Das Problem mit der Führung Von unserer Schwester S.A.M.
Ganz offensichtlich besteht wo immer man hinschaut ? zumindest von den Ausnahmefällen abgesehen, die die Regel bestätigen ? ein wahrscheinlich weltweites Problem mit Führung. Führung eines Betriebs, einer Familie, eines Staates, vieler Vereine, Vereinigungen und Gruppierungen.
Schon mit dem Begriff ?Führung? an sich sind problematische Vorstellungen und Assoziationen verbunden ? spätestens mit dem Wort ?Führer? assoziiert jedes einigermassen mit der jüngsten Geschichte vertraute Hirn zumindest auch einen gewissen ?Führer? des ?dritten Reiches? namens Adolf Hitler, der sich aus guten Gründen einen Namen als ?Führers? ins Desaster gemacht hat. Auch hat die 68er- Bewegung und (damit verbundene oder ihr vorausgegangene) verwandte Denkströmungen aus dieser Zeit das Konzept der Führung und Autorität schlechthin ? teilweise sicher ebenfalls aus guten Gründen ? aufs Korn genommen und kein gutes Haar an ihr gelassen. Anarchie war das Schlagwort, ?antiautoritäre Kindererziehung? der letzte Modeschrei. In Psychotherapien sollte man lernen, sich den Respekt vor Eltern und anderen Autoritätspersonen möglichst abzugewöhnen, der ?Machtposition? von Eltern gegenüber ihren Kindern wurde die Schuld an allen nur möglichen menschlichen (seelischen) Verirrungen und Krankheiten zugeschrieben. (Siehe z. B. Alice Miller ?am Anfang war Erziehung?.)
Bestimmt nicht verursacht von diesen psychologischen Konzepten mit Sicherheit aber durch sie unterstützt stehen wir heute vor den Ergebnissen eines führungs - erziehungs- und autoritätsfeindlichen Experimentes. Viele Menschen haben zumindest ein sehr ambivalentes Verhältnis zum ?Konzept Autorität? und bemühen sich, möglichst partnerschaftlich aufzutreten, auch als Vorgesetzte. Andere setzen immer noch auf Autorität, finden sich aber sehr oft in der ?Sandwichposition? zwischen dem Führen ? Müssen (und ? Wollen) und dem gleichzeitigen Gehorchen ? Müssen gegenüber einer ?höheren Instanz?. Dass diese Instanz sich letztendlich verliert im undurchschaubaren Dickicht von schriftlich formulierten und präzisierten, immer wieder neu überarbeiteten Anweisungen und in menschlicher Form nicht mehr zu eruieren ist, ist wohl eines der grossen Defizite unserer Führungsstrukturen. ?Da wird Führung an Papiertiger delegiert? ? äusserte sich im Tages Anzeiger letzthin Anton Strittmacher vom Lehrerdachverband. Diese Aussage kann man so 1:1 auf andere Grossbetriebe ? mit Sicherheit z. B. kantonale oder städtische Spitäler und Pflegeheime ? übertragen. Es fehlt an mit Entscheidungskompetenz sowie konkreter Eigenverantwortung ausgestatteten Menschen!
Die eine Komponente der ?Führungsschwächung? könnte also der ?Papiertiger? sein, der es dem Einzelnen eigentlich unmöglich macht, seiner Überzeugung konsequent nachzugehen. Die andere die Art und Weise, wie Autorität ? in der jüngsten Vergangenheit und noch bis heute überwiegend - beleuchtet wurde - als unsympathisch, potentiell gefährlich. Keine Frage, dass Autorität missbraucht werden kann und tausend- ja millionenfach missbraucht wurde. Auf vielfältigste Weise. Keine Frage auch, dass man sich von jeglicher Gewalt und Unterdrückung zu distanzieren suchen soll. Dass man hier um andere, sensiblere Wege bemüht sein soll. Keine Frage aber auch, dass die grosse Verunsicherung, was das Akzeptieren von menschlicher Autorität und Führung betrifft, einen unermesslich grossen Schaden anrichtet ? möglicherweise einen grösseren, als den Schaden, der durch Machtmissbrauch einzelner Menschen in die Welt kam. Denn die Ironie der Sache ist ja die, dass die (menschliche!) Macht irgendwo sehr wohl ?hockt? , sehr wohl auch dirigiert: ganz weit hinter dem Papiertiger der Verordnungen, dem Papiertiger der ?gescheiten Bücher? und nicht zuletzt dem (auch elektronischen) Papiertiger der Massenmedien, welche sämtliche ?Autoritätspersonen? sowie vorfabrizierte und ? präparierte ?Idole? auf möglichst lächerliche, korrupte, verantwortungslose Art ? bei den ?Jugendidolen? schon früh auch als durchaus satanisch präsentiert. - Was der Realität sicher entspricht, auf diese Weise aber als ?gesellschaftsfähig? und ?normal? gestempelt werden soll! Alles ?Papiertiger?, die von irgendwoher finanziert werden (kein Wunder, sind die allermeisten Länder der Welt in Dollarmilliardenhöhe verschuldet?.) ? und Geld und Macht waren ja bekanntlich immer schon ein unzertrennliches Paar?! Wir überlassen die Führung letztendlich also diesen Instanzen. Vielleicht sollten wir uns gut überlegen, ob wir ihnen vertrauen wollen?!
Die Ironie der Sache ist ebenfalls, dass die Macht, die der Einzelne nur noch so beschränkt hat ? und somit auch der latent immer vorhandene Machtmissbrauch ? sich auf andere Ebenen verlegt, zum Beispiel auf diejenige, die öffentlich als ?legales Hauptventil? für jegliche Frustration angepriesen wird, wo suggeriert wird, dass man sich hier unbedingt nach Belieben ausleben soll, die der Sexualität. Man hört und liest immer wieder, dass auch gerade jene, die wortreich für ?Selbstentfaltung? und eine ?befreite Sexualität? - meist kombiniert mit dem Anspruch an eine ?friedliche Gesellschaft!? - eingestanden sind und einstehen, gleichzeitig als Vergewaltiger und Kindesmissbraucher in Erscheinung treten. Auch die brutale Gewalt, die sowohl bei Jugendgangs als auch in Kriegssituationen zu Tage tritt, spricht Bände über einen Mangel an Führung und Richtlinie, die es verstehen würde, grosse menschliche Kräfte in sinnvolle Bahnen zu lenken. Die Abwesenheit oder Ferne von verantwortungsvollen Einschränkungen begünstigt sichtlich die abstrusesten Auswüchse menschlicher Abirrung und Grausamkeit.
Der Mensch neigt dazu, alles, was nicht unmittelbar und physisch sicht- und greifbar ist, als ?nicht existent? einzuordnen. So sind Verordnungen auf dem Papier schnell wieder vergessen oder werden gar nicht gelesen. Werden sie einem zudem nicht von einer menschlichen Person vorgelebt, werden sie gar nicht ernstgenommen. Mensch lernt am meisten über und von Mensch. Nicht von Papier. Vor allem junge Menschen, die in der Phase der stärksten Entwicklung und Ausbildung sämtlicher menschlicher Qualitäten und Kräfte stehen, bedürfen unbedingt eines Vorbilds aus Fleisch und Blut. Haben sie dieses nicht in glaubwürdiger Form in den sie umgebenden Erwachsenen, suchen sie es sich anderswo, nicht immer dort, wo es ihrem guten Gedeihen förderlich ist! Getrauen wir uns als Erwachsene nicht, oder liegt es uns nicht, eine Rolle einzunehmen, die unmissverständlich unsere Führungsposition zum Ausdruck bringt, (was den Mut zum Fehler, der bestimmt begangen wird mit einschliesst!) ? wird unser Nachwuchs uns dies langfristig nicht danken. Sicher ist es nicht angebracht, unsensibel und tyrannisch über die Köpfe anderer (auch Kinder) hinweg zu entscheiden. Jedoch sollte man gerade Kindern nur sehr beschränkt (wenn überhaupt) das ?Kommando? überlassen, darf sich ihnen nicht als ?Dienstleistungsunternehmen? anbieten! (Es gibt zu diesem Thema ein lesenswertes Buch von Michael Winterhoff: ?warum unsere Kinder zu Tyrannen werden?.) Die Menschen, die so heranwachsen, werden ansonsten in noch stärkerem Masse verunsichert sein, als wir es waren? Führung ist bestimmt immer eine sensibel zu handhabende Angelegenheit. Ideal wäre wohl, wenn eine Führungsperson ? oder ein Führungsgremium ? es schafft, die Spannweite zwischen sensiblem Abwägen und sich Einfühlen bis hin zum entschiedenen Durchgreifen ?im Griff? zu haben.
Was wir im Mindesten zu führen haben, sind wir selbst. Auch hier braucht es (?Lebens?-) Führung, auch hier müssen wir es verstehen, sinnvolle Grenzen zu setzen und diese konsequent einzuhalten. Haben wir dies als Einzelne gelernt (und man kommt in unserer Gesellschaft oft gar nicht mehr umhin, es zuerst mal alleine oder im kleinsten Kreis zu lernen), wird sich automatisch das Bedürfnis nach grösseren Gemeinschaften einstellen, in denen sinnvolles Miteinander möglich ist. Der Mensch ist darauf angelegt, sich in Gruppen zu formieren und sich dort zu entfalten. Ohne verantwortungsvolle Führung kann dies nicht sein.
Versuchen wir ? als Muslime - daran mitzuarbeiten, dass das Wort ?Führung? wieder in einem besseren Licht dastehen kann. Dass man imstande ist, auch den Missstand der speziell unter uns Muslime verbreiteten despotischen, sektiererischen oder vollkommen chaotischen ?Führung? zu widerlegen! Versuchen wir, unter sorgfältigster Berücksichtigung unserer Schriften verantwortungsvolle Führung wieder ins lebendige Hier und Jetzt zu transformieren. Dies wird nicht möglich sein ohne erstens eine gründliche Wissensaneigung auf mannigfaltigem Gebiet. Zweitens nicht ohne grosse Ehrlichkeit jedes Einzelnen mit sich selbst und den festen Willen, (auch innere, persönliche) Missstände ernsthaft anzugehen, einander dabei auch zu helfen und sich helfen zu lassen. Es wird nicht gehen, ohne ?Ilm? einerseits (Wissen, Weisheit) und ohne andererseits unseren Charakter zu verbessern im Sinne von ?Ihsan?, den unser Prophet Muhammad uns vorgelebt hat. Unser Prophet (Friede sei mit ihm), der auch die Führung einer Gemeinschaft auf die beste nur mögliche Weise vorgelebt hat. Und der uns sehr nahegelegt hat, uns nicht von der Gemeinschaft zu entfernen! Vielleicht kann es uns dann mit Gottes Hilfe gelingen, inmitten einer verunsicherten, schlingernden, um Führung immer wieder aufs Neue ringenden Welt unseren Standpunkt zu festigen, in scha Allah sogar selbst Vorbild zu sein?.. Delegieren auch wir die Führung nicht allein ans Papier ? seien es auch heilige oder mit dem Heiligen befasste Schriften ? übernehmen wir konkret Verantwortung!