Integration heisst Verständigung! Leserkommentar von Pfarrer Georg VISCHER, Islambeauftragter der Evangelisch- reformierten Kirche BS und Kopräsident des Interreligiösen Forums zur Muslimdebatte in der BAZ, am 19.4.2010
Um der wirtschaftlichen Entwicklung willen haben wir Arbeitskräfte aus allen Teilen der Welt geholt. Zunächst meinten wir, die Arbeitskraft ohne die Menschen importieren zu können mit ?Saisonnier-Statut?, das ?Fremdarbeitern? 9 Monate Aufenthalt pro Jahr zugestand. Wir erkannten die Unmenschlichkeit dieser Regelung, erlaubten längerfristige Aufenthaltsdauer und Familiennachzug. So kamen Frauen und Kinder aus Dörfern in Ostanatolien oder dem Balkan in unsere Städte. Konnten sie von Heute auf Morgen verschweizert werden? Wer kann sich ernsthaft darüber wundern, dass eine türkische Grossmutter nach dreissig Jahren in der Schweiz so wenig Deutsch spricht wie die süditalienische Nonna nach fünfzig Jahren?
Fünfzehn Jahre ist es her, seit meine verstorbene Frau bei der Initiative einer OS-Lehrerin unseres Sohnes mitmachte, die isoliert lebende Mütter aus dem Balkan und der Türkei mit einheimischen Müttern zusammenbrachte, um gemeinsam einfachste Alltagskommunikation einzuüben. Das brauchte viel Fingerspitzengefühl, Vertrauensaufbau und einen enormen freiwilligen Einsatz. Mir gab das Projekt den Anstoss, die Stiftung des Basler Preises für Integration anzuregen, der dann der Unterstützung der Christoph Merian-Stiftung und der Novartis zu Stande kam und mit dem seither jährlich Menschen ausgezeichnet werden, die solche Graswurzelarbeit leisten.
In Basel wurde bisher umsichtige Integrationsarbeit geleistet und ein vorbildliches Integrationskonzept entwickelt. Dass heute just diejenigen, die sich darin einsetzen, im Grossen Rat ins Schussfeld geraten, stellt den Politikerinnen und Politikern kein gutes Zeugnis aus. Gescheiter wäre, sie würden die Erfahrungen derer, die sie kritisieren, zur Kenntnis nehmen. Erschreckend aber ist die Welle der Islamophobie, die seit der Minarett-Abstimmung von rechts bis links durch die Parteien schwappt. In der pauschalisierenden und aggressiv entstellenden Darstellung ?des? Islam tritt eine Unkenntnis auch der christlichen Religion in ihrer Vielfalt zu Tage. Ja, Religion ? ob christlich oder muslimisch ? steht quer zu unserer ?aufgeklärten? Zivilisation, negativ und positiv. Religion kann abgeschottete Enklaven des Obskurantismus bilden, in die sich Menschen zurückziehen, die mit der Komplexität unserer hoch rationalisierten Welt nicht zurechtkommen. Sie kann aber auch Schutzräume der Menschlichkeit bilden. Viel hängt davon ab, wie Glaube reflektiert, interpretiert und weitergegeben wird.
Was bringt es, religiös auffällig praktizierende Menschen an den Pranger zu stellen und als Terroristen zu verdächtigen? Wichtig ist, dass wir uns positiv über weltanschauliche Grenzen hinweg darüber verständigen, auf welchen Grundwerten und Grundrechten unser Zusammenleben in der Schweiz beruht. Einer solchen Verständigung wird durch Verdächtigungen und Beschämungen der Weg nicht geebnet.
Im Zusammenhang mit den Muslimen taucht das Thema Integration in der Öffentlichkeit und in den Medien immer wieder auf. Muslime sollen sich in die hiesige Gesellschaft und Kultur integrieren heisst es ? sollen sich anpassen, ist meist gemeint. Von muslimischer Seite her kommt dann oft der Verweis auf den Unterschied zwischen Integration und Assimilation wir integrieren uns gerne, wollen uns aber nicht bloss ?assimilieren? - sowie der Hinweis darauf, dass eine Integration nur bei Offenheit der Mehrheitsgesellschaft für die zu integrierenden Minderheiten mit vielen ihrer Eigenheiten stattfinden kann.
Das Wort ?Integration? stammt gemäss Wikipedia von lateinisch integrare = wiederherstellen und bedeutet zu Deutsch ?Herstellung eines Ganzen?. Hingegen kommt das Wort ?Assimilation? von ?similis?, was ?ähnlich? bedeutet und somit soziologisch gesehen die ? Angleichung verschiedener gesellschaftlicher Gruppen aneinander? meint.
Wir sollen und wollen uns also integrieren, nicht aber plump assimilieren.
Betrachten wir uns einmal das Gebilde einer ?Gesellschaft? als solcher. Kann man eine menschliche Gesellschaft ein statisches, unbewegliches Gebilde sehen, in das ?Neues? sich einfügen muss (das wäre wohl eher ?Assimilation?) oder ist eine ?Gesellschaft? als Ganzes nicht per se die Zusammensetzung ihrer Einzelteile? Und: ist eine Gesellschaft etwas statisches, unbewegliches oder ist sie im Gegenteil von ihrer Natur her dynamisch, das heisst, lebendig und ein in steter Bewegung und Veränderung und befindlicher ?Körper?? Kann eine Gesellschaft überhaupt gewisse Bestandteile quasi ?draussen? lassen oder können Teile davon sich selbst ausschliessen? Ist dies nicht aus sich heraus unmöglich?
Unter welchen Voraussetzungen ist man Teil der Körperschaft einer ?Gesellschaft?? Allem voran steht ? ob seiner Dringlichkeit in der Skala der menschlichen Überlebensnotwendigkeit - wohl der wirtschaftliche Austausch das heisst, die Integration der eigenen Arbeitskraft in das System einer menschlichen Gemeinschaft. Ein Geben und Nehmen erst mal auf wirtschaftlicher Ebene. Man bringt seine Fähigkeiten und seine Arbeitskraft ein, bekommt dafür eine Entlohnung und zahlt an die Gemeinschaft Steuern. Man kauft (mietet) - verkauft (vermietet) eventuell ? von anderen Mitgliedern der Gesellschaft die Waren, die für den eigenen Lebensunterhalt nötig sind. Auf sozialer und rechtlicher Ebene ist man ebenfalls auf den grösseren gesellschaftlichen Rahmen angewiesen; in Rechtsfragen sowie in gesellschaftlichen Bereichen wie Eheschliessungen, Scheidungen, Geburten, Krankheit, Tod, bei der Ausbildung der Kinder sowie eigener Weiterbildung ? immer ist man als Teil des Ganzen auf andere Teile davon angewiesen. Im besten Falle nicht überwiegend als Empfänger von Leistungen sondern mindestens in gleichem Masse auch als ?Geber? . Teilbereiche dieses Austauschs können auf kleinere Gruppen (bis hin zum innerfamiliären Austausch) reduziert sein ? je grösser der Umfang dieser Teilbereiche wird, desto eher wird man von einer ?Parallelgesellschaft? innerhalb der Gesellschaft sprechen.
Auch bezieht dieser Austausch natürlicherweise immer den seelischen Bereich mit ein. Sobald ich mit Menschen in einen Austausch trete, ist das Seelische von selbst inbegriffen in der Interaktion. Gefühlslagen und Stimmungen, Wertvorstellungen, innere Werte, all dies fliesst mit in jeder Begegnung von Mensch zu Mensch. Und Austausch bedeutet auch aus sich heraus, aktiv und in Bewegung zu sein. Also kann und soll mit ?Integration? auf keinen Fall eine Art maskenhaftes, starres und lebloses sich ? Angleichen gemeint sein, ein entleertes Stillhalten oder sich Zurücknehmen, Schweigen, um nicht aufzufallen, um ?angepasst? zu erscheinen, ein äusseres wie inneres Sich - Einfügen ohne zu hinterfragen, als ?Klotz? in ein ?Gebilde von Klötzen?. Das nicht.
Oft taucht das Wort ?Kultur? auf in den Diskussionen über die sogenannte ?Integration?: man müsse sich der ?Kultur anpassen?, in der man lebt. Abgesehen davon, dass einer der obersten Leitsätze der Demokratie die Akzeptanz und Repräsentanz einer pluralistischen Gesellschaft mit verschiedensten in ihr enthaltenen Elementen ist, in der jeder seine Ansichten und Überzeugungen (seine ?Kultur?) vertreten kann, solange er damit niemandem schadet, müssten wir uns überlegen, was denn unter ?Kultur? so verstanden wird. Man kann Kultur als Tradition auffassen, oder aber auch als vorübergehende ?Gepflogenheit?. Was heutzutage im Westen gelebt wird, hat wohl mehr mit einer Auflösung jeglicher Traditionen und somit von ?Kultur? in jedem anderen Sinne als in dem der ?üblichen Gepflogenheit? oder dem des ?Meinungskonsenses? zu tun. Oder auch im Sinne von sich ?von selbst? ergebenden Notwendigkeiten im Rahmen eines vorwiegend auf Konsum hin orientierten Systems. Genau hier nun müssen wir Muslime - jeglicher Herkunft ? passen. Wir sind Muslime, weil wir unser Menschsein in dieser Welt ernstnehmen und erkennen im Islam ein gottgegebenes Muster, das den Einzelnen wie die Gemeinschaft der Menschen zur seelisch/geistig/körperlichen Entfaltung und zum Heil führt. Wir sind gewahr, dass die Erfüllung vorübergehender ? weltlicher ? Bedürfnisse nicht unbedingt im Verhältnis 1:1 übertragbar auch dem seelischen Heil förderlich ist. Wir glauben, dass der Weg der menschlichen Seele von ihrem Ursprung und zu ihrer höchsten Bestimmung einer der Läuterung, des Kampfes mit seinen niedrigeren Gelüsten, der Reinigung und des Wachstums ist. Wir fühlen uns beseelt vom Wunsch, uns Gott hinzugeben, ewigwährenden Frieden und Geborgenheit in Seiner erhabenen Nähe und in Seinem Wohlgefallen zu finden. Wir anerkennen das ?Gebäude? des Islam mit seinen vielschichtigen Inhalten als gnadenvolle Rechtleitung und Orientierung um dieses Ziel ? mit Hilfe von Gottes Gnade und Barmherzigkeit - zu erreichen ? unter aktivem Einsatz unserer Kräfte und Fähigkeiten. Wir können und wollen dieses Ziel nicht um den Preis vorübergehender Bequemlichkeit, Annehmlichkeit und auf Druck von ?Notwendigkeiten? dubiosen Ursprungs aus den Augen verlieren, denn wir erfahren es durch persönliche Praxis immer wieder, dass unsere Religion, unser ?Din? der umfassende Segen für den Menschen als Ganzheit bedeutet.
Entgegen der Ansicht einiger zeitgenössischer Denker und Meinungsmacher ist Islam (Religion) nicht ein ?soziokulturelles System?, entstanden aus dem Bedürfnis des Menschen, seinem Ego Nahrung zu geben und seinen Platz in der Welt zu behaupten. Islam ist im Gegenteil ein göttliches Urmuster für die Seele sowie auch für den Körper, die den Menschen zu seiner besten und höchsten Bestimmung führt. Islam ist wie das Flussbett, in dem der ?Fluss Mensch? und ?menschliche Gesellschaft? fliessen kann. Was als ?KULTUR? an seinen Ufern entsteht ? das kann wohl sehr verschieden und vielfältig sein! Das kann und muss sich Zeiten und Landschaften anpassen, ist ?flexibel?! Aber der Muslim will/kann weder seinen (seelischen) Ursprung noch seine endgültige Bestimmung aus den Augen verlieren ? und das Schöpfen aus seinem Glauben verleiht seinem Leben Farben, Konturen und Kraft.
Muslim sein kann nicht heissen, passiv, konsumorientiert, gedankenlos zu leben. Muslim sein muss heissen, zu sich als Muslim und somit zu Allah und Seinem Gesandten zu stehen. Muslim sein soll heissen, alle zugänglichen inneren und auch äusseren Ressourcen auf beste und ausgewogenste Weise verfügbar zu machen und zum Wohle der menschlichen Gemeinschaft einzusetzen. Muslim sein muss heissen, dass man sich um das eigene Wohl wie das der anderen Menschen und der Schöpfung insgesamt kümmert und schlaflos ist, wenn man dieses Wohl und Heil in Gefahr sieht. Muslim sein muss heissen, aktiv sein, nicht zu ruhen, solange nicht alles im Gleichgewicht und in einer gesunden Ordnung ist, Verantwortung übernehmen, seine Angelegenheiten in die Hand zu nehmen, nicht einfach geschehen zu lassen. Wir wollen und müssen uns also integrieren im Sinne von uns Einbringen auf die beste uns mögliche Weise. Wir müssen und wollen gerne alles zugänglich machen, was wir an Werten in unserem Glauben vorfinden und was wir als Menschen so Gott will, verinnerlicht haben. Gerne wollen wir dies alles pflegen und weitergeben, uns darüber mit Euch austauschen. (Wir wollen dabei weder missionieren noch aber in grossem Umfang in die Schattenexistenz der ?Parallelgesellschaft? abdriften.)
Wir praktizierende Muslime sind nicht hier auf der Welt um zu schmarotzen und zu belasten, nicht um zur Unordnung beizutragen. Und um es nicht unter den Tisch fallen zu lassen: unsere Scharia (welche wir im privaten Bereich praktizieren, wenn wir z. B. beten), beinhaltet auch die Prämisse, dass wir uns als Minderheit in rechtlichen Fragen der Mehrheitsgesellschaft unterwerfen. Wir sollen zum Beispiel die Verträge, die wir mit den Menschen abschliessen, einhalten! Ihr könnt uns also getrost SEIN sowie auch uns einbringen, uns integrieren lassen! Könnt euch somit EUREM Teil der Integration eurer Anliegen in Ruhe zuwenden?
Wir freuen uns also darauf, das Projekt der (Re-) INTEGRATION menschlicher Werte und Anliegen gemeinsam und interaktiv zu gestalten!