Sonntag / MLZ; 2010-08-15 Gleiche Rechte für alle ? auch für Muslime Gastbeitrag von yahya hassan bajwa *
Die Nachricht: Der Erziehungsrat des Kantons St. Gallen hat den Gemeinden empfohlen, das Kopftuch an Schulen zu verbieten.
Der Kommentar: Rechtspopulisten beklagen, dass unser Rechtsstaat immer mehr ausgehöhlt wird. Der Islam habe sich breitgemacht. Das stimmt. Überall finden sich heute Kebab-Läden und Muslime haben sich integriert. Sie arbeiten als Handwerker, in Fabriken, in Büros und auch in der Verwaltung. Wir haben muslimische Nachbarn. Überall stehen Moscheen, die heute nur wegen der Anti-Minarett-Initiative von aussen nicht erkannt werden. Das Schweizervolk hat entschieden: keine Minarette. Dies soll nun automatisch bedeuten, dass es keine Zwangsheirat, keine Gewalt an Frauen, keine Zwangsbeschneidung von Frauen mehr gibt ? übrigens wird all dies auch von den meisten Muslimen abgelehnt und bekämpft. Nun, da diese Probleme in den Augen der Minarett-Gegner offenbar gelöst sind, wenden sie sich neuen Aufgabenfeldern zu. Erst entdeckten sie die Burka, die es zu verbieten galt. Nun soll es dem Kopftuch an Schulen an den Kragen gehen. Im Koran steht, dass muslimische Frauen ihr Haupt und den Busen bedecken sollen, damit man sie als Muslime erkennt und sie in Ruhe gelassen werden ? ähnlich wie dieOrdenstracht der Nonnen. Wie dies zu geschehen hat, entscheidet oft die Tradition in einem Land.
Kopftuchtragen ist bei muslimischen Mädchen erst ab der Pubertät Pflicht, also in der Oberstufe. Dann sind die Mädchen alt genug, um selbst zu entscheiden, ob sie sich verschleiern wollen oder nicht. Diese Wahlfreiheit muss die Schweiz ihnen lassen.
Ich weiss: Wir Eidgenossen mussten immer gegen einen Feind ankämpfen und die schweizerische Gesellschaft verteidigen. Doch schiessen wir in diesem Fall nicht mit Kanonen auf Spatzen? In ganz St. Gallen gab es zwei Fälle! Auch ich hatte als Lehrer in all den Jahren nie Probleme mit jungen Frauen, die ein Kopftuch trugen. Interessant, ich hatte bis jetzt nur eine einzige Lernende, die ein Kopftuch trug. Niemand hat sichdaran gestört. Weder die anderen Schulbesucher noch die anderen Lehrkräfte. Es war nicht einmal ein Diskussionsthema! Die Schülerin wurde als eine aufgeweckte und am Unterricht interessierte Person wahrgenommen. Das Kopftuch schien sie in keiner Weise zu behindern.
Wer das Kopftuch verbietet, muss konsequenterweise auch alle anderen Kopfbedeckungen verbieten: Kopftuch der Muslima, Kippa der Juden, Turban der Sikhs, das Hip-Hop-Käppi und auch das Kopftuch als Modeaccessoire. Wenn man es ernst nimmt, lenkt alles vom Unterricht ab und schlussendlich ist nichts weltanschaulich neutral. Persönlich würde ich problemlos meine Kinder zu einer Muslima mit Kopftuch, einer Nonne in Ordenstracht oder einem Lehrer mit Punkfrisur schicken.
Ein Kopftuchverbot bedeutete eben nicht Chancengleichheit, Nichtdiskriminierung sowie gesellschaftliche Integration, wie es die Befürworter immer wieder behaupten. Gerade das Gegenteil ist der Fall! Chancen-gleichheit bedeutet, dass auch Minderheiten anerkannt werden. Nichtdiskriminierung heisst, dass man auch miteinem Kopftuch oder einer Kippa respektiert wird. Gesellschaftliche Integration meint eben nicht, dass alle Menschen gleich gestylt sein müssen ? wie langweilig würde dabei unser Leben!
Das Verbot des Kopftuchs an Schulen wäre ein weiterer Meilenstein gegen den Rechtsstaat. Es hat ebenfalls die Chance, durch einen Volksentscheid legitimiert zu werden. Dies trotz dem bereits bestehenden Vermummungsgesetz. Welches Problem wird damit gelöst? Als Schweizer Politiker, der Muslim ist, setze ich mich für unseren Rechtsstaat ein. Einmal mehr muss gefragt werden, ob wir es als überzeugte Demokraten zulassen, dass vor dem Gesetz ein Unterschied zwischen den Menschen gemacht wird. Rechtsgleichheit soll nur noch für eine bestimmte Gruppe gelten. So lösen wir die wahren Probleme nicht ? der Umgang miteinander muss geübt werden. Alle sind gleich vor dem Recht, aber einige sind offenbar gleicher als andere. Tragen wir Sorge um die Rechtsgleichheit, die ein Pfeiler unserer Gesellschaft ist. Die Rechtsgleichheit dürfen wir nicht aufs Spiel setzen.
*Der Autor ist Hochschuldozent und Lehrer, tätig als Einwohnerrat in Baden und Aargauer Grossrat (Grüne). Er leitet die Schweizer Hilfsorganisation Living Education in Pakistan. Die externen Kolumnisten und Kommentatoren des «Sonntags» äussern in ihren Beiträgen ihre persönliche Meinung. «Das Verbot des Kopftuchs wäre ein Meilenstein gegen den Rechtsstaat.»