werte? uns auch im Vergänglichen, Weltlichen scheitern lässt. Möglicherweise ist unser Scheitern im Weltlichen sogar ?unbedingt vorprogrammiert? wie es uns die Sure 103, al Asr sagt:
1.Bei der verfliegenden Zeit 2. Wahrlich, der Mensch ist in einem Zustande des Verlusts 3. Außer denjenigen, die zum Glauben gelangen und gute Werke tun und einander zur Wahrheit anhalten und einander zur Geduld in Widrigkeit anhalten. (103:1-3)
Dem unausweichlichen Verlust im Bereich des zeitlichen Geschehens ? welches mit einem ?Leck? versehen zu sein scheint, durch das Energie, Ressourcen, gute Absichten, alles was uns lieb und wert ist, verschwinden und nie mehr gesehen werden - wird hier dasjenige gegenübergestellt, was unseren DIN ? unseren ?Vertrag mit Gott? ausmacht, welcher auf einer anderen Ebene zum Gewinn ? im Diesseits und im Jenseits- führt: der Glaube an IHN, ?Furcht? vor IHM, arabisch TAQWA, die immer wiederholte Wiederhinwendung (TAWBA) sowie auf menschlicher Ebene das Festhalten an Werten wie Grosszügigkeit, Barmherzigkeit, das gegenseitige ?Anhalten zur Wahrheit und Geduld in Widrigkeit? . Und auch den Menschen gegenüber Eingeständnis unserer Fehlerhaftigkeit und die Wiedergutmachung!
Das kurzlebige Experiment des diesseitigen, zeitlichen Daseins gewinnt erst dann an Substanz, wenn es mit dem Ewigen verknüpft wird. Je grösser die Schlaufen gezogen werden, ohne diese Dimension bewusst zu berücksichtigen, desto grösser gestalten sich auch die ?Wirren?, vor denen unser Prophet ? Friede sei mit ihm ? uns gewarnt hat und vor denen er selbst s.s. seine Zuflucht bei Gott gesucht hat! Und je grösser die Verstrickungen und Verwirrungen werden, desto grösser ist auch die Versuchung, diese durch temporäre und örtlich beschränkte Teillösungen wieder ins Lot bringen zu wollen. Verbreitet auch der Fehler, angesichts der Komplexität der Lage die Verfassung und Konstitution der menschlichen Seele zu verkennen oder nur teilweise zu berücksichtigen, wodurch schon im Keim neuer Unternehmungen und möglicher ?Rettungsversuche? von Bestehendem der unausweichliche rasche Untergang vorprogrammiert ist.
Wir sind wohl an einem Punkt angelangt, an dem wir nicht mehr viel "Spielraum" haben, unsere Möglichkeit des Experimentierens langsam ausgeschöpft sind. Der wachsende Schaden, den wir von Generation zu Generation weitergeben, verlangt nach einer Wiedergutmachung, die auf tiefer Ebene ansetzt. Gemäss der Überzeugung von Wissenden ist das Zentrum aller menschlicher Aktivitäten das Herz. Wollen wir eine Verbesserung unserer Umstände, unserer zwischenmenschlichen Beziehungen, und Erfolg auf allen Ebenen, dann ist - heute wie in allen Zeiten - hier der Ansatz zur Heilung sowie zur Wiederverbindung mit dem Göttlichen zu suchen. Wie weit auch immer die Lösung entfernt zu sein scheint - eigentlich lieg sie auf der Hand, es gilt nur, hinzusehen:
La Hawla wa la Quwwata illa Billah - keine Macht und keine Kraft ausser bei Allah
Und Muhammad ist Sein Gesandter.
*) INSAN, arabisch ?Mensch?, heisst ?der, der vergisst?!