Zu Beginn der Proteste gegen die Regimes in der arabischen Welt war die Stimmung hoffnungsvoll, getragen von freudiger Erwartung der Veränderung zum Besseren. Gross war der Jubel auch unter den Ägyptern hier im Ausland, als der Tahrir ? Platz in Kairo sich zum Schauplatz der Kundgebungen gegen die Willkürherrschaft wandelte. Als Muhammad Ghaddafi ? Gott sei ihm gnädig ? bekämpft wurde, wurde dieser Kampf sogar in manchen Khutbas (Freitagspredigten) als ?Dschihad? deklariert ? auch hier : grösste Hoffnungen wurden auf die Zeit nach einem möglichen Sieg gesetzt, viele Libyer machten sich bereit zur Rückkehr in ihr Heimatland ? so sie nicht schon als Kämpfer dorthin zurückgekehrt waren. Man protestierte, demonstrierte, kämpfte, hoffte, jubelte und setzte alle Kräfte ein auch in Tunesien, im Jemen. Die gesamte arabische Welt war in Aufbruchsstimmung.
Spätestens zur Zeit der Katastrophe in Syrien die einherging und ? geht mit der Entfaltung immer grösseren Chaos? und Manifestationen der Gewalt auch in den übrigen arabischen Ländern, sank der Mut bei einem guten Teil der zuvor hoffnungsvollen ?Revolutionäre?. Dennoch gibt es immer noch viele, die weiterhin an eine bessere Zukunft auf einem der eingeschlagenen Wege glauben. Es sind darunter Menschen von höchster Bildung, grosser Einsicht, mit bemerkenswerter Menschenkenntnis sowie tiefem Einblick in die politische Lage.
Ist es ein Phänomen unserer Zeit, dass man in den Wirren und Wirbeln der Ereignisse, im Meer der Anschauungen und Meinungen einfach den Überblick übers Ganze verliert? Dass einen als Weltbürger, dem zunehmend jedes ? für den Menschen unabdingbare ? tragfähige soziale Netz und somit der Boden für gesundes menschliches Gedeihen abhandenkommt, der immer mehr zum (schwer angeschlagenen) Einzelkämpfer neben Einzelkämpfern wird, das naturgegebene Streben nach menschlichem und zwischenmenschlichem Heilsein, Ganzsein quasi überwältigt und zu voreiligen, kurzsichtigen Schlüssen verleitet?
Wenn ja, ist bestimmt keiner von uns davon ausgeschlossen ? niemand hat den ?absoluten Überblick?. Dass aber ein Körper, ein Organismus, ein ?System? nur dann geheilt werden kann, wenn man sich der primären Ursache der Krankheit zuwendet, ist leicht einzusehen - nirgends wird übrigens anschaulicher demonstriert, was reine Symptomunterdrückung bewirken kann, als in der Humanmedizin: der Kollaps des Organismus wird dadurch erst recht und beschleunigt herbeigeführt.
Können Staaten, Länder und Nationen solange sie ihre Eigenständigkeit im Sinne einer Schuldenfreiheit und Unabhängigkeit von fremden Mächten nicht erreicht haben, gesunden? Können sie ihre Würde und Souveränität wiedergewinnen, ihre Menschlichkeit, Grosszügigkeit, Barmherzigkeit zur Entfaltung bringen, ihre Kräfte umfassend auf Heilung richten, solange sie durch (Wucher-!) Zinsen zum Ausbluten gebracht werden? Ist es so schwer einzusehen, dass dieses Unterfangen, egal, wie man es ?anpacken?, wie man es auch drehen und wenden will, unausweichlich zum Scheitern verurteilt ist? Dass die Impulse zur Veränderung selbst durchsetzt sind von der Krankheit selbst?
Alles, was mit dem wirtschaftlichen Aspekt des Islam zu tun hat ? und somit auch die islamische Säule der Zakat ? liegt im ?Argen?, hier liegt im wirtschaftlich - politischen Bereich vor allem anderen Handlungsbedarf! Ausserdem aber kommen wir nicht umhin, uns mit der Wiederherstellung der im vergangenen Jahrhundert schwer angeschlagenen ?Fitra?, der natürlichen menschlichen Veranlagung, zu beschäftigen. Wir sind als Muslime, als muslimische Gemeinschaft, auf dem Hintergrund des Zerfalls des eigentlichen Islam erkrankt! Dieser Tatsache muss man ohne sie beschönigen zu wollen ins Auge sehen - wir können unser Herz, sowie unseren inneren Zustand bei keinen unserer Überlegungen ?übergehen?!
Es gibt im Islam das Konzept des ?Ihsan? ? Muhammad, Friede sei auf ihm, hat gesagt, er sei für ?nichts anderes gesandt worden, als um den (menschlichen) Charakter, das menschliche Wesen zum Besten zu führen?. Die letzte Wissenschaft, die sich innerhalb des Islam entwickelt hat, die des Tasawwuf, der Schulung des Herzens in der Annäherung an Gott, ist deshalb eine zentrale; Ihre Entwicklung angesichts der Tendenz des Menschen, sich von seinem eigenen Zentrum sowie dem Ursprung aller Dinge wegzubewegen, eine Notwendigkeit.
Wir kennen den Islam als eine Ganzheit, die sämtliche Lebensbereiche durchdringt, ein ?unpolitischer Islam? ist nicht vorstellbar. Dennoch muss sich der Muslim von einem ?Islamismus? distanzieren, der ?Islam? als politisches Instrument verstehen will, welches ? wie alle Ideologien - menschlicher Willkür unterworfen ist. Unser erstes und letztendlich einziges Anliegen soll unsere Hinwendung zu ALLAH, das Erlangen Seines Wohlgefallens sein. Solange wir aus niederem Eigeninteresse und zur Erlangung von irdischer Macht und Wohlstand undifferenziert mit den herrschenden Mächten paktieren, wirtschaftliche und ideologische Systeme unkritisch übernehmen und gleichzeitig das Zentrum unseres Glaubens, unsere Hinwendung zu ALLAH ?privatisieren? , ja gering achten, werden wir keinen Erfolg haben, weder im Diesseits noch im Jenseits.
Befreiung hat ihren Ursprung im Innersten des Menschen und soll durch ihre unbedingte Anbindung an ALLAH und die Befolgung der Sunna unseres Propheten unser gesamtes Dasein durchdringen und bereinigen. Der Tahrir (Befreiungs- ) Platz ist zuallererst in unseren Herzen zu suchen.
Wir leben in einer Zeit der Nivellierung natürlicher Gegenpole bei gleichzeitiger Polarisierung zwischen künstlich geschaffenen Gegensätzen.
Schwarz und weiss wird allzu oft zu grau, hell und dunkel zum Dämmerlicht, zu einem undurchsichtigen Nebel. Männlich und Weiblich verkommt zuweilen zu einer Schüttelmixtur, die einen öfters mal grausen lässt ? und wehe, man äussert sich demensprechend, dann treten die Gesetze der ?Menschenfreunde? in Kraft, welche auf jegliche ?Diskriminierung? ein striktes Verbot gelegt haben ? und diskriminieren so pauschal jegliche Einstufung des menschlichen Geistes, der natürlichen menschlichen Empfindung!
To discriminate übrigens heisst auf Englisch ganz einfach unterscheiden ? und es gibt immer noch den deutschen Begriff der Diskrimination, der ebendiese Wortbedeutung hat!
Ja, zu DISKRIMINIEREN ist in der Tat ?out?, es fängt schon beim Kinderprogramm im Fernsehen an, wo Kinder dazu erzogen werden eben NICHT zu unterscheiden zwischen Schädlichem und Nützlichem, moralisch - ethisch Sinnvollem und purem Nonsense! Die ?Teufelchen? haben ihren Einzug gehalten in jegliche Kindersendung, auch in alles Kinderspielzeug, werden schon früh als ?putzige Spielgefährten? verkauft ? und wandeln sich auf den Heranwachsende zugeschnitten zu ?selbstverständlichen Begleitern? ? durchaus nicht mehr in ?putziger? Form, eher schon - für das Empfinden des ?diskriminierenden? Menschen - als ziemlich abstossende Monster und Bestien. Die bunte Bilderwelt der digitalen Medien, in der man auch Gelegenheit dazu hat, sich an ?Menschsein? in allen nur vorstellbaren - bzw. dem Normalbürger eben nicht vorstellbaren - (Un- )Formen zu gewöhnen, ist bestens dazu geeignet, diese ? völlig undifferenzierte - Sichtweise im Bewusstsein zu verankern.
Ist unsere Fähigkeit, zu unterscheiden, nicht eigentlich das, was uns Menschen sogar vor den Engeln auszeichnet? Aber ach, sofern Engeln überhaupt noch ein Plätzchen zugestanden wird, stehen wir vor derselben Darstellung wie der der Teufelchen in ihrem Anfangsstadium : Auch sie werden, verniedlicht und verkommen jedenfalls in der Vorstellung der esoterischen ?Engelsanhänger? zu netten, immer freundlichen Wesenheiten, die vor allem dazu da sein sollen, uns Menschen zu helfen und zu Diensten zu sein ? als ?Engelchen? eben?.! Es ist klar, dass hinter solch einer Sichtweise der Verniedlichung alles Unsichtbaren sowie auch der Gleichmacherei aller Unterschiede eine entsprechende Gottesvorstellung stehen muss, die, sollte sie dem Einzelnen überhaupt noch fassbar sein, die Annäherung an den ERHABENEN, WIRKLICHEN in keinster Weise dienlich ist ? ja, ihr sogar massiv im Wege steht.
Als Muslime wissen wir erstens, dass es NICHT vorrangig um uns Menschen geht! Wir wissen, dass wir selbst sowie die gesamte Schöpfung dazu geschaffen sind, Gott, ALLAH zu dienen, ja, dass es keinen anderen Zweck der Schöpfung gibt als diesen! Wissen ausserdem, dass sich die Sinnhaftigkeit, der eigentliche Inhalt allen Geschaffenen nur aus dem göttlichen Licht des Schöpfers offenbart und dass dieses Licht KEIN ?LICHTLEIN? ist ? sondern ein gewaltiges, gleissendes Licht, das dort, wo es nicht hinkommt und wo seine Abwesenheit wahrgenommen wird, quälende Dunkelheit verursacht. Wissen auch, dass jedes Ding, jede Ausprägung des Seins und jeder Zustand dieser polaren Schöpfung innerhalb des göttlichen Lichts seinen Platz hat ? den es daraus für uns selbst und für unsere jeweilige Situation immer wieder neu zu bestimmen gilt ? ein Licht, das Gott, der Erhabene wiederum demjenigen gibt, der IHM dient! Anders ist kein Zugang dazu zu finden! Nicht urteilen, nicht verurteilen und ?diskriminieren? im Sinne von geringschätzen sollen wir, das Urteil ist letztendlich nur ALLAHS aber sehr wohl: differenzieren, unterscheiden, auseinanderhalten!
Im heiligen Qur?an, der insgesamt auch den Namen ?al Furqan? (= die Unterscheidung, der richtige Masstab?) hat, lesen wir in der Sure 25: 1-2:
Segensreich ist Derjenige, Der Seinem Diener die Unterscheidung offenbart hat, damit er für die Weltenbewohner ein Warner sei (1) Er, Dem die Herrschaft der Himmel und der Erde gehört, Der Sich kein Kind genommen hat und Der keinen Teilhaber an der Herrschaft hat und alles erschaffen und ihm dabei sein rechtes Maß gegeben hat (2)
Wir werden angehalten, gewarnt, sowohl die uns in heiligen Büchern offenbarte als auch ins Herz eingegebene Unterscheidungsgabe zu nutzen, das ?rechte Mass? zu finden und zu erhalten! Sogar Pflanzen kennen den Unterschied zwischen Osmose (der ausgewählten Aufnahme von Substanzen) und Diffusion (undifferenzierte Verschmelzung) ? würden sie die erstere nicht nutzen um brauchbares von überflüssigem, nützliches von schädlichem zu trennen, würden sie zugrunde gehen. Als Menschen, mit der höchsten Stufe von Unterscheidungsvermögen ? auch im geistigen Bereich ? begabt, ist es uns Pflicht, diese Unterscheidungsfähigkeit im Sinne des Wohls der gesamten Schöpfung zu nutzen, ansonsten wir ? mitsamt unserer ganzen Umgebung ? dem Untergang geweiht sind.