Eine seltsame Bewusstseinsspaltung hat unsere moderne Gesellschaft erfasst. Wenn es um Verantwortung und Schuldigkeit geht, findet man einerseits weitgehend eine befremdliche Gleichgültigkeit in der Haltung dazu. Andererseits wird, im Falle der Abzeichnung von Folgen auch unseres (Nicht- ) Handelns fieberhaft nach ?Schuldigen? gesucht. Schuldigen sogar an grossen Katastrophen, die der Mensch Zeit seines Daseins auf der Erde ? zumindest auch - höheren Mächten zugeschrieben hat. Es ist gewiss so, dass wir Menschen immer eine Mitschuld an allem tragen, was auf der Erde passiert, sowieso in dieser heutigen Zeit, in der die Mechanismen der Ursache und Wirkung sehr komplex und auf vielschichtige Weise ineinander verwoben sind - und insofern ist dieses Ausschauhalten nach den Verantwortlichen wohl bis zu einem gewissen Grade legitim und richtig. Dennoch ist die Art des Umgangs mit unserer Verantwortung weitgehend schizophren.
Während im Alltag der gedankenlose Konsum, der sorglose und fahrlässige Umgang mit Ressourcen aller Art, mit über Jahrhunderte überliefertem Wissen und Erkenntnis, mit menschlichen Werten und Möglichkeiten, mit allem, was Gott in jedem Moment an Schönem, Wertvollen, Inhaltsreichen an uns heranträgt, überhandnimmt, möchte man im Falle des Eintritts von Konsequenzen dennoch unbedingt einige wenige spezifisch Schuldige finden und bestrafen. Dies in einer Zeit, in der Korruption in der Politik, Nonchalance in der Erziehung, Verschwendung bei jeglichem Konsum, Achtlosigkeit im Umgang mit sämtlichen Werten Gang und Gäbe sind. Einer Zeit in der der Schuldenberg z. B. aller EU ? Länder in die Milliarden geht, Gelder veruntreut werden, zur Kreditrückzahlung nur immer neue Kredite aufgenommen werden. In der auch im privaten Bereich ein höchst verschwenderischer Umgang mit Geld und allen inneren und äusseren Werten vorherrscht, die Haltung dazu achtlos ist.
Wie sollen z. B. junge Menschen, die in solch einem Umfeld aufgewachsen sind und denen möglicherweise nie beigebracht, nie vorgelebt worden ist, wie und warum man auf seine Handlungen, auf seine Worte, auf seine Haltung achtgeben soll, die selbst oft ein grosses Defizit an liebevoller und achtsamer Zuwendung haben, Verantwortung übernehmen können ? die Verantwortung über unseren Planeten Erde mit allem was darauf und darin enthalten ist? Menschen, die nie gelernt haben, ihre Haltung, ihre Sprache, ihren Umgang mit der Natur, mit anderen Menschen und mit dem anderen Geschlecht zu kultivieren? Die nicht gewohnt sind, in Kategorien über den unmittelbaren Moment hinaus zu denken ? geschweige denn in ihre Überlegungen ein Leben nach diesem auf der Erde mit einzubeziehen? Wie wollen diese Menschen in Positionen der (politischen) Verantwortung mit dem ihnen Anvertrauten sorgfältig umgehen, wenn das Mass aller Dinge bloss momentane Leistungs- und Profitmaximierung ist?
Gewiss ist es eine unausweichliche Notwendigkeit, dass Übertretungen des Rechts, Verletzungen der menschlichen Integrität verfolgt werden, dass Vergehen unglaublicher Brutalität, wie sie in der Jugendgewaltszene oder auch in der Welt der sexuellen Entartungen zu finden sind, hart und konsequent bestraft werden. Dass auch Politiker, die ihre Ämter nachweislich verantwortungslos und korrupt ausüben, zur Rechenschaft gezogen werden. Dass Menschen in jeglichen Positionen der Verantwortung und an Schaltstellen für grobe und folgenreiche Nachlässigkeit Rechenschaft ablegen müssen. Unausdenkbar, wenn wir auch dies unterlassen wollten. Aber wir müssen uns wohl davor hüten, Einzelne an den Pranger zu stellen, während wir nicht gleichzeitig auch unseren eigenen, ganz subtilen aber doch oft vorhandenen ?Mitanteil? zu eruieren versuchen. Wirken nicht wir ALLE mit an einem System der groben Fahrlässigkeit auf allen Ebenen? Solange wir nicht mit vollem Einsatz an einer Alternative dazu arbeiten, unterstützen wir es nolens volens. Und wir wären alle wohl gut beraten damit, uns zu besinnen, bevor die ganz schlimmen Dinge passieren.
Es hat in der Geschichte immer wieder schreckliche Beispiele gegeben für die Kanalisation von ?Schuld? auf eine bestimmte Bevölkerungsgruppe in ? oder ausserhalb der eigenen Gesellschaft. Man erinnere sich in unseren Breitengraden an die Hexenverbrennung oder an die diversen Kriege Beispiel Kreuzzüge, Beispiel Judenverfolgung im ?dritten Reich?. Immer ging es um das Festmachen eines ?Sündenbocks?.
Mich persönlich schaudert es natürlich, wie wohl die meisten Menschen, wenn ich über die Gräueltaten z. B. jugendlicher Schläger höre. Aber noch schauderlicher ist wohl die Tatsache, dass millionen Menschen ihre Zeit mit Unsinn verbringen, trügerischen Hoffnungen, wahllosem Konsum aller nur möglicher materieller und geistiger Inhalte. Denken wir nur z. B. an die Welt des Internets, des Fernsehens, und an das viele so unglaublich LEERE, inhaltslose, womit man dort beschäftigt wird. Während die reale Welt um uns zugrunde geht.
Wir haben wohl ein tiefes Wissen mitbekommen über Sinn und Unsinn unseres Tun und Handelns. Auch ein Bedürfnis nach Sinngabe in unser Leben und nach Herstellung eines umfassenden Gleichgewichts. Ebenso das Wissen darum, dass wir Geschöpfe sind in einem gottgeschaffenen Universum. Zum Dienen erschaffen und rechenschaftsschuldig. Wenn wir uns öffnen für diese innere Wahrnehmung, ist der erste Schritt in die richtige Richtung getan.
Alles im Din (Glaubenssystem) des Islam ist darauf angelegt, den Menschen für seine Aufgabe als Verantwortlicher auf Erden im Blick auf Gott als seinen Herrn zu sensibilisieren und zu formen, soll ihn dazu befähigen, seine menschlichen Fähigkeiten und Neigungen dahingehend zu kanalisieren. Das Glaubensbekenntnis, das Gebet, die Zakat, das Fasten, die Pilgerfahrt nach Mekka und alle detaillierten Weisungen der Scharia sind nichts anderes als Instrumente, um unser tiefes inneres Wissen um die göttliche Ordnung und unsere Position darin freizulegen. Sie haben tiefen spirituellen Wert, sollen uns ganz werden lassen innerhalb des grossen göttlichen Ganzen. Innerhalb des Kontexts, der uns erst befähigt, Verantwortung zu tragen, Schuld und ihre Wiedergutmachung ausgewogen zu handhaben. Der unsere verschiedenen (Ab-) Spaltungen aufhebt, wieder integriert und uns zu Menschen mit seelischem Gewicht macht. Menschen, die sich und anderen weitgehend gerecht werden können, so Gott will.