Dieser arabische Terminus findet sich sowohl im heiligen Qur?an als auch in der Sunna und wird auch im alltäglichen Sprachgebrauch immer noch rege benutzt. Die gebräuchlichste Bedeutung von ?Nafs? ist die des ?Selbst?, Selbst im Sinne von ?Ego?. Nafs ist verwandt mit dem Atem, mit dem Ein- und Ausatmen, dem Zusammenziehen und Loslassen. Der Begriff ?Nafsiyya? bezeichnet einerseits die einem Menschen eigene Haltung, seinen Charakter, auch seine Art zu Handeln. ?Nafas? hat andererseits mit Befreiung zu tun, ?Nifas? bedeutet die Entbindung (Kindsgeburt). ?Nafasa? (Nafisa) ist ?wertvoll?. Und schliesslich ist ?Ilm al Nafs? die arabische Bezeichnung für ?Psychologie?.
Nun unterscheidet sich die muslimische Herangehensweise an die menschliche Psyche doch ziemlich grundlegend von dem, was wir als ?moderne westliche Psychologie? bezeichnen, geht weit darüber hinaus. Besonders über den ? ohnehin recht veralteten - Ansatz S. Freuds, der den Menschen vor allem auf der Basis seiner Triebseele zu definieren versuchte - und das noch recht einseitig ? sie unterscheidet sich aber auch von mehr ins Geistige greifenden Sichtweisen u.a. durch ihre klare Einteilung des Menschen in die Bestandteile, Körper (al Dschassad) Ego (al Nafs) und Geist (al Ruh).
Vor allem kommt dem Herzen (al Qalb) eine sehr zentrale Rolle in der islamischen Betrachtung des Menschen zu. Das Herz hat einerseits den körperlichen Aspekt, seine Funktion auf diesem Gebiet ist das Pumpen des Blutes durch den Körper durch Zusammenziehen und Loslassen. Das (immaterielle, ätherische) Herz ist nach muslimischer Ansicht aber andererseits der Sitz des Geistes (Ruh). Es beinhaltet auch das ?Gewissen? (al Widschdan), nach dem wir (moralisch) ?richtig? von ?falsch? unterscheiden können. Auf die Existenz dieses ?immateriellen Herzens? weist der Hadith unseres Propheten Muhammad (s.s.) hin ? wahrlich es gibt im menschlichen Körper ein kleines Stück Fleisch ? wenn dieses gut ist, ist der ganze Mensch gut, ist es aber verdorben, so ist der ganze Mensch verdorben. Wahrlich, dies ist das Herz.?
Auch ist das Herz Sitz eines Verstehens auf tiefe und subtile Weise:
?Sind sie denn nicht im Lande umhergereist, so dass sie Herzen haben können, um zu begreifen, oder Ohren, um zu hören? Denn wahrlich, es sind ja nicht die Augen, die blind sind, sondern blind sind die Herzen in der Brust.? (Quran 22:46)
Das arabische Wort für Herz, ?Qalb? hat die Bedeutung von ?sich drehen und wenden?, das heisst, das Herz ist einerseits Ausgangsort der Weisheit, der Sehnsucht nach Allah, nach der Wahrheit und nach dem Aufgehen in "IHM", ist andererseits aber auch sehr fragil und kann schnell von einem Zustand in einen nächsten überwechseln. Es braucht daher die Ratio (arabisch, al Aql) als Hilfe zu seiner Orientierung. Es ist jedoch auch das Zentrum unseres Selbst und die Zentrale für die Ordnung im Menschen. Ist das Herz in tiefem Frieden, herrscht Einklang im ganzen Menschen.
Die Nafs nun wurde (wie das Herz auch) ? vor allem in der Wissenschaft des Tasawwuf (Sufitum) genauer unter die Lupe genommen aber auch von Ibn Sina (Avicenna), der aufbauend auf die griechischen Denker wie Aristoteles und Plato das Selbst in verschiedene Teile, Stufen einteilte. Dessen höchste Stufe ist dasjenige Selbst oder Nafs, welches die Fähigkeit zur Unterscheidung (arabisch, al Furqan) besitzt und diese ist dem Menschen als einzigem Geschöpf ? ausser den Jinn ? zueigen. Der Mensch hat also die Möglichkeit, sich entweder in die göttliche Gnade und Harmonie bewusst einzuordnen, gehorsam zu sein, oder seine Entscheidungen derart zu treffen, dass sie zu Disharmonie, Qual und Schmerz führen. Das ?Nafs? nun ist in seiner Gesamtheit in aller Regel nicht reif genug, um solche Entscheidungen aus sich selbst heraus auf ?richtige? und weise Art zu treffen. Es lässt sich sehr leicht von seinen animalischen Anteilen zu verschiedenen Fehlentscheiden verführen, die auf den ersten Blick attraktiv erscheinen, eine schnelle Erfüllung von Bedürfnissen versprechen, letztendlich aber der grossen Harmonie in die alles eingebunden ist nicht förderlich sind. Um derart falsche Entscheidungen möglichst zu vermeiden, braucht der Mensch eine Rechtleitung (al Huda) sowie auch die Beratung mit anderen Menschen seiner Umgebung. Es ist, neben dem BEGREIFEN des Herzens das HÖREN der Ohren auf Richtlinien, die unser Wohl fördern, welches ausgebildet werden muss, um möglichst glimpflich und im Einklang mit der göttlichen Harmonie durchs Leben zu gehen.
Erfahrungen, die wir machen, ermöglichen mit der Zeit auch eine immer sicherere Reflexion nach innen, die uns aus uns selbst heraus weise Entscheidungen ermöglicht. Aber kein Mensch kann ohne Orientierung an Faktoren ausserhalb seiner selbst sinnvoll agieren. Das ?Nafs? ist oft sehr unvernünftig. Es liebt es, seiner eigenen ?Eingebung?, im Sinne von ?al Hawa? zu folgen ? was soviel bedeutet wie ?Wind?, ?Luft? einer Art ?Seelenwind? also. Einfach aus purem?Spass? und Freude am Experimentieren folgt es spontanen Ideen, die gerade im Moment attraktiv aussehen mögen, sich aber als folgenschwer herausstellen können. Auch der Einflüsterung des Schaitan, des Teufels, möge Allah der Erhabene uns davor bewahren, erliegt dieses Nafs, wenn es sich nicht davor zu schützen weiss. Es kann seinem Hochmut und Stolz, seiner Gier, seinem Neid, seinen Rachegelüsten erliegen und so grossen Schaden verursachen. Es ist gerne faul, nimmt sich selbst zu wichtig, ergibt sich negativen Gedankenkreisen, orientiert sich im Urteilen und Handeln an VORSTELLUNGEN. Sich selbst überlassen ist das menschliche Nafs (Ego) ein unberechenbares ?Wesen?, das grosse Gefahr in sich trägt, es kann sich unendlich aufplustern und wird zum ?Krebsgeschwür?, zum (Zer-) Störer.
Der Tasawwuf (Sufismus), die ?islamische Mystik?, oder der innere Weg im Islam, der sich mit der Verfeinerung des menschlichen Wesens befasst, ist in letzter Zeit von mancher Seite her diskreditiert worden. Dies mag ein Stück weit verständlich sein insofern, als damit sicher einiges Schindluder getrieben wurde. Ernsthafte Sufis, Mystiker, haben selbst immer wieder vor den Gefahren dem Nafs in jeglichem Stadium der ?Selbstreinigung? gewarnt. Immer wieder ist die Gefahr gegeben, das Erworbene zum ?eigenen Nutzen? bezw. zum vermeintlichen Nutzen der menschlichen Triebseele verkommen zu lassen und dies ist gewiss in grossem Ausmass geschehen. Allerdings darf man daraus nicht den Schluss ziehen, diese grosse Wissenschaft deshalb beiseite zu lassen. Meister wie Abu Hamid al Ghazzali oder Abd al Qadir al Jilani (möge Gott ihnen wohlgefällig sein) haben uns grossartige Anleitungen aus ihrer Seelenschau hinterlassen. Anleitungen, die, wie sie selbst immer betonten, nicht anders als unter gleichzeitiger Berücksichtigung der Vorgaben und Richtlinien des Islam wirksam werden. Umgekehrt aber ist die Einhaltung von Richtlinien ohne die richtige Herzenshaltung mangelhaft bis leer oder kann sich sogar ins Gegenteil des Beabsichtigten wenden.
Wir haben nun heutzutage ? auch durch die Schöpfung von Geld und daher Möglichkeiten aus dem ?Nichts? heraus ? einen immens grossen Spielraum für unser ?Nafs? geschaffen (zumindest für einen Teil der Menschen)- Diese Herausforderung als Muslim zu meistern ist eine Aufgabe, die uns an unsere äussersten menschlichen Grenzen bringt, nehmen wir sie ernst! Erkennen wir allerdings ihre Dringlichkeit nicht, werden wir gewiss unseren Untergang nicht aufzuhalten vermögen. Es mag sein, dass wir noch eine Weile uns erfreuen an all dem, was uns über die grossen Missstände vorübergehend hinwegtröstet, es kann sein, dass Allah es uns noch eine Zeitlang gewähren mag, unsere Augen und Ohren zu verschliessen. Aber das Erwachen kommt bestimmt. Und es wird uns kein Weg an uns selbst, an unserem eigenen Kern, unserem Herzen und unserer Nafs vorbeiführen bei der Bereinigung unserer Angelegenheit!
Wohl kann die Erfahrung mit sich selbst, die Erfahrung auch, in all die ?Fettnäpfchen des Nafs? zu treten durchaus lehrreich sein. Kann die Fähigkeit zur tiefen inneren Reflexion in uns schärfen, unser Bewusstsein verfeinern. Und es verleiht uns menschliche Grösse, unsere eigene Fehlerhaftigkeit und deren Konsequenzen zu tragen. Wir sind aber andererseits auch bald an der Grenze dessen angelangt, was ein Mensch überhaupt noch verwerten und ertragen kann, ohne das innere Auge davor zu verschliessen ? oder haben diese Grenze vielleicht sogar schon überschritten. Es wird Zeit, Konsequenzen im Handeln zu ziehen. Zeit, unsere Seelen und die unserer Nachkommen zu retten ? anstatt uns weiterhin den Abirrungen, ohne daraus Schlüsse zu ziehen, auszuliefern.
Sowohl das Herz als auch das Nafs bedürfen eines Rahmens, innerhalb dessen sie zur Ruhe kommen können und ihr Potential auf beste Weise entfalten können. Im Islam, in Qur?an und Sunna wird dieser Rahmen auf vollkommene Weise gegeben, wenn man genau HINHÖRT! Mögen wir uns endlich wieder dessen in grösserem Umfang bedienen, was wir an Weisheit und Heilung in unserem Din finden und dem schönen Vorbild unseres Propheten sowie seiner rechtgeleiteten Nachfolger folgen! Mögen wir diesen Wissensschatz nicht verloren gehen lassen, sondern ihm die gebührende Wertschätzung und die Einbindung in unser alltägliches Leben gewähren ? sodass er auch unseren Nachkommen erhalten bleibt!
Allahumma salli ala Saidina Muhammadin wa ala Alihi wa Sahbihi adjma?in.
As Salamu aleikum wa Rahmatullahi wa Barakatuhu
Quellen: u.a. ?das Menschen- und Seelenbild im Islam? von Dr Samir Suleiman und Dipl. Psychologin Chawla Muhammad