Lasst die Kinder Kinder sein ? Eine Replik von Rifa?at Lenzin, Muslimische Co-Leiterin des Zürcher Lehrhauses Judentum-Christentum-Islam
In ihrem Artikel im Tagesanzeiger, resp. Bernerzeitung vom 16. August plädiert Saida.Keller-Messahli dafür, dass ein Kind Kind sein darf. Dagegen ist nichts einzuwenden. Aber Kinder wachsen nicht im Reagenzglas auf, sondern sind eingebettet in ein familiäres und soziales Umfeld. Dieses kann in religiöser Hinsicht liberal, konservativ, strenggläubig oder ? wie in den meisten Fällen ? religiös desinteressiert sein.
Eine sich an religiösen Werten und Traditionen orientierende Erziehung pauschal als ?religiöse Programmierung? zu verunglimpfen geht an der Tatsache vorbei, dass jede Erziehung zu einer Programmierung ausarten kann. Eine säkulare Programmierung, wie sie bei Keller-Messahli aufscheint, ist ebenso wenig hilfreich wie eine religiöse. Der Wunsch der Eltern, Kinder gemäss den eigenen Wertvorstellungen und Traditionen zu erziehen ist legitim und wird vom Gesetzgeber grundsätzlich geschützt. Gemäss Schweizerischem Zivilgesetzbuch ist die Erziehung der Kinder Sache der Eltern. Sie bestimmen bis zum 16. Altersjahr auch über deren religiöse Erziehung. Danach entscheidet das Kind selbständig über sein religiöses Bekenntnis. Dass Kinder aus eigenem Antrieb die Wertvorstellungen und Traditionen der Eltern übernehmen und weiterführen ist nicht zwingend, aber auch nicht ausgeschlossen. Der immer wieder unterstellte Zwang zum Kopftuchtragen und die kategorische Aussage von Keller-Messahli, kein Kind würde freiwillig ein Kopftuch tragen, kann ich aus meiner Erfahrung nicht bestätigen.
Macht das Kopftuch ein Kind zum Sexualobjekt? Die Behauptung, dass ein Kopftuch ein Mädchen (wir sprechen hier von Mädchen ab der Pubertät) zu einem Sexualobjekt mache, wirkt angesichts der herrschenden, sexuell aufreizenden Kleidermode und Spielzeuge für die Kinder gelinde gesagt irritierend. Dass die Sexualisierung auch vor Mädchen nicht haltmacht, zeigt ein Blick auf all die kleinen Lolitas auf hiesigen Strassen nur zu deutlich. Dass das Tragen eines Kopftuchs Heiratsbereitschaft signalisieren soll, scheint mir unter heutigen Umständen doch ziemlich weit hergeholt und wird von den Betroffenen wohl kaum geteilt. Solche Zuschreibungen sind problematisch, weil sie das Recht der Betroffenen ? Eltern wie Kinder ? auf Selbstdefinition negieren.
Was ist die Aufgabe der Schule? Die Schule ist ein Abbild unserer Gesellschaft. Und so multikulturell und vielfältig in religiöser und weltanschaulicher Hinsicht wie diese ist auch die Schule. Aufgabe der Schule muss deshalb u.a. sein, das Zusammenleben in dieser Vielfalt einzuüben und aufgrund gemeinsamer Werte zu gestalten. Und zu dieser Vielfalt gehört heute halt auch ein Kopftuch. In Art. 2 des Volksschulgesetzes des Kantons Zürich ist dieses Ziel folgendermassen formuliert: ?Die Volksschule erzieht zu einem Verhalten, das sich an christlichen, humanistischen und demokratischen Wertvorstellungen orientiert. Dabei wahrt sie die Glaubens- und Gewissensfreiheit und nimmt auf Minderheiten Rücksicht.? Der Respekt gegenüber den verschiedenen Kulturen, Sprachen und Religionen sowie die Gleichstellung der Geschlechter sind Werte, die vermittelt und gelebt werden sollen. Gelingen kann dies aber nur, wenn alle Schülerinnen und Schüler sich respektiert und akzeptiert fühlen, also auch muslimische Mädchen mit Kopftuch oder jüdische Knaben mit Kippa. Die Volksschule des Kantons Zürich kennt keine Vorschriften zur Bekleidung der Kinder. Diese liegt in der Verantwortung der Eltern. Mit dieser Regelung ist der Kanton Zürich bisher gut gefahren; man sollte es dabei bewenden lassen.
Koraninterpretation Saida Keller-Messahlis persönliche Interpretation der relevanten Koranstellen, nämlich dass ein Kopftuch nicht vorgeschrieben sei, wird von Kopftuchträgerinnen offensichtlich nicht geteilt, geschweige denn von Rechtsgelehrten und berufenen Koranexegeten. Über die Aussage, der Koran sei die einzig verbindliche Quelle für Muslime, liesse sich zumindest streiten. Jedenfalls ist es eine Aussenseitermeinung. Zu den unbestrittenen Quellen des Islams gehört ausser dem Koran zumindest auch die Prophetenüberlieferung, wenn man von den daraus abgeleiteten sekundären Quellen einmal absieht. Ein ?fortschrittlicher Islam?, der sich in den Dienst von Repression und Diskriminierung von Andersdenkenden stellt, auch wenn diese ?konservativ? sein sollten, ist für mich weder ein Fortschritt noch ein Schritt in die richtige Richtung.
Zürich, 18.08.2010 Rifa?at Lenzin Muslimische Co-Leiterin des Zürcher Lehrhauses Judentum-Christentum-Islam
Zitat von M.M.HanelEinen Leserbrief in der Bernerzeitung (siehe Link oben), welcher auf Rifa'at Lenzins Replik hinwies, wurde nicht veröffentlicht (es sollte der Leserbrief 82 sein).
Zum Thema siehe die Beiträge auch HIER: http://www.iphpbb.com/board/ftopic-43715...18-30.html#1222 (u. A. die Antwort Hisham Maizars auf die Frage, wie denn dieser Satz (Zum Beispiel: Im Unterricht ist das Kopftuch verboten, auf dem Pausenplatz erlaubt.") mit dem Anspruch der FIDS harmoniere, die Interessen der Muslime zu vertreten.