Vom Kulturkampf zur Religionsfreiheit im Zeitalter der Ökumene, der religiösen Pluralisierung und der Wiederkehr der Religion. Mariano Delgado, In: Reinhold Bernhardt / Thomas K. Kuhn (Hg.), Religionsfreiheit. Schweizerische Perspektiven (Beiträge zu einer Theologie der Religionen, Bd. 3), Zürich 2007, 37-68.
Vom Kulturkampf zur Religionsfreiheit im Zeitalter der Ökumene, der religiösen Pluralisierung und der Wiederkehr der Religion Mariano Delgado
Dieser Beitrag will den Paradigmenwechsel nachzeichnen, der sich in Sachen «Religionsfreiheit» in der Schweiz im 20. Jahrhundert vollzogen hat. Dieser besteht in einem langsamen Abschied vom Kulturkampfgeist, der die Bun-desverfassung von 1874 prägte, sowie im Ringen um eine Religionsfreiheit, die dem ökumenischen Geist, der religiösen Pluralisierung und schließlich auch der Wiederentdeckung der staatlichen wie gesellschaftlichen Relevanz des religiösen Faktors Rechnung trägt. Doch zunächst sollen einige einlei-tende Überlegungen über die Religionsfreiheit im Allgemeinen vorausge-schickt werden.
1. Religionsfreiheit als Ergebnis westlicher Staats- und Gesellschaftsentwicklung
Die Religionsfreiheit als einklagbares Menschenrecht ist Ergebnis westlicher Staats- und Gesellschaftsentwicklung, wenn auch auf dem «zweiten mühsa-men Weg» (Ernst-Wolfgang Böckenförde), d.h. nach der Überwindung der Verschmelzung von Staat und Christentum. Diese bestand in Europa gene-rell bis zur Französischen Revolution und hatte zur Folge, dass der Staat sich um das Seelenheil seiner Untertanen im Sinne der jeweils herrschenden Konfession zu kümmern hatte, während andere christliche Bekenntnisse (oder andere Religionen wie das Judentum) bestenfalls geduldet wurden. Aber bereits unter den Bedingungen des Ancien Régime sind Entwicklun-gen festzustellen, die den Weg für die heutige Anerkennung der Religions-freiheit als Menschenrecht vorbereitet haben:
(1) Spätestens seit dem 11. Jahrhundert gibt es im westlichen Christen-tum eine Tendenz zur deutlichen Unterscheidung der Kompetenzen zwi-schen der politischen und der geistlichen Gewalt. Katholischerseits ist in diesem Zusammenhang an die Lehre der zwei Gewalten und an die damit gegebene prinzipielle Unterscheidung von Staat und Kirche zu erinnern, wobei sich beide als societas perfecta verstanden, die mit den Merkmalen einer sich selbst genügenden Gesellschaft ausgestattet und auf das Seelenheil der Menschen zugeordnet sind. Die Kirche war bemüht, den Vorrang des Geistlichen sowie zumindest ein indirektes Einmischungsrecht in die zeitli-chen Angelegenheiten zu verteidigen. Der katholische Staat versuchte, nicht nur die Einmischungstendenzen der Kirche abzuwehren, sondern auch diese zu kontrollieren und sich sogar in ihre inneren Belange einzumischen. Investiturstreit im Mittelalter sowie Gallikanismus, Regalismus und Josephinismus in der frühen Neuzeit stehen paradigmatisch für diese Kompetenzstreitigkeiten.
Evangelischerseits ist an die Zwei-Reiche-Lehre und an die damit verbundene grössere Verschmelzung mit dem Staat zu erinnern. Besonders der lutherische Protestantismus verzichtete weitgehend auf die klassische katholische Unterscheidung von Kirche und Staat und übertrug diesem als weltlichem Regiment die cura religionis, die die Abwehr falscher öffentlicher Lehre umgreift und «bis zur Aufrichtung rechter Gottesdienst und Lehre? reichen» kann.
(2) Im Schatten der Konfessionalisierung des 16. Jh. entsteht ? zunächst gerade in der Schweiz ? eine lebhafte Toleranzdebatte, die zur Anerkennung der Gewissensfreiheit und Ablehnung des Ketzerrechtes führen wird. Von besonderer Bedeutung sind dabei die Worte, die der Spanier Michael Servet und der Savoyarde Sebastian Castellio einwarfen. Am 22. August 1553 schrieb Servet in einem Rekurs an die Genfer Staatsräte: «Ich sage demütig, dass die Verfolgung aufgrund der Meinungen über die Heilige Schrift oder der Dinge, die mit ihr zusammenhängen, eine neue Erfindung ist, die die Apostel und Jünger der alten Kirche nicht kannten. [...] Aus diesem Grund und der Lehre der alten Kirche folgend, in der nur die geistliche Bestrafung erlaubt war, ersuche ich hiermit, dass dieser Kriminalprozess für null und nichtig erklärt wird.» Und Ende 1553 ? nach der infamen Hinrichtung Servets ? schrieb Castellio an die Adresse Calvins jenen denkwürdigen Satz, der in die Geschichte der Toleranz einge-gangen ist: «Einen Menschen töten heißt nicht, eine Lehre verteidigen, sondern einen Menschen töten.»
(3) Seit der Renaissance gewinnt die philosophisch-theologische Debatte über die «Würde des Menschen» an Bedeutung. So verschärfen Philosophen wie B. Spinoza, J. Locke und P. Bayle die Toleranzforderung durch die Annahme eines individuellen Naturrechts auf Religions- und Gewissensfreiheit, das im Falle Bayles z.B. auch die Freiheit für die Atheisten einschließt. Dies führt dann zum Toleranzdiskurs der Aufklärung, wonach die Religionsfreiheit ein «geheiligtes Gut» ist, das jedem Bürger zusteht, das man mit keiner Amtsgewalt aufheben darf und das auch die Freiheit von der Religion beinhaltet.
(4) Seit dem epochalen Ereignis, das als die «Französische Revolution» in die Geschichte eingegangen ist, sind in der westlichen Welt die Voraussetzungen, auf denen das Christentum als Polis-Religion verstanden werden konnte, nach und nach gefallen ? und dies nicht zuletzt auch als Folge der Religionskriege und der damit verbundenen europäischen Erfahrung, dass die Religion als das «Wesen des Unterschieds» (Karl Marx) keine tragfähige Grundlage zur Regelung des friedlichen Zusammenlebens in einem politischen Gemeinwesen darstellt. Die Kirchen dürfen nicht vergessen, dass die Entwicklung zur religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates und zur säkular-pluralistischen Gesellschaft aus einer historischen Zwangslage der westlichen Welt entstand, «die gerade von den Kirchen ? als den damaligen Religionsparteien ? herbeigeführt worden ist» . Die damalige Unfähigkeit der Religionsparteien, die öffentlich-verbindliche Existenzform der Religion mit dem Recht der Person auf Glaubens- und Gewissensfreiheit in Einklang zu bringen, zwang den Staat, die Verschmelzung mit der jeweils herrschenden Religion tendenziell zu beenden: als Bedingung dafür, «dass das Freiheitsrecht der Person sich verwirklichen konnte» . Wie Ernst-Wolfgang Böckenförde betont hat, erfolgte der Abschied des modernen Staates von der alten Polis-Auffassung in zwei Schritten: zunächst in der Form, dass der Staat neben dem eigenen christlichen Bekenntnis «andere Bekenntnisse und Religionen zulässt (Glaubensfreiheit und Toleranz)»; dann aber auch in der Form, «dass er sich gegenüber Religionen und Weltanschauungen grundsätzlich für neutral erklärt (religiös-weltanschauliche Neutralität)» . So entsteht der staatsrechtliche Begriff der Religionsfreiheit, zu dem Folgendes gehört:
(1) Individuelle Religionsfreiheit: positiv bedeutet dies die Freiheit des Individuums, einen religiösen Glauben zu haben, zu bekennen und in sonstiger Weise auszuüben, sowie die Lebensführung an religiösen Geboten auszurichten; aber auch die Freiheit des Individuums, die Religion zu wechseln. Negativ bedeutet dies die Freiheit von staatlichem Zwang zu glauben und Glaubensbetätigung verschont zu bleiben, sowie die Freiheit, keine Religion zu haben.
(2) Kollektive/korporative Religionsfreiheit: Sie beinhaltet die Freiheit der Religionsgemeinschaften zu eigenständiger Ordnung ihrer Angelegenheiten nach dem jeweiligen Selbstverständnis und die Freiheit ihres Wirkens in Staat und Gesellschaft (dies kommt einer staatlichen Anerkennung der Libertas ecclesiae unter den Bedingungen der modernen Trennung von Staat und Kirche gleich).
(3) Weltanschauungsfreiheit/Neutralität des Staates: Demnach darf sich der Staat nicht der Durchsetzung irdischer Heilslehren und Ideologien ver-schreiben, d.h. der Staat darf nicht zur «Kirche» werden. Die daraus folgende religiöse und weltanschauliche Neutralität des Staates bildet daher das notwendige Korrelat der Religionsfreiheit. Man kann sagen, dass die Religionsfreiheit Schranken seitens der Indivi-duen, Religionen und Weltanschauungen wie auch seitens der Staaten impliziert. Zu den ersten gehören die Würde des Menschen, die rechtlichen-kulturellen Standards (z.B. im Verständnis der Grundrechte) und die öffentliche Ordnung, wie sie in den jeweiligen Verfassungen geregelt ist. Zu den zweiten sind das neutrale Prinzip der Gleicbehandlung von religiösen und nichtreligiösen Weltanschauungen, das libertäre Prinzip der religiösen Freiheit aller Individuen (Toleranz: in dubio für die Religionsfreiheit) sowie das egalitäre Prinzip der Gleichheit der Religionen und Konfessionen (Parität) zu zählen. Die hier skizzierte Sicht der Religionsfreiheit als Ergebnis westlicher Staats- und Gesellschaftsentwicklung dürfte in der Forschung auf Konsens stossen. Die Geister scheiden sich nur, wenn es darum geht, die Rolle der Religion in der Öffentlichkeit angesichts der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates zu definieren. Besonders diskussionswürdig sind in diesem Zusammenhang die Positionen von Ernst-Wolfgang Böckenförde und Jürgen Habermas.
Der Staatsrechtler und Katholik Böckenförde geht davon aus, dass gerade unter den Bedingungen der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates und der damit zusammenhängenden Religionsfreiheit, welche die kirchliche Wirksamkeit nicht auf den Bereich des Privaten zurückdrängt, sondern erst recht «ihre Entfaltung in der Öffentlichkeit» ermöglicht, die Kirche sich öffentlich einmischen sollte, besonders wenn es um ethische Fragen und normative Voraussetzungen geht, für die der säkulare Staat als solcher nicht zuständig ist. Böckenförde hat dies Mitte der 1960er Jahre auf die prägnante, seitdem vielfach zitierte Formel gebracht, dass der freiheitliche, säkularisierte Staat von normativen Voraussetzungen lebt, «die er selbst nicht garantieren kann» .
Der sich als im Weberschen Sinne religiös unmusikalisch bezeichnende Philosoph Jürgen Habermas ist gegenüber den normativen Ressourcen des säkularen Staats nicht so skeptisch wie Böckenförde. Im Münchner Ge-spräch mit dem damaligen Kardinal Joseph Ratzinger schlägt er vor, die Frage, ob sich eine ambivalente Moderne allein aus säkularen Kräften einer kommunikativen Vernunft stabilisieren wird, «undramatisch als eine offene empirische Frage zu behandeln» . Zugleich tritt er für einen schonenden Umgang des Staates mit allen kulturellen Quellen ein, «aus denen sich das Normbewusstsein und die Solidarität von Bürgern speist» . Zu diesen Quellen zählt er neuerdings auch die sich als säkularisierungsresistent erwiesene Religion. Man hat in den letzten Jahren den Eindruck, dass Habermas ? zum Wohle des liberalen Staats ? sowohl eine Lernbereitschaft der Vernunft gegenüber der Religion als auch eine in der Religionsfreiheit begründete genuine Einmischung dieser in die politische Öffentlichkeit fordert, statt sich mit der kognitiv anspruchslosen Anpassung des religiösen Ethos an die von der säkularen Gesellschaft auferlegten Gesetze zufrieden zu geben. Es sei ein längeres Zitat erlaubt:
Zitat«Diese normative Erwartung, mit der der liberale Staat die religiösen Gemeinden konfrontiert, trifft sich mit deren eigenen Interessen insofern, als sich diesen damit die Möglichkeit eröffnet, über die politische Öffentlichkeit einen eigenen Einfluss auf die Gesellschaft im ganzen auszuüben. Zwar sind die Folgelasten der Toleranz, wie die mehr oder weniger liberalen Abtreibungsregelungen zeigen, nicht symmetrisch auf Gläubige und Ungläubige verteilt; aber auch das säkulare Bewusstsein kommt nicht kostenlos in den Genuss der negativen Religionsfreiheit. Von ihm wird die Einübung in einen selbstreflexiven Umgang mit den Grenzen der Aufklärung erwartet. [...] Die weltanschauliche Neutralität der Staatsgewalt, die gleiche ethische Freiheiten für jeden Bürger garantiert, ist unvereinbar mit der politischen Verallgemeinerung einer säkularisierten Weltsicht. Säkularisierte Bürger dürfen, soweit sie in ihrer Rolle als Staatsbürger auftreten, weder religiösen Weltbildern grundsätzlich ein Wahrheitspotential absprechen, noch den gläubigen Mitbürgern das Recht bestreiten, in religiöser Sprache Beiträge zu öffentlichen Diskussionen zu machen. Eine liberale politische Kultur kann sogar von den säkularisierten Bürgern erwarten, dass sie sich an Anstrengungen beteiligen, relevante Beiträge aus der religiösen in eine öffentlich zugängliche Sprache zu übersetzen.»
Aus dem Gesagten lassen sich diese zwei Schlüsse ziehen:
1. Zum einen, dass der «Meilenschritt» von der Toleranz als gnaden-hafter Gabe religiös-politischer Obrigkeit zum einklagbaren Menschenrecht auf individuelle und kollektive Religionsfreiheit historisch ein Ergebnis der westlichen Staats- und Gesellschaftsentwicklung ist ? wenn auch auf dem «zweiten, mühsamen Weg» und zunächst gegen den Widerstand der christli-chen Konfessionen.
2. Zum anderen ? und damit zusammenhängend ?, dass die Religionsfreiheit in ihrer Entstehung nicht den Kirchen, nicht den Theologen und auch nicht dem christlichen Naturrecht verdankt wird, «sondern dem modernen Staat, den Juristen und dem weltlichen rationalen Recht» . Die Religionsfreiheit ist also nicht ontologischen Wahrheitsdiskussionen oder den Offenbarungsquellen einer bestimmten Religion entsprungen, sondern der Not, das praktische Zusammenleben zwischen den Menschen im Zeitalter des religiösen und weltanschaulichen Pluralismus zu regeln. Dazu kommt aber ein Drittes, das in der heutigen globalen und plurireligiösen Welt nicht ausser Acht gelassen werden sollte, nämlich dass die westlichen Christentümer sich unterdessen zu diesem Verständnis von Religionsfreiheit weitgehend bekannt haben, wenn auch mit eigenen Akzenten: die Religionsfreiheit wurzelt z.B. für das Zweite Vatikanische Konzil in der schöpfungstheologischen Würde des Menschen und dem Naturrecht.
2. Der langsame Abschied vom kulturkämpferischen Geist des 19. Jahrhunderts Die neue Bundesverfassung (= BV) trat bekanntlich am 1. Januar 2000 in Kraft. In der Pressemitteilung des Bundesrates vom 27. Dezember 1999 heisst es, die BV sei nötig, damit die Schweiz «an der Schwelle des neuen Jahrhunderts wieder über ein zeitgemässes und zukunftsfähiges Grundge-setz» verfügen kann. Sich der Vorläufigkeit von Verfassungsprozessen bewusst, wird darin zugleich betont, dass das Inkrafttreten keine Endstation bedeutet, sondern eher einen Neuanfang: «Auf dem neuen Fundament sollen Schritt für Schritt weitere Reformen verwirklicht werden.» Die BV hat eine lange Vorgeschichte, die bis in die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts zurückreicht: 1967?1973: Vorarbeiten der Arbeitsgruppe Wahlen; 1974?1977: Expertenkommission Furgler; 1978?1980: Breites Vernehmlassungsverfahren; 1985: Bericht des Bundesrates; 3. Juni 1987: Beschluss der Bundesversammlung, die Bundesverfassung total zu revidieren, und Auftrag an den Bundesrat, den Entwurf einer neuen Bundesverfassung vorzulegen, der das Verfassungsrecht nachführt, verständlich darstellt und systematisch ordnet. Reformen soll er separat vorschlagen; Erneute Vernehmlassung; 1996: Botschaft des Bundesrats an die Bundesversammlung (Vorschlag, Reformen in den Bereichen Volksrechte und Justiz durchzuführen); 18. Dezember: Verabschiedung der Verfassungsreform durch die Bundesversammlung; 18. April 1999: Volk und Stände stimmen der BV zu. Bei dieser Vorgeschichte spielte die Diskussion um den Abschied von der kulturkämpferischen Stoßrichtung der Religionsfreiheit in der Bundesverfassung von 1874 (= aBV) eine wichtige Rolle. Peter Karlen hat darauf aufmerksam gemacht, dass in der aBV recht verschiedenartige Artikel, die direkt oder indirekt mit der Religionsfreiheit zu tun haben, etwas unvermittelt nebeneinander stehen. In der Lehre werden sie auf vier Hauptkategorien zurückgeführt:
«1. Garantie der Glaubens- und Gewissensfreiheit in Art. 49; 2. Garantie der Kultusfreiheit in Art. 50 Abs. 1; 3. Säkularisierungsbestimmungen in Art. 49 Abs. 4 (Unabhängigkeit des staatli-chen Rechts von religiösen Vorschriften), Art. 27 Abs. 2 und 3 (Schule), Art. 53 Abs. 1 (Zivilstand), Art. 53 Abs. 2 (Begräbniswesen), Art. 54 Abs. 1 (Ehe), und Art. 58 Abs. 2 (Abschaffung der geistlichen Gerichtsbarkeit); 4. Bestimmungen zur Sicherung des Religionsfriedens in Art. 50 Abs. 2 (Allgemeine Maßnahmen), Art. 5 Abs. 3 (Anstände bei Bildung und Trennung von Religionsgemeinschaften), Art. 50 Abs. 4 (Genehmigung bei Bistumserrichtungen) und Art. 75 (Unvereinbarkeit für Personen geistlichen Standes).»
Karlen bezeichnet die aBV «als Paradebeispiel eines gemischten Typus», da man auf die Festlegung eines bestimmten religionsrechtlichen Modells verzichtet habe. Die aBV enthalte so Elemente aus verschiedenen staatskirchenrechtlichen Epochen: aus den Strukturen des religiös-paritätischen Staatstypus und aus der Reformation; aus den staatskirchenrechtlichen Prinzipien der Aufklärung, verbunden mit Anschauungen des Liberalismus und des Kulturprotestantismus sowie des Kulturkampfes und der demokratischen Bewegung ? für Karlen der wohl mächtigste Einfluss.
Die aBV proklamiert also einerseits die Unverletzlichkeit der Glaubens- und Gewissensfreiheit sowie die Freiheit von Zwang im öffentlichen Voll-zug religiöser Handlungen, während sie andererseits «Schranken» festhält, die Bund und Kantone einer solchen Freiheit auferlegen. Nicht die Schran-ken sind das Problem, die in jeder Verfassung dazu gehören, sondern dass einige davon eindeutig kulturkämpferische Züge tragen, den Geist der protestantischen «Leitkultur» des frühen Bundesstaates widerspiegeln und daher in einigen «Konfessionsartikeln» die Beschneidung der Religionsfreiheit von Katholiken festschreiben: So unterliegt die Errichtung von Bistümern auf schweizerischem Gebiete «der Genehmigung des Bundes» (Art. 50 Abs. 4 aBV); Art. 51 aBV enthält das Verbot der Niederlassung im ganzen Bundesgebiet sowie der Wirksamkeit in Kirche und Schule für den Orden der Jesuiten (sic, statt ?Gesellschaft Jesu?, wie der Orden kanonisch heisst) und die ihm affillierten Gesellschaften sowie den Vorbehalt des Bundes, dieses Verbot auch auf andere geistliche Orden (= der römisch-katholischen Kirche) auszudehnen, «deren Wirksamkeit staatsgefährlich ist oder den Frieden der Konfessionen stört» (Art. 51 Abs. 2 aBV); in Art. 52 Abs. 1 aBV wird die Unzulässigkeit der Errichtung neuer und der Wiederherstellung aufgehobener Klöster oder religiöser Orden betont; und Art. 75 aBV spricht schließlich indirekt von der Unvereinbarkeit eines politischen Amtes für Personen geistlichen Standes.
Die eindeutig kulturkämpferischen konfessionellen Ausnahmeartikel 51 und 52 aBV wurden durch Volksabstimmung vom 20. Mai 1973 aufgehoben ? nicht zuletzt weil sie, wie die Schweizer Bischofskonferenz in der Stellungnahme vom 20. Dezember 1968 betonte, den Beitritt der Schweiz zur europäischen Menschenrechtskonvention störten, denn ein solcher Beitritt wäre dann «nur unter Vorbehalt dieser Bestimmung möglich». Für die Bischofskonferenz waren diese Artikel nicht nur «ein Schönheitsfehler», sondern Bestimmungen, «die nach wie vor die Beziehungen zwischen dem Bund und der katholischen Kirche empfindlich belasten». Die Unvereinbarkeit von geistlichen Ämtern und der Wählbarkeit in den Nationalrat (Bundesrat und Bundesgericht) wurde ohne große Kontroversen im Zuge der Totalrevision von 1999 gestrichen. Obwohl die Bischöfe in der zitierten Stellungnahme genauso wie in der Vernehmlassung vom 15. Juni 1970 an das Eidgenössische Departement des Innern betreffend die Aufhebung des Jesuiten- und Klosterartikels auch eine Streichung des Bistumsartikels forderten, blieb dieser in der BV zunächst bestehen (als Art. 72, Abs. 3). Bei der Totalrevision der aBV plädierten viele Juristen, Politiker und Kirchenvertreter mit durchaus plausiblen Argumenten für die Streichung. Er konnte aber erst durch Volksabstimmung vom 10. Juni 2001 aufgehoben werden ? wie wir gleich sehen werden nach einer kontroversen Diskussion, die zuweilen mehr emotional als sachlich geführt wurde und noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts einige Kulturkampfreflexe zeigte.
3. Ökumenischer Dissens: die Streichung des Bistumsartikels Am Anfang stand die Parlamentarische Initiative des Christdemokraten und Aargauer Ständerates Hans Jörg Huber vom 13. Dezember 1994 für die ersatzlose Aufhebung von Art. 50 Abs. 4 aBV. Dringlichkeit gewann das Anliegen aber durch den Vorentwurf für die Streichung des Bistumsartikels, den die Staatspolitische Kommission des Ständerates am 16. November 1998 vorlegte. Darin wurde der Bistumsartikel als «ein Relikt aus dem letzten Jahrhundert» bezeichnet: «Sachliche Gründe für die Beibehaltung der religiösen Sonderbestimmung lassen sich keine finden. [...] Im übrigen kann es auch nicht Aufgabe der Bundesverfassung sein, Probleme innerhalb der römisch-katholischen Kirche zu lösen». Die politischen Vertreter werden mit großer Mehrheit zu dieser Sicht neigen. Uns interessiert hier aber vor allem die Haltung der Kirchen und der Juristen.
(1) Die römisch-katholische Kirche bietet zunächst ein pluralistisches Bild dar: der von der Bischofskonferenz und deren Publikationsorganen reprä-sentierte Mainstream trat für eine ersatzlose Streichung des Bistumsartikels ein; die Römisch-Katholische Zentralkonferenz (= RKZ) vertrat eine nuan-ciertere Position; und «liberale» Katholiken wie Hans Küng plädierten für eine Beibehaltung, bis bestimmte Garantien für eine demokratische Kultur in der Kirche gegeben sind.
In ihrer Stellungnahme zum Verfassungsentwurf 1995 vom 6. März 1996 begründete die Bischofskonferenz die ersatzlose Streichung des so genannten Bistumsartikels mit diesen klaren Worten: «Unter dem Gesichtspunkt der Religionsfreiheit ist dieser Artikel unbegründetes und daher unhaltbares Ausnahmerecht, zumal er nach geltender Praxis einseitig die römisch-katholische Kirche betrifft.» Bischof Kurt Koch hat sowohl in seinem Statement an der Pressekonferenz der Schweizer Bischofskonferenz in Bern am 30. April 2001 als auch in einigen Buch-beiträgen den Bistumsartikel als «unbegründet und verfassungsunwürdig» bezeichnet. Er führt dazu eine Reihe von Argumenten ein: der Bistumsartikel ist ein «Kind seiner Zeit» und daher «historisch bedingt»; er ist die letzte der konfessionellen Ausnahmebestimmungen in der Bundesverfassung und enthält eine «massive Diskriminierung der römisch-katholischen Kirche»; er bedeutet «eine Verletzung des Grundsatzes der Kirchenfreiheit und damit des Grundrechtes der korporativen Religionsfreiheit»; er ist daher als «völkerrechtswidrig» zu beurteilen; angesichts der emotional geführten Diskussion, bei der massive antirömische und anti-episkopale Vorurteile wegleitend waren, «die zumeist mit überzogenen Hoffnungen an die Aufrechterhaltung des Bistumsartikels verknüpft sind», ist dieser Artikel «als ein typisch helvetischer Mythos zu charakterisieren, wenn nicht gar als eine ?Stopfgans?, in die jeder seine Ängste und Hoffnungen die römisch-katholische Kirche betreffend hineinstopfen kann». Dem modernen Verständnis des Verhältnisses zwischen Kirche und Staat, «das auf einer einvernehmlichen Kooperation beruht», entspreche nur «der konkodatäre und damit bilaterale Weg». Der Bistumsartikel sei nicht Ausdruck eines helvetischen «Sonderfalls», sondern eines «religionsrechtlichen Ernstfalls». Diese Argumentation findet sich sowohl in der Stellungnahme der Bischofskonferenz zur Volksabstimmung vom 10. Juni 2001 als auch in den Redaktionsbeiträgen der «Schweizerischen Kirchenzeitung» ? und sie entspricht weitgehend auch den Gründen, mit denen die Staatspolitischen Kommissionen des Nationalrates (mit überwältigender Mehrheit von 170 zu 17 Stimmen) und des Ständerates (mit 38 zu 0 Stimmen sogar einstimmig) die Streichung des Bistumsartikels befürworteten, und die sich der Bundesrat in seiner Stellungnahme auch zu Eigen machte.
Nachdem in einigen Publikationen die Position der RKZ überzeichnet wurde, sah sich Alois Odermatt, Geschäftsführer der RKZ, 2001 genötigt, in einem mit dem Präsidenten der RKZ, Peter Plattner, abgestimmten Beitrag die Position derselben klarzustellen. In der Tat scheint die RKZ zwischen 1996 und 2001 einen schwierigen Meinungsbildungsprozess durch gemacht zu haben, der einen gemeinsamen Nenner aufweist: Die RKZ ist zunächst gegen die «ersatzlose» Streichung des Bistumsartikels und für die Stärkung der Kompetenzen der Kantone zur Regelung des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche. In der Stellungnahme vom 29. Februar 1996 zum Verfassungsentwurf schlägt die RKZ vor, beim Wegfall des Bistumsartikels folgende Bestimmung in Art. 12 aufzunehmen: «Die Zuständigkeit der Kantone zur Regelung des Verhältnisses zwischen Staat und Religionsgemeinschaften und zum Abschluss von Konkordaten, insbesondere über die Errichtung und Gebietsumschreibung von Bistümern, bleibt gewahrt.» Ähnlich auch der Beschluss der RKZ vom 15. März 1997 über das Verhältnis zwischen Bund und Kantonen in religionsrechtlichen Fragen: «Für die Regelung des Verhältnisses zwischen Kirche und Staat sind die Kantone zuständig. Bund und Kantone können im Rahmen ihrer Zuständigkeiten Maßnahmen treffen zur Wahrung des öffentlichen Friedens zwischen den Angehörigen der verschiedenen Religionsgemeinschaften.» In der Stellungnahme vom 31. März 1999 werden Schritte empfohlen, «die zur Aufhebung des Bistumsartikels führen, insbesondere mittels Konkordatspolitik» sowie für die Volksabstimmung jenen Zeitpunkt zu wählen, «der einen positiven Ausgang verspricht». In der Stellungnahme vom 24. März 2001 zur Volksabstimmung über den «Bistumsartikel» werden schließlich folgende Beschlüsse mitgeteilt: die Unterstützung der Aufhebung des Bistumsartikels, die Forderung einer aktiven Konkordatspolitik, die Unterstützung des Begehrens, einen neuen Religionsartikel zu erarbeiten, «der das Verhältnis zwischen Staat und Religionsgemeinschaften gestaltet». Somit versucht die RKZ eine Balance nach allen Seiten zu erreichen: Anders als die Bischofskonferenz, die stets betont, der Bistumsartikel müsse bedingungs- und ersatzlos aufgehoben werden, tritt die RKZ dafür ein, dass die Aufhebung des Bistumsartikels durch eine aktive Konkordatspolitik gefördert werden solle. Und anders als der Schweizerische Evangelische Kirchenbund (= SEK), der, wie wir noch sehen werden, für die Ablösung des Bistumsartikels durch einen Religionsartikel votiert, schlägt die RKZ lediglich eine Erweiterung des Religionsartikels der Bundesverfassung vor (Art. 72), so dass die Bedeu-tung der Kirchen und Religionsgemeinschaften für Gesellschaft und Staat zum Tragen kommen. In einem offenen Brief an die Nationalrätinnen und Nationalräte schlu-gen einige Katholiken, darunter prominente Theologen wie Hans Küng, Herbert Haag und Dietrich Wiederkehr, vor, eine Volksabstimmung über die Streichung des Bistumsartikels erst dann ins Auge zu fassen, «wenn deren Ausgang ? nach Aktivierung und erfolgreichem Abschluss von Konkordatsverhandlungen ? als gesichert positiv erscheint», d.h. wenn Garantien bestehen, dass der Religionsfriede nicht gefährdet und die römisch-katholische Kirche an die demokratische und ortskirchliche Kultur gebunden wird, etwa bei der Bischofswahl. Aus diesem Brief spricht das Misstrauen einiger Katholiken gegen die eigene Kirche und die Betrachtung des Staats als «Garant» für Religionsfreiheit «in der Kirche». Scharf hat Bischof Koch erwidert, es zeuge nicht von einem Staatsverständnis auf neuzeitlichem Niveau, «wenn kirchliche Kreise den Staat gleichsam als ?Schutzmantel? gebrauchen oder wohl eher missbrauchen wollen, um ihre kirchenpolitischen Ziele erreichen zu können. Ein solches Vorgehen ist gewiss auch nicht mit einem neuzeitlichen ?Weltethos? kompatibel.»
(2) Auch die christkatholische Kirche war gegen eine ersatzlose Streichung des Bistumsartikels «zum jetzigen Zeitpunkt», wie es in der Stellungnahme des Bischofs und des Synodalrates vom 12. Februar 1999 heisst; denn eine ersatzlose Streichung würde bedeuten, «dass ein ausländisches Staatsoberhaupt (und somit ein Subjekt des Völkerrechts) Entscheide treffen kann, die für unser Land und seinen konfessionellen Frieden von großer Bedeutung sein können, auf die aber die Eidgenossenschaft keinen Einfluss mehr zu nehmen vermag.» Vorgeschlagen wird hingegen der konkordatäre Weg sowie ein Artikel in der Bundesverfassung, «der die Beziehung zwischen Bund und Kirchen umschreibt». Zugleich bestritt die Stellungnahme der christkatholischen Kirche, wenn auch m.E. mit sehr schwachen Argumenten, dass der Bistumsartikel von 1874 eine Sonderregelung für die römisch-katholische Kirche sei.
(3) In seiner Stellungnahme zum Verfassungsentwurf 1995 unterschied der SEK zwischen der Haltung des Vorstands und der SEK-Mitgliedkirchen. Unter diesen war eine Mehrheit für die Beibehaltung ? mit folgenden Argumenten: Der völkerrechtliche Status der römisch-katholischen Kirche lege eine verfassungsrechtliche Absicherung nahe, die nichts verbietet, «aber den eidgenössisch-demokratischen Respekt garantiert»; der Bistumsartikel sei ein «Wahrzeichen» des religiösen Friedens; schließlich wird die Solidarität mit den Anliegen römisch-katholischer Bevölkerungsteile genannt, d.h. mit denjenigen Katholiken, die entgegen der Meinung der Bischöfe gegen die ersatzlose Streichung des Bistumsartikels waren ? was einen kuriosen Fall von ökumenischem Verständnis darstellt. Der SEK betonte freilich, «dass die Kirchen, die für die Beibehaltung votieren, nicht anti-ökumenische Absichten verfolgen» ? aber vielleicht doch «anti-episkopale»? Der Vorstand selbst gibt zu, dass die Problematik «gar nicht so sehr auf einer sachlich-juristischen, sondern viel mehr auf einer symbolisch-politischen Ebene liegt»; statt einer ersatzlosen Streichung des Bistumsartikels schlägt er eine umfassendere Bearbeitung desselben vor, die Aussagen zu folgenden Aspekten enthalten sollte: «Eine Anerkennung der Bedeutung von Religion für die Gesellschaft. [...] Eine generelle Aussage über das Verhältnis des Staates zu den religiösen Gruppierungen und Institutionen. [...] Die Anerkennung des Rechtes der religiösen Organisationen, ihre inneren Angelegenheiten selbständig regeln zu können unter der Voraussetzung, dass sie sich an die rechtsstaatlichen Rahmenbedingungen halten, für Toleranz eintreten und im Blick auf die Finanzen und Organisationsstruktur Transparenz gewährleisten» ? also dass sie sich organisatorisch der landesüblichen demokratischen Kultur anpassen. Aus diesem Vorschlag wird allmählich das Postulat nach einem «Religionsartikel» des Bistumsartikels wachsen. In einem Pressecom-muniqué vom 10. April 2001 hält der SEK daher seine Position im Vorfeld der Volksabstimmung folgendermaßen fest: «Wichtiger als die Streichung oder Beibehaltung des Bistumsartikels scheint dem Rat des SEK aber die Schaffung eines Religionsartikels zu sein. In einem solchen Artikel sollen die Beziehungen zwischen Kirchen, Religionsgemeinschaften und dem Bund auf zeitgemässe Weise geregelt werden. Kirchen und Religionsgemeinschaften tragen mit ihren religiösen und sozialen Werten wesentlich zum Zusammenhalt und zur Entwicklung von Gesellschaft und Staat bei. Dies soll in der Bundesverfassung positiv gewürdigt werden. Zudem sollen auch das Selbstbestimmungsrecht und die Gleichbehandlung der Kirchen darin festgehalten sein.»
(4) Auch die Juristen bieten ein uneinheitliches Bild dar. Einige befür-worten die ersatzlose Streichung des Bistumsartikels. Andere, vor allem die der so genannten Freiburger Schule, haben viel rechtswissenschaftliche Akribie walten lassen, um die Vereinbarkeit des Bistumsartikels mit einem Religionsrecht im Geiste der heutigen Religionsfreiheit und Ökumene nachzuweisen. So meint Christoph Winzeler, Bischofskonferenz und Nationalrat lesen den Bistumsartikel, «wie er im Kulturkampf des 19. Jahrhunderts gemeint war, aber im Rechtsstaat von heute nicht mehr gemeint sein kann und darf: als Knebelung der katholischen Kirche». Nach dem Wandel im Verständnis der Religionsfreiheit, «damals in erster Linie Gewährleistung des Religionsfriedens», zum Grund- und Menschenrecht, könne der Bistumsartikel nur mehr als «die Einholung einer Genehmigung, die ohne polizeilichen Grund nicht verweigert werden darf», verstanden werden, wenn etwa eine Teilkirche, wie ein katholisches Bistum seine gebietsmässige Zuständigkeit verändern möchte. Da seit 1874 die Schaffung eines Bistums nie verhindert oder auch nur verzögert wurde, verletze der Bistumsartikel «weder die Bundesverfassung [...] noch das Völkerrecht». Ähnlich, wenn auch viel akribischer im Durchgang, ist das Gutachten von Christian R. Tappenbeck und René Pahud de Mortanges ausgefallen. Dieses kommt zum Schluss, dass der Bistumsartikel «nicht per se völkerrechtswidrig» sei, da er weder das Interventionsverbot gegenüber dem Heiligen Stuhl noch die zwischen einigen Kantonen bzw. dem Bund und dem Heiligen Stuhl abgeschlossenen Konkordate noch die Menschen-rechte, insbesondere die der Religionsfreiheit und Religionsgleichheit, verletze. Der Bistumsartikel sei vielmehr als «religionspolizeiliche Norm» zu verstehen, damit der Bund «frühzeitig» Maßnahmen «zur Wahrung des religiösen Friedens oder der öffentlichen Ordnung» ergreifen kann: «Wird die öffentliche Ordnung oder der religiöse Friede nicht erheblich gefährdet, darf der Bund aus völkerrechtlichen Gründen die Errichtung oder Veränderung von Bistümern nicht verhindern». Bischof Koch hat darauf hingewiesen, dass dieses Gutachten von drei gravierenden Missverständnissen geprägt ist: Warum muss eine polizeiliche Norm dieser Art in der Verfassung explizit festgeschrieben werden? Sie sei zudem über-flüssig, da die neue Bundesverfassung genügend Bestimmungen über die innere Sicherheit des Staates, «beispielsweise in den Artikeln 36, 57, 173 und 185», enthalte. Und schließlich könne man in einer solchen religions-polizeilichen Norm «nur eine Diskriminierung und letztlich friedenstörende Kränkung der römisch-katholischen Bevölkerung in der Schweiz sehen». Denn sie wäre Ausdruck eines latenten Misstrauens gegen die episkopal verfasste römisch-katholische Kirche als potentielles Risiko für die öffentli-che Ordnung oder den Religionsfrieden. Aber die grösste Schwäche des Freiburger Gutachtens besteht m.E. in der mangelhaften religionsrechtli-chen wie religionstheologischen Auseinandersetzung mit dem Wandel im Verständnis der Beziehungen zwischen Staat und Kirche, den die römisch-katholische Kirche mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil, etwa mit Gaudi-um et spes Nr. 76, vollzogen hat. Bei aller rechtswissenschaftlichen Akribie vermag nicht zu überzeugen, warum gerade gegenüber der nachkonziliaren römisch-katholischen Kirche, die nicht mehr die ultramontane des 19. Jahr-hunderts ist, ein Bistumsartikel nötig sein soll. Bei den Hearings der Parlamentarischen Kommission am 24. August 1999 im Seehotel Meierhof in Horgen, die als «Schisma» von Horgen in die eidgenössische Verfassungsgeschichte eingegangen sind, wurde die Unei-nigkeit der religiösen Institutionen des Landes (SEK, Evangelisch-reformierte Landeskirche des Kantons Zürich, RKZ, SBK) in Sachen «Bis-tumsartikel» deutlich: «Vorbehaltlos für eine ersatzlose Streichung sprachen sich nur Bischof Amédée Grab und Roland B. Trauffer von der Bischofs-konferenz aus. Sämtliche anderen Hearingsteilnehmer befürworteten die Ersetzung des Bistumsartikels durch einen allgemeinen Religionsartikel, der die Beziehungen zwischen den Religionsgemeinschaften einerseits und ihr Verhältnis zum Staat andererseits verfassungsrechtlich verankern würde.» Angesichts dieser Situation ? und da der Meinungsstreit quer durch die römisch-katholischen Institutionen hindurch ging ? musste dieses «Relikt aus dem Kulturkampf» vorerst in der neuen Verfassung unverändert blei-ben. Bundesrätin Ruth Metzler rechnete mit einem Zeithorizont von 4?6 Jahren für eine erfolgreiche Volksabstimmung zur Streichung des Bistumsartikels. Sie sollte sich täuschen: diese fand bereits am 10. Juni 2001 statt, und darin wurde die Aufhebung mit großer Mehrheit (knapp zwei Drittel) gut geheissen. Der Bundesrat befürwortete die Streichung des Bistumsartikels unabhängig von der Frage nach einem evtl. «Religionsartikel», über dessen Beschaffenheit es noch keinen Konsens gäbe. Auch die Neue Zürcher Zeitung empfahl die Streichung des Bistumsartikels unabhängig von der Frage, ob ein erweiterter Religions-artikel in der Bundesverfassung als Rahmen hilfreich wäre. Und in einem Editorial hielt die angesehene Zeitung deutlich fest: «Ein Ja zur Vorlage befreit die liberale Verfassung von einer historischen Spur Intoleranz.»
4. Ökumenischer Konsens: die Suche nach einem Religionsartikel Wir sahen, wie beim «Schisma von Horgen» die meisten religiösen Institutonen, der ursprünglichen Anregung des SEK folgend, die Ersetzung des Bistumsartikels durch einen allgemeinen Religionsartikel, «der die Beziehun-gen zwischen den Religionsgemeinschaften einerseits und ihr Verhältnis zum Staat andererseits verfassungsrechtlich verankern würde», befürworteten. Aber erst nach der Streichung des Bistumsartikels kam die kirchliche wie religions- und verfassungsrechtliche Diskussion hierüber wirklich in Gang.
(1) Der Bundesrat bezweifelte zunächst die Zweckmässigkeit eines Religi-onsartikels, da der Bund damit massiv in die Zuständigkeit der Kantone für die Regelung des Verhältnisses zwischen Kirche und Staat (Art. 72 BV) und in die Organisationsautonomie der Kirchen- und Glaubensgemeinschaften eingreifen würde. Die Präsidentin der Staats-politischen Kommission des Nationalrates, Vreni Hubmann, gab zudem zu verstehen, dass in einem Religionsartikel alle Religions- und Glaubens-gemeinschaften berücksichtigt sein müssten, was nicht unproblematisch wäre: «Sollen auch vereinnahmende Bewegungen, Psychoorganisationen, Sekten und neue religiöse Bewegungen einbezogen sein? Sollen Schranken der Sittlichkeit und der öffentlichen Ordnung für Glaubensgemeinschaften umschrieben werden? Sollen Streitigkeiten bei der Bildung oder Trennung von Glaubensgemeinschaften geregelt werden? Haben die Angehörigen aller Glaubensgemeinschaften Anspruch auf eine Bestattung nach ihren religiösen Vorschriften? Sollen die Gemeinden gezwungen werden, Sonder-friedhöfe für gewisse Religionsgemeinschaften vorzusehen? Wie weit dürfen religiöse Symbole öffentlich angebracht (Kruzifixe) oder getragen (Kopftücher) werden?» Auch müsste geklärt werden, wie sich ein solcher Religionsartikel zum bestehenden Artikel 15 BV über Glaubens- und Gewissensfreiheit verhalte.
(2) Nach der Abschaffung des Bistumsartikels unterstützen nun alle Kir-chen das Begehren des SEK zur Erarbeitung eines Religionsartikels und äussern folgende inhaltliche Desiderate: die zeitgemässe Umschreibung der Beziehung zwischen Bund und den Kirchen in der Bundesverfassung wäre angesichts der christlichen Prägung der schweizerischen Gesellschaft sinn-voll und begrüssenswert (so die christkatholische Kirche); der wesentliche Beitrag der Kirchen und Religionsgemeinschaften zum Zusammenhalt und zur Entwicklung von Gesellschaft und Staat solle darin gewürdigt sowie das Selbstbestimmungsrecht und die Gleichbehandlung der Kirchen festgehal-ten werden (so der SEK); für die Minderheitskirchen und die anderen Reli-gionsgemeinschaften, die es sich nicht leisten können, die kirchliche Rechts-persönlichkeit in allen Kantonen zu konstituieren, wäre es gut, eine Anlauf-stelle auf Bundesebene zu haben, um eine Gleichbehandlung sicher zu stellen (so die Evangelisch-methodistische Kirche); die SBK signalisiert in der Sache «Religionsartikel» Gesprächsbereitschaft; die RKZ erklärt sich bereit, zusammen mit der SBK eine gemeinsame Position zum Vorschlag eines Religionsartikels zu erarbeiten, ist aber vor allem bestrebt als gleichberechtigter Partner in die Gespräche mit anderen Kirchen und Religionsgemeinschaften sowie mit politischen Gremien einbezogen zu werden; sie betont das Selbstbestimmungsrecht sowie dass ein Religionsartikel die Zuständigkeit der Kantone für die Regelung des Verhältnisses von Kirche und Staat (Art. 72 BV) in keiner Weise einschränken darf.
(3) Unterdessen ist eine ansehnliche religionsrechtliche und religions-wissenschaftliche Literatur zum Begehren «Religionsartikel» erschienen. Die vom Rat des SEK im September 2000 eingesetzte Expertengruppe «Religi-onsartikel», bestehend aus Prof. Dr. Roland J. Campiche, Dr. Ueli Friedrich (Vorsitz), Prof. Dr. René Pahud de Mortanges und PD Dr. Christoph Winzeler sowie Pfr. Markus Sahli als Sekretär attestierte der BV 2002, mit den religionsrechtlichen Regelungen in den Art. 15 und 72 und trotz der Eliminierung von Relikten aus der Kulturkampfzeit 1999, «nach wie vor den Geist des 19. Jahrhunderts» zu atmen: «Der Bund wird für die Regelung des Verhältnisses zwischen Kirchen und Staat als nicht zuständig erklärt. Für ihn steht das Recht des Individuums auf Religionsfreiheit im Vordergrund. Soweit die BV, unter dem Randtitel ?Kirche und Staat?, in Art. 72 Abs. 2 die Religionsgemeinschaften im Zusammenhang mit Bundeszuständigkeiten erwähnt, geschieht dies negativ, im Zusammenhang mit Maßnahmen zur Wahrung des konfessionellen Friedens». Nach dieser Ouvertüre schlägt die Expertengruppe die Schaffung eines Religionsartikels mit folgenden drei Stossrichtungen vor: Da Religion nicht nur Privatsache des einzelnen Menschen ist, sondern auch einen Gemeinschaftsbezug und Öffentlichkeitsanspruch hat, solle die in Art 15 BV geregelte individuelle Glaubens- und Gewissensfreiheit durch die körperschaftliche Religionsfreiheit der Kirchen und anderen Religionsgemeinschaften ergänzt werden; die Schaffung einer übergeordneten Rechtsgrundlage auf Bundesebene für die Beziehungen zwischen den Bundesorganen und den Religionsgemeinschaften wäre wünschenswert; und schließlich solle dabei die kantonale Souveränität im Bereiche des Staatskirchenrechts gesichert werden. Auf dieser ? z.T. sehr juristisch argumentierenden ? Grundlage hat die Expertengruppe konkrete Formulierungsvorschläge für Art. 15 BV (1 Vorschlag) und Art. 72 BV (3 Varianten) erarbeitet. Sieht man von der impliziten Andeutung in der Variante 2 für Art. 72, Abs. 3 (Der Bund «trägt bei seinem Handeln den Anliegen der Religionsgemeinschaften Rechnung; er kann unter Wahrung der religiösen Neutralität ihr gesellschaftliches Wirken unterstützen»), vermisst man dabei ein m.E. wesentliches Anliegen der Kirchen und Religionsgemeinschaften bei der Befürwortung des Nachdenkens über einen Religionsartikel: die positive Würdigung des wichtigen Beitrags der Kirchen und Reli-gionsgemeinschaften zum Zusammenhalt und zur Entwicklung von Staat und Gesellschaft.
Ähnlich lautet auch der Vorschlag von Christoph Winzeler für eine Neuformulierung der Art. 15 und 72 BV im Sinne des Anliegens eines Religionsartikels ? mit dem Unterschied, dass Winzeler Begriffe wie «Glaube» und «Glaubensgemeinschaften» statt «Religion» und «Religionsgemeinschaften» bevorzugt. Nachdem Winzeler mit Jacob Burckhardt zuvor die Religion als eine der drei «Potenzen» der Weltgeschichte neben Kultur und Staat bezeichnet hat, hätte man erwartet, dass er eine Würdigung des oben erwähnten positiven Beitrags der Kirchen und Religionsgemeinschaften in seinen Vorschlag aufnimmt. Auch Heinrich Koller befürwortet für den Religionsartikel die «Sach-überschrift Glaubensgemeinschaften». Er macht keinen konkreten Vor-schlag, sondern beschränkt sich darauf, die «Elemente» zu nennen, die ein Religionsartikel umfassen könnte. Auch hier spielt die Würdigung des posi-tiven Beitrags der Kirchen und Religionsgemeinschaften keine Rolle, es geht lediglich um reine religionsrechtliche Postulate: «die Gewährleistung der korporativen Religionsfreiheit mit Hinweis auf Selbstverwaltungsrecht und Organisationsautonomie (nach dem jeweiligen Selbstverständnis); Zuständigkeit der Kantone zur Regelung des Verhältnisses zu den Glaubensgemeinschaften (nach Maßgabe der bundesrechtlichen Vorschriften); Möglichkeit und Voraussetzungen der öffentlich-rechtlichen Anerkennung von Glaubensgemeinschaften durch die Kantone (insbesondere Gleichbehandlung); Möglichkeit und Grenzen vertraglicher Vereinbarung zwischen den Glaubensgemeinschaften und dem Staat (Bund und/oder Kantone); Zuständigkeit für Maßnahmen zur Einhaltung des religiösen Friedens.»
Wie man sieht, ist die Diskussion um einen Religionsartikel noch nicht ausgereift. Sie ist Ausdruck dafür, dass Systematik und Inhalt der für die Religionsfreiheit zentralen Art. 15 und 72 BV (auch nach der Streichung des Bistumsartikels) Fragen aufwerfen. Aber die Diskussion leidet m.E. daran, dass sie bisher vor allem von Juristen geführt wurde, die ohne rhetorisches Beiwerk religionsrechtliche internationale Standards in der BV verankern wollen, weniger von Theologen, Philosophen und Religionswissenschaftlern, die eher den Wunsch danach hätten, nach der Wiederkehr von Religion den positiven Beitrag der Kirchen und Religionsgemeinschaften für Staat und Gesellschaft in der Verfassung festzuhalten. Das Projekt «Religionsartikel» wird erst reif sein, wenn auch die zuletzt genannten Experten sich an der Diskussion beteiligen, gemeinsam mit den Juristen über die Rolle von Religion in der Öffentlichkeit sowie in der Verfassung nachdenken und dabei auch die oben zitierten Überlegungen von Denkern wie Böckenförde und Habermas u.a. über Religion als ethischer Orientierungsrahmen von Staat und Gesellschaft ernsthaft bedenken. Ein «Religionsartikel», der lediglich die religionsrechtliche Problematik zum Ausdruck brächte, wäre jedenfalls nicht ganz im Sinne des ursprünglichen Begehrens des SEK. Wenn schon die Botschaft des Bundesrates über die neue Bundesverfassung vom 20. November 1996 festhielt, dass der Grundsatz der konfessionellen Neutrali-tät des Staates vom Staat nicht fordert, «eine Haltung einzunehmen, die frei von jeglichen religiösen oder philosophischen Aspekten ist. Der Staat darf also, innerhalb gewisser Grenzen, Religionsgemeinschaften bevorzugen (z.B. durch Anerkennung von Landeskirchen), ohne die Religionsfreiheit zu verletzen.» ? wäre es nicht angebracht, im Rahmen eines Religionsartikels jene Kirchen und Religionsgemeinschaften zu würdigen, die Staat und Gesellschaft bisher besonders geprägt haben? 5. Das Religionsrecht und die Religionsfreiheit der Bundesverfassung Mit der neuen BV hat die Schweiz beachtliche Anstrengungen unter-nommen, um Religionsrecht und Religionsfreiheit auf dem Boden der zeit-genössischen Rechtsentwicklung neu zu bestimmen. Anders als 1874 haben Fragen der Religionsfreiheit und des Religionsfriedens, von der Frage des Bistumsartikels einmal abgesehen, in der Verfassungsrevision kaum hohe Wellen geschlagen ? und dies trotz der religiösen Pluralisierung der Gesell-schaft, die neue Fragen im Zusammenhang mit der Religionsfreiheit auf-wirft. Es scheint, dass sich diese Pluralisierung noch kaum auf die neue Verfassung ausgewirkt hat.
Wir können von einigen Faktoren sprechen, die das Verständnis von Religionsfreiheit in der BV geprägt haben: zum einen der Wandel von einem institutionellen zu einem individualistischen Verständnis der Religionsfreiheit. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts gewann, nicht zuletzt unter dem Eindruck des Liberalismus und der Erfahrungen mit dem Dritten Reich, der individualrechtliche Gehalt der Grundrechte in den Menschenrechtserklärungen und der höchstrichterlichen Rechtsprechung ganz allgemein an Bedeutung. Zum anderen ließen die konfessionellen Spannungen ganz erheblich nach. Dies spiegelt sich in der BV wider, etwa in der Gewährleistung der Glaubens- und Gewissensfreiheit im Katalog der Grundrechte (Art. 15 BV), in den Bestimmungen über das Verhältnis von Kirche und Staat (Art. 72 BV), im Verbot der Diskriminierung wegen der religiösen, weltanschaulichen oder politischen Überzeugung in Zusammenhang mit der Gewährleistung der Rechtsgleichheit (Art. 8 BV) und im Abschied vom kulturkämpferischen Geist der aBV.
Neben diesen allgemeinen Unterschieden zur aBV gäbe es auch konkrete: so werden in Art 15, Abs. 2 und 3 BV Aspekte positiver Religionsfreiheit deutlicher als bisher herausgehoben; die negative Religionsfreiheit findet in Art 15, Abs. 4 BV ausdrückliche Erwähnung; andere, in Art 49, Abs. 3, Abs. 4 und Abs. 5 aBV, bisher ausdrücklich geregelte Aspekte der Religionsfreiheit finden sich in der neuen BV nicht mehr. Auch verzichtet die neue BV auf ein «Säkularitätsprogramm» im Zusammenhang mit den öffentlichen Schulen, dem Zivilstandswesen, dem Eherecht oder dem Begräbniswesen; ebenso wird auf im Einzelnen nicht unproblematische Schrankenregelungen verzichtet. Vielmehr enthalten die Art. 35 und 36 BV allgemeine Bestimmungen über die Verwirklichung und die Einschränkung von Grundrechten, «welche zusammen mit den am Anfang des Grundrechtskatalogs festgeschriebenen Grundsätzen der Menschenwürde (Art. 7 BV), der Rechtsgleichheit (Art. 8 BV) und von Treu und Glauben (Art. 9 BV) eine gute Grundlage für eine kohärente Grundrechtsprechung bilden». Ein Grundrechtsprogramm tritt also anstelle einzelner problematischer Regelungen und Schranken. In materieller Hinsicht wird gegenüber der aBV die Hervorhebung der positiven Religionsfreiheit vielfach begrüsst. Aber gerade hier scheint mir die BV nicht so weit zu gehen wie die meisten internationalen Erklärungen über die Menschenrechte, denn anders als diese hält sie das Recht, seine Religion oder Weltanschauung zu wechseln, nicht ausdrücklich fest. Das wäre in Zeiten religiöser Pluralisierung der Gesellschaft, in denen sich in Europa Religionen ausbreiten, die ein solches Recht nicht für selbstverständlich halten, sehr wichtig gewesen. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 betont es, genauso wie die für die Rechtsprechung des Bundesgerichtes so wichtige Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) vom 4. November 1950 und die Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 18. Dezember 2000 ? nicht jedoch der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte von 1976, der auf Druck islamischer Länder auf diesen Passus verzichten musste.
Von den Kirchen und Religionsgemeinschaften wird einhellig begrüsst, dass die Glaubens- und Gewissensfreiheit nun im Katalog der Grundrechte auftaucht. Wie die Diskussion um den Religionsartikel gezeigt hat, werden zugleich Desiderate im Hinblick auf die korporative Religionsfreiheit bzw. das Selbstbestimmungsrecht geäussert.
6. Umstrittene Religionsfreiheit im Schatten religiöser Pluralisierung Im Allgemeinen kann gesagt werden, dass der Staat bemüht ist, die eigenen Schranken (Neutralität, Toleranz, Parität) zu respektieren sowie für die Einhaltung der Schranken der Individuen, Religionen und Weltanschauungen (die Würde des Menschen, die rechtlichen-kulturellen Standards, die öffentliche Ordnung, wie sie in den jeweiligen Verfassungen geregelt ist) zu sorgen. Der International Religious Freedom Report 2005 bestätigt den allgemeinen Eindruck, dass der Staat um die Respektierung der Religionsfreiheit sehr bemüht ist. Hervorgehoben werden die Maßnahmen gegen muslimische Prediger, die nicht im Einklang mit der schweizerischen Rechtsordnung stehen (konkret: Maßnahmen gegen «the extremist views» des Führers des Islamischen Zentrums in Genf, Hani Ramadan). Ebenso wird die Regelung des rituellen Schächtens gelobt. Aus Gründen der Religionsfreiheit ist niemand im Gefängnis, es gibt keine Zwangsbekehrungen und keinen religiös motivierten Terrorismus. Die allgemeine freundliche Haltung der Gesellschaft gegenüber den Religionen trägt zur Verwirklichung der Religionsfreiheit bei. Gleichwohl werden einige anti-islamische und anti-semitische Akte angeprangert, die aber von der Justiz oder den Behörden geahndet werden. So ist z.B. die Rede davon, dass eine «konservative Partei» im November 2004 eine Volksinitiative unterstützt habe, um Frauen mit Kopftuch aus dem öffentlichen Arbeitssektor zu verbannen. Bundesrat Moritz Leuenberger war aber dagegen und hat davor gewarnt, die Integration der Musliminnen in die schweizerische Gesellschaft damit zu erschweren.
Allerdings kann dieser allgemeine Befund nicht darüber hinweg täuschen, dass sich im Schatten religiöser Pluralisierung einige Fragen und Aufgaben im Hinblick auf die Religionsfreiheit stellen. Diese sollen nun zumindest skizziert werden.
6.1 Die Konkretisierung der Religionsfreiheit allein den BGE überlassen? Wie Peter Karlen angemerkt hat, steht die Tragweite der Religionsfreiheit ebenso wenig wie diejenige anderer Grundrechte unabänderlich fest: «Sie ist vielmehr mit Blick auf die zu beurteilenden Fragen immer wieder von neuem zu bestimmen. Die erforderliche Konkretisierung wird jedoch von einem ? sich zunehmend auch auf europäischer Ebene herausbildenden ? festen Bestand von Richtpunkten geleitet.» Im Hinblick auf die BGE, die aufgrund von Beschwerden von Angehörigen nichtchristlicher Religionen oder wegen der Verwendung religiöser Symbole wie das Tragen bestimmter Kleider oder das Anbringen eines Kruzifix in der Schule zunehmend das Mittel für die Wahrung der Religionsfreiheit in umstrittenen Fällen geworden sind, hat Karlen zugleich kritisch hinzugefügt: «Bei der erforderlichen Abwägung verrät die jüngste Rechtsprechung nicht so sehr die ihr oft unterstellte laizistische Tendenz, sondern viel eher einen problematischen Hang zur Abstrahierung von den Gegebenheiten des Einzelfalls und ? damit verbunden ? oft zu einer Überordnung der Individualinteressen über die Gemeinschaftsbezüge der Schule.» Zu beobachten ist in den BGE auch «eine Tendenz zum Vorrang der negativen (Freiheit von religiösem Zwang) vor der positiven Religionsfreiheit (Freiheit, die eigene Überzeugung zu leben und zum Ausdruck zu bringen)».
Nun, gerade weil die Konkretisierung der Religionsfreiheit hohe Anfor-derungen stellt und ein waches Bewusstsein für die sensiblen Zonen des menschlichen Zusammenlebens voraussetzt, darf sie nicht allein den BGE überlassen werden, d.h. Theologen, Philosophen und Religionswissenschaft-ler müssten sich zumindest an der Definition dessen beteiligen, was als legitime «Religion» bzw. «Weltanschauung» anzusehen ist und somit unter den Schutz der Religions- und Gewissensfreiheit fällt. Denn die Definition von Religion in den BGE ist nicht unproblematisch, weil allzu formell und wertneutral. So wird in BGE 119 Ia 178 E4b von 1993, der die Befreiung vom Schwimmunterricht aus religiösen Gründen betrifft, unter Religion folgen-des verstanden: «alle Arten von Vorstellungen über die Beziehungen des Menschen zum Göttlichen beziehungsweise zum Transzendenten. Das Glaubensbekenntnis muss allerdings eine gewisse grundsätzliche, weltan-schauliche Bedeutung erlangen, somit einer Gesamtsicht der Welt entspre-chen; das heisst, dass mit dem Glaubensbekenntnis eine religiös fundierte, zusammenhängende Sicht grundlegender Probleme zum Ausdruck zu gelangen hat, ansonsten die Religionsfreiheit sich zu einer schwer fassbaren Allgemein- und Handlungsfreiheit erweitern würde.» Auf diese Definition bezieht sich wiederum BGE 125 I 369, Eb von 1999, der die Scientology-Anwerbung auf öffentlichem Grund betrifft: «Der Staat ist aufgrund der Religionsfreiheit zur Unparteilichkeit gegenüber den in einer pluralistischen Gesellschaft auftretenden religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen verpflichtet [...]. Eine Gruppierung kann sich jedoch nur auf dieses Grund-recht berufen, wenn sie eine genügend grundsätzliche, gesamtheitliche Sicht der Welt zum Ausdruck bringt (BGE 119 Ia 178 E4b, S. 183).»
Kann nun Religion wertneutral als eine «genügend grundsätzliche, ge-samtheitliche Sicht der Welt» definiert werden, ohne Beachtung der Kon-formität dieser Sicht mit den Menschenrechten, d.h. mit der Würde der Person, oder der Haltung der jeweiligen weltanschaulichen Gruppe oder Religionsgemeinschaft zur pluralistischen Gesellschaft bzw. zur Werteord-nung unserer Kultur? Gewiss, in der religionsrechtlichen Literatur heisst es wiederholt, dass die religiös-weltanschauliche Neutralität es dem Staat ver-bietet, «das Wesen der Religion normativ festzulegen». Aber dies hindert Juristen, Theologen, Philosophen und Religionswissenschaftler nicht daran, über das Wesen einer guten, d.h. menschenwürdigen Religion nachzuden-ken, damit die Gerichte sich bei der Schrankenregelung leichter tun können. Es kann nicht der Wahrheit letzter Schluss sein, dass sogar «das Zusammenrühren psychologischer Taktiken und Erkenntnisse mit ostasiatischen Erkenntnissen» für die Anerkennung als Religion genügt.
6.2 Können sich (destruktive) Sekten auf die Religionsfreiheit berufen? Dies führt uns nicht zuletzt zum Problem der Berufung von «destruktiven» Sekten auf die Religionsfreiheit, das in der jüngsten Zeit intensiv diskutiert wird. Darf im religiösen Bereich operierenden destruktiven Organisationen der Schutz der Religionsfreiheit abgesprochen werden? René Pahud de Mortanges hat festgestellt, dass der Religions- bez. Welt-anschauungsbegriff, von dem das Bundesgericht ausgeht, sehr weit gefasst ist: «Mit dieser Definition kann den allermeisten Sekten die Berufung auf die Religionsfreiheit nicht verwehrt werden ? darin ist sich die deutsche Lehre einig.» Unter Religionsrechtlern besteht Konsens darüber, dass der Idee der Religionsfreiheit gerade entspricht, «dass die Anhänger von Lehren, welche eine Mehrheit der Bevölkerung für absonderlich oder gar abstrus hält, diese leben und bezeugen können.» Was in Frage steht, ist allerdings nicht das Recht auf religiöses Dissiden-tentum, heterodoxe Bewegungen oder Minderheitsreligionen, die von den Religionen der Mehrheit der Bevölkerung abweichen, sondern ob die Idee der Religionsfreiheit unabhängig von deren Bindung an die Menschenwürde und unsere Werteordnung formaljuristisch interpretiert werden darf.
Auch bei der Ablehnung des Rechtes von reinen «Psycho-Organisationen» zur Berufung auf die Religionsfreiheit, spielt die Konformität mit der Menschenwürde keine Rolle; es geht lediglich darum, dass jene dem juristischen Religionsbegriff entsprechen oder nicht: «Es geht nicht um die Vermittlung von Vorstellungen über die Beziehungen des Menschen zur Transzendenz und auch nicht um eine religiöse Gesamtinterpretation der Welt, so wie dies in der Definition des Bundesgerichts von ?Religion? bzw. ?Weltanschauung? verlangt wird. [...] Organisationen, deren Lehre zur Hauptsache aus einer Anleitung zum Geistestraining besteht, erfüllen die Voraussetzungen zur Berufung auf die Religionsfreiheit nicht». Diese Beispiele dürften gezeigt haben, dass der juristische Religionsbeg-riff nicht unproblematisch ist. Daher ist Pahud de Mortanges zuzustimmen, wenn er «eine Eingrenzung des bisher als fast uferlos verstandenen verfassungsrechtlichen Religionsbegriffes» für nötig hält. Doch nicht nur die «Psycho-Organisationen» zwingen zu einer vertieften Reflexion auf das, was im Rahmen der «Religionsfreiheit» als «Religion» oder «Weltanschauung» zu betrachten ist, sondern das Phänomen religiöser Pluralisierung als solches, das unser Rechtssystem mit der Frage der Berufung bisher «fremder Religi-onen» auf die Religionsfreiheit konfrontiert. Christoph Winzeler hat m.E. Recht, wenn er schreibt, die wohl schwierigste Frage gilt «dem Begriff der Religion als Schutzgut [...]. Von ihrer Beantwortung hängt ein Stück weit die Tragweite der Religionsfreiheit als Grundrecht ab