Warum gibt es Leid in der Welt? Von Schwester S.A.M.
Wäre mir diese Frage nicht von ?aussen? gestellt worden, würde ich mich wohl nicht an dieses Thema wagen.
In allen menschlichen Gesellschaften und (religiösen) Anschauungssystemen hat Mensch sich diese Frage gestellt und verschiedentlich beantwortet. Der Mensch hadert sichtlich mit dem Leid ? im Gegensatz zu dessen Antipol, der Freude. Freude und Glück sind willkommen, Leid und Schmerz würde man lieber umgehen, überwinden, eliminiert sehen. Ein ?Lebensmodell ohne Leid? erscheint in der Vorstellung erst mal attraktiver.
Nun hat der Mensch, was in den drei abrahamitischen Religionen klar gesagt wird, von Gott die Willensfreiheit, die Entscheidungsfreiheit und als ihre Grundlage die Fähigkeit zur Differenzierung bekommen. Gott hat Adam ?die Namen aller Dinge? gelehrt ? was nicht bloss heisst, dass wir Dinge wie Häuser, Türen, Bäume, Erde, Himmel oder weiterer im Materiellen sichtbarer Gegenstände benennen können, sondern dass wir die Fähigkeit erhalten haben, zwischen all den Gegensätzen unserer polaren Welt zu differenzieren ? wie licht - dunkel, gut - böse, freudvoll ? leidvoll, nützlich ? schädlich und diese ebenso differenziert zu benennen imstande sind. Wie könnten wir diese Fähigkeit nutzen, wären wir nicht eben in einer polaren Welt, einer Welt der Gegensätze?
Gott hat Adam die Möglichkeit und Fähigkeit zur freien Wahl innerhalb dieser Gegebenheiten verliehen und hat aufgrund dieser Stellung des Menschen sogar den Engeln befohlen, sich vor dem Menschen niederzuwerfen! (Sie taten es alle, ausser dem Satan, dem Widersacher, dem Verfluchten.) Es wird daraus ersichtlich, welch hohe Position der Mensch vor Gott hat, aufgrund seiner Fähigkeit. Und er hat diese trotz ? oder gerade wegen?! - dem ?Sündenfall?, durch den jeder einzelne Mensch immer wieder von Neuem dazu aufgefordert ist, die Balance in seinem Leben herzustellen, sich ?richtig? zu entscheiden und den Weg der Mitte und des rechten Masses, den Weg der zu Gott führt, einzuschlagen. Im Islam wird die ?Schuld?, die mit diesem Sündenfall verbunden ist, auch nicht als etwas grundsätzlich Schlechtes betrachtet - das durch Opfer und ein künstlich hergestelltes Mehr an Leid permanent ?gesühnt? werden muss ? sondern es wird im Gegenteil die Schuldfähigkeit des Menschen als ein wertvolles Gut anerkannt, die ihm seine Würde, sein ?Format?, seine Stellung bei Gott verleihen kann!
Im Islam wird Leid also weder als etwas durch menschliche Schuld in die Welt gekommenes und deshalb abzulehnendes betrachtet, noch ist es explizit Ziel, das Leiden zu überwinden. Als Muslime sind wir angehalten, dem Leiden den Status einer Prüfung Gottes ? in gleichem Masse wie der Freude auch ? zuzuerkennen. Wir sind angehalten, durch Leid und Freude hindurchzugehen, uns auf beide nicht zu fixieren, beiden zwar ihren gebührenden Platz zu lassen, jedoch unsere primäre Aufmerksamkeit immer auf Gott, Allah auszurichten. Genau dazu ist Seine Rechtleitung im Qur?an und im Vorbild unseres Propheten uns geschenkt worden, um ein gesundes Mass im Umgang mit allen weltlichen Gegebenheiten zu finden, das uns im Gleichgewicht hält, unsere Ausrichtung auf das Göttliche, Ewige, das Einzigartige, anfangs ? und endlos Beständige, Absolute und vom Menschlichen völlig Verschiedene, immer wieder von Neuem ermöglicht. Wir sind angehalten, in den Momenten des ?Qabd?, des Zusammenziehens und der Enge (des Leidens) uns Gott zuzuwenden sowie auch in den Momenten des ?Bast?, der Ausdehnung, (Freude) wo man sich weit und verbunden fühlt ? erinnert ein wenig an den Geburtsvorgang an dessen Ende die Geburt von etwas Neuem steht ? ! Also Leid - wie ebenso auch die Freude ? als ?Geburtshelfer?? Keines von beiden kann jedenfalls ohne seinen Gegenpart einen Sinn erfüllen. Was sich hier auf einem Blatt Papier so leicht dahinsagen lässt, ist in der praktischen Umsetzung natürlich die grösste Herausforderung, die ein Mensch annehmen kann. Viele grosse Männer und Frauen haben sich ein Leben lang primär damit beschäftigt und waren am Ende wohl grossartige Menschen, Menschen voller göttlichem Licht - aber eben immer noch Menschen. Menschen wohl, die sich ihrer Kleinheit und Schwäche vor Gott sehr wohl bewusst waren- bewusster sicher, als wir ?Durchschnittsbürger?.
Es ist auf jeden Fall eine Lebensaufgabe, das Fliessen von einem Zustand in den nächsten zulassen zu lernen ? in Ausrichtung auf Gott. Die Leiden der Entbehrung, der Verletzungen, des Schmerzes, der Verluste, Rückschläge, Ängste und unserer grosser menschlicher Unzulänglichkeiten immer wieder zwar wahrzunehmen aber ihnen doch nicht allzuviel Wichtigkeit im Gesamtkontext zuzuschreiben. Für Heiterkeit, Freude und Glück immer offen zu sein ? sie aber nicht festhalten zu wollen. (Sowohl das ?Grübeln? im Leid als auch das künstliche Herstellen oder Halten ? Wollen der Freude ist wohl das, was man als ?Sucht? bezeichnet ? und das einen gezwungenermassen auf Abwege führt.)
Der Qur?an ist in sich eine ?Huda? (Rechtleitung) und ?Rahma? (grosse Barmherzigkeit) für den Menschen, der den einzelnen Menschen sowie die Menschheit insgesamt in eben diesem Fluss halten soll, im Gleichgewicht und auf dem (?geraden?) Weg, welcher die beiden Pole des Nützlichen und Schädlichen immer wieder aufs Neue, in allen auf der Erde möglichen Ausprägungen anspricht und in ihren Feinheiten definiert, den Menschen so aus jeder ?Ecke? des Lebens aufzufangen und ?abzuholen? vermag. Den Menschen selbst auch in seiner Gesamtheit anspricht, ohne Auslassung irgendeiner menschlichen Anlage oder Regung! Wir sollen gemäss Gottes Willen das Leben geniessen und unser Leiden auf ein Minimum reduzieren. Wie dies möglich ist - auch dauerhaft möglich ist, unter Berücksichtigung des Lebens nach dem Tod (wo ?Leid? und ?Freude? in viel intensiverem Ausmass erfahrbar sein wird, je nach ?Vorarbeit? gewichtet) ? dafür gibt der Qur?an Richtlinie. Die ?Scharia? (der Weg) ist insofern viel mehr als ein gesellschaftliches Modell ? sondern ist bei näherem Hinsehen eine in allen Feinheiten ausgewogene Halterung für das diffizile Gebilde der menschlichen Seele. Ihre Bedeutung ist ?der Weg zur Tränke? ? !
Würden wir als Muslime dies nicht immer wieder erfahren, hätten wir wohl nicht die Kraft, auf diesem Weg zu bleiben. Aber es ist der Weg in die Freiheit, in die Freiheit, über das Gefangensein in der Welt des Polaren, hinaus - der Weg, auf dem wir zu unserem wahren Selbst und zu Gott finden können. Wie könnten wir diesen aufgeben, wie modifizieren?! Er ist ein Weg, der uns immer wieder (fast) alles abverlangt ? immer wieder aber auch mit Betroffenheit und Glück das immense Licht erkennen lässt, welches sich auf diesem Pfad offenbart. Wir wären unter den grössten Verlierern, würden wir ihn verraten.
Weshalb lässt Gott, der Allmächtige, Leid auf der Erde zu?
(Erinnere daran), als dein HERR zu den Engeln sagte: ?ICH setze auf der Erde ein Geschöpf ein, das sich einander nachfolgt! ? Sie fragten: ?Setzt DU darauf etwas ein, das auf der Erde Verderben anrichtetet und Blut vergiesst, während wir DICH mit deinem Lob rühmen und DICH als den reinen Heiligen verehren? ER sagte, ich weiss, was ihr nicht wisst!? Koran 2:30 (Autor A.Zaidan, 2009)
Der Mensch ist gemäss islamischer Lehre Gottes ehrwürdigstes Geschöpf. Denn Gott erschuf den Menschen in bester Form, hat ihn mit Vernunft ausgestattet und teilte ihm individuelle Fähigkeiten zu, womit er die Erde erkunden und sie zu seiner Wohnstätte machen sollte. Ferner besitzt der Mensch, im Gegensatz zu Engeln, Tieren und anderen Lebewesen, Willensfreiheit, Fähigkeit zur Differenzierung und zur Abwägung der Tatsachen und Entscheidungsfreiheit.
Gott hat dem Menschen Gnade erwiesen und überliess ihn nicht sich selbst. Er schickte ihnen Propheten, die den Menschen Richtlinien in Form von Geboten und Verboten offerierten, um ein solides Leben führen zu können. Aufgrund jener Lebensweisheiten und Prinzipien sollte eine Existenz in Einklang mit Gott, mit der Umwelt und mit den Mitmenschen möglich sein. Nichtsdestotrotz waren jene Überlieferungen der Propheten nicht dafür gedacht, dass der Mensch ausschliesslich die Rolle des Nachrichtenempfängers innehat, keine Eigeninitiative entwickeln darf und aus eigener Kraft nicht zu agieren braucht. Der Mensch ist der Nutzniesser des Universums, jedoch nicht sein Eigentümer. Das Universum wurde dem Menschen nur anvertraut. Wie er damit umzugehen hat, kann den Vorgaben aus dem Koran entnommen werden. Beispielsweise gibt es klare Vorschriften und Verhaltensregeln, welche die Beziehungen des Menschen zum Schöpfer, zum Diesseits, zum Jenseits und zu seinen Mitmenschen regeln. Der Mensch wird aufgefordert, sich an diese Verhaltensmaximen zu halten und hat somit Entscheidungs-und Handlungsfreiheit. Hingegen darf daraus nicht die Schlussfolgerung gezogen werden, dass der Islam eine absolute Willensfreiheit vorsieht. In concreto sind folgende Kategorien zu beachten:
1. Angelegenheiten, die ausschliesslich von Gott bestimmt werden: Tod, Krankheit, Fehlgeburt usw. 2. Angelegenheiten, die dem Menschen absolute Handlungsfreiheit einräumen: Ausbildung, Heirat, Wohnort usw. 3. Angelegenheiten, die sich aus der Vorbestimmung Gottes mit partieller Handlungsfreiheit des Menschen innerhalb des vorgegebenen Rahmens zusammensetze: in welchem Umfeld wir aufwachsen, mit welchem Körper wir geboren werden, usw.
In all jenen Domänen, in welchen der Mensch absolute Handlungsfreiheit geniesst, ist Gott derjenige, der dem Menschen erlaubt, seine Absichten auszuführen. Dabei ist es irrelevant, ob diese Handlungen in religiöser Hinsicht vertretbar sind oder nicht. Beispielsweise fasse ich die Absicht, jemanden zu töten. Gott erlaubt mir diese Tat, obwohl ich dafür sowohl im Diesseits wie auch im Jenseits zu Rechenschaft gezogen werde. Die Einwilligung Gottes in eine verbotene Tat lässt sich wie folgt erklären: Gott hat dem Menschen Vernunft gegeben. Die Vernunft ist somit ein Geschenk Gottes, dessen sich der Mensch bedienen muss. Dieser Appell an den Gebrauch des gesunden Menschenverstands ist deswegen von höchster Bedeutung, da mittels dieser Komponente und Aufrichtigkeit die Offenbarungstexte verstanden werden können. Dadurch kann der Mensch die Wahrheit erkennen und sein Leben danach ausrichten. Das Leben auf der Erde wird nach islamischer Lehre als eine Art Prüfungswelt verstanden. Obwohl Gott der Allwissende a priori unsere Reaktion, die sich aus der Summe unserer Entscheidungen und Lebensführung ergibt, auf die Prüfungsaufgaben kennt, prüft er uns. Diese Prüfungen werden mit dem Menschen deswegen durchgeführt, damit er Gott nach dem Tod nicht der Ungerechtigkeit bezichtigt. Wenn nun aber einem praktizierenden Muslim ein Unheil widerfährt, ist das denn keine Ungerechtigkeit? Denn immerhin war er bemüht, in allen Lebensbereichen und in jeder Situation nach den Massstäben der Offenbarungsschriften zu handeln. Hieran muss der Terminus ?Unheil? definiert werden: Unheil wird in der Regel mit Pech, Verderben und Unglück übersetzt. Diese Übersetzung entspricht aber nicht der islamischen Lehre. Der Mensch ist nicht in der Lage, ein Geschehnis in Unheil oder Heil einteilen zu können, da er nicht allwissend ist. Ein ?Unheil? nämlich, kann etwas Positives präsupponieren. Gott offenbart den Menschen im Koran, wie sie sich in heiklen Situationen zu verhalten haben. In solchen schwierigen Lebenssituationen liegt die Kunst darin, ob der Mensch trotz Leid und Kummer, Gott vertrauen, ihn um Hilfe bitten und sich in Geduld üben kann. Euer Herr sagte: ?Richtet an MICH Bittgebet, erhöre ICH euch! Diejenigen, die sich in Arroganz über MEINE Anbetung erheben, werden in die Hölle in Erniedrigung eintreten.? (40:60) Somit ist der Appell Gottes an die Menschen, ihn um Hilfe zu bitten und ihm zu vertrauen unmissverständlich. Gemäss islamischer Perspektive gilt eine Prüfung erst dann als bestanden, wenn ein Mensch unermüdlich Geduldig war, Gott um Rat und Hilfe gebeten hat und alles in seiner Macht stehende unternommen hat.
Eine ?bestandene? Prüfung wird als eine gute Tat angerechnet. Die guten Taten sind für das jenseitige Leben von ausschlaggebender Bedeutung. Denn damit im Jenseits Erfolg registriert werden kann, müssen im Diesseits gewisse Regeln eingehalten werden, um Gottes Wohlgefallen zu erhaschen. Dieses Leitprinzip des Islam sollte den Menschen dazu bewegen, unaufgefordert und ohne Kontrolle eines Dritten, Gutes zu tun und Schlechtes zu vermeiden: ?Wer das Gewicht eines Stäubchens Gutes tut, der wird es sehen. Und wer das Gewicht eines Stäubchens Böses tut, der wird es sehen.? ( 99:8 )
Glossar:
Gott: Definition, die im Koran statuiert ist: Es gibt nichts Seinesgleichen (42:11); Sag: ER ist Gott, einzig! Gott, ER ist der absolut Selbständige, Der niemanden bedarf, alles und jeder bedarf SEINER. Nie zeugte ER und nie wurde ER gezeugt, und nie ist IHM jemand ebenbürtig! (112:1-4);
Prophet: Die Propheten waren von Gott auserwählte Menschen, ohne übernatürliche oder göttliche Attribute. Zu jeder Gemeinschaft wurden Propheten mit der Rechtleitung Gottes entsandt. Sie verkündeten und bestätigten den Monotheismus. Sie vollbrachten mit der Erlaubnis Gottes Wunder, zur Bestätigung ihrer Prophetengabe. Engel: Aus Licht erschaffene geschlechtlose Geschöpfe, deren Körper mit den menschlichen Sinnen nicht wahrnehmbar ist. Engel leben in einer anderen Dimension und stehen im Dienste des Schöpfers. Koran: Gesamtheit der Offenbarungen des Propheten Mohammed (a.s.s).