Ihr Inserat ?Für Demokratie und Freiheit? in der NZZ und im Blick
Sehr geehrter Herr Stückelberger
Da Sie Ihr umfangreiches Inserat ?Für Demokratie und Freiheit? in der NZZ und im Blick mit ?Pfr. Hansjürg Stückelberger, Präsident? unterzeichnet haben, und da Sie in diesem Inserat im Gestus des Verteidigers der christlichen Werte auftreten, erlaube ich mir, Sie sozusagen bei Ihrer Intention zu behaften und Ihre Worte im Spiegel der Grundaussagen und Grundlinien der Bibel Alten und Neuen Testamentes zu prüfen.
Mein allgemeiner Eindruck: Sie haben mit Ihrem Inserat die Kampagne der Befürworter der Minarettverbots-Initiative sozusagen weiter geführt, die bekannten Stichworte und Verknüpfungen wieder ins Feld geführt und versuchen, die geweckten Emotionen wach zu halten und damit Sympathisantinnen und Mitglieder für Ihren Verein ?Zukunft CH? zu gewinnen. All dies ist natürlich in einem Lande, in dem Meinungsfreiheit verfassungsmässig garantiert ist, erlaubt. Ob es mit den Werten des Evangeliums, auf das Sie sich berufen, vereinbar ist, scheint mir fraglich zu sein, (auch wenn ich das ?Richtet nicht, auf dass Ihr nicht gerichtet werdet? auch für mich gültig und wegleitend anerkenne).
Vor diesem Hintergrund und unter diesem Vorbehalt erlaube ich mir, Ihre acht Fragen zu beantworten und Ihnen dazu kritisch Gegenfragen zu stellen.
Zu Ihrer Einleitung: In den Diskussionen zur Minarettinitiative ist für Sie deutlich geworden, dass es sich beim Islam um ein ?religiös begründetes politisches System? handelt, in dem die Scharia alles regelt. Für mich ist deutlich geworden, dass die Befürworter statt zur Frage der Verfassungsgemässheit eines Minarettverbotes zu sprechen die scheinbar hinter allen Muslimen in der Schweiz drohende Scharia als Totschlagargument gebraucht haben. Das tun Sie in Ihrem Inserat erneut, ohne dass Sie aus Ihrer Kenntnis von Muslimen in der Schweiz dafür den leisesten Anhaltspunkt aufzeigen.
Zusätzlich nehmen Sie einen ?noch nie dagewesenen Angriff auf unsere direkte Demokratie und demzufolge auf das Schweizer Volk? wahr. Sie berufen sich normativ auf ?die allgemeine Stimmung im Volk?. Das finde ich irritierend, weil ich in der Bibel, für deren Werte Sie vorgeben, sich stark zu machen, die ? allgemeine Stimmung im Volk? nirgens als Kriterium für Wahrheit und Gerechtigkeit erkennen kann. Weder in der Thora noch bei den Propheten noch im Neuen Testament.
Nun zu Ihren acht Fragen:
1. Sie fragen: ?Welches Demokratieverständnis gehört zur Identität der Schweiz?? Es ist die Demokratie, welche auf Grund der Menschenrechte und im Rahmen des Rechtsstaates besteht. Aus Staatskundeunterricht, aus dem Studium der Geschichte sowie der Kirchengeschichte kennen Sie die Greuel, zu denen die absolute Volksherrschaft z. B. der Jakobiner oder im Sinne der volonté générale Rousseaus bis in die Gegenwart geführt haben ? und dies alles im Namen der absoluten, nicht durch den Rechtsstaat bestimmten Volksherrschaft. Sie kennen den für diesen Zusammenhang wohl grundlegenden Spruch aus der Bibel, der sich nicht von ungefähr in manchen reformierten Landkirchen als Wandspruch findet: ?Gerechtigkeit erhöht ein Volk? (Spr. 14,34).
2. Ja, wir Schweizer, als Bürger eines demokratischen Rechtstaates, sind verpflichtet, Religionsfreiheit allen Einwohnern und Gruppen zu gewähren, da wir anders das Grundprinzip eines demokratischen Rechtsstaates ? gleiches Recht für alle ? zerstören und die Menschenrechte beschneiden. Wer die Religionsfreiheit - oder eine andere Freiheit - missbraucht, wird im Rechtsstaat Kraft des Rechts zur Rechenschaft gezogen.
3. Sie suggerieren, dass Muslime als an die Scharia Gebundene demokratische Werte weder verinnerlichen noch akzeptieren können. Und Sie haben den Eindruck, dass die Muslime in der Schweiz Parallelgesellschaften aufbauen und sich nicht integrieren wollen. Ich würde Sie gerne fragen, wie Sie diesen Eindruck konkret durch das Verhalten von muslimischen Männern, Frauen und Kindern in Ihrer Umgebung belegen. Ich mache völlig andere Erfahrungen in meinen Kontakten mit Muslimen. Ihr Wunsch z.B. nach Aus- oder Weiterbildung für Imame in der Schweiz hat seine Wurzel gerade darin, dass Imame, die mit der Schweiz vertraut sind, den Gliedern ihrer Gemeinschaft beim schwierigen Weg der Integration Hilfe sein könnten. Denn auch eingewanderte Muslime möchten sich integrieren. Sie sprechen ja von Muslimen in der Schweiz und nicht von Vertretern eines islamistischen Landes, dessen Rechtssystem das der Scharia ist. Muslime, die ich kenne, fühlen sich an die schweizerische Verfassung und unser Rechtssystem gebunden und nicht ? wie Sie pauschalisierend vorgeben - an die Scharia. Öffentliche Stellungnahmen, z.B. anlässlich der Terrorattentate in London, sowie die Grundsatzerklärung der VIOZ (Vereinigung der Islamischen Organisationen in Zürich) zeigen dies in aller Eindeutigkeit. Ich denke, dass Sie sich vehement dagegen wehren würden, wenn ich Ihnen unterschieben würde, dass Sie als bibelgläubiger Mensch eigentlich immer im Schilde führen, EhebrecherInnen, Homosexuelle, Fremde auszurotten, weil dies in Ihrer Heiligen Schrift etwa im Buch Leviticus gefordert ist (zB Lev. 17,20; 20,10.18 etc.). Auch als bibelgläubiger Christ fühlen sie sich wohl an Dutzende von Geboten, die sich in der Bibel finden, nicht gebunden, wohl aber an die Bestimmungen unserer Verfasssung und Gesetzgebung. Weshalb gestehen Sie den Muslimen unter uns die gleiche Haltung im Blick auf Schariagebote und Bundesverfassung nicht zu? Wie vereinbaren Sie dies z. B. mit der Goldenen Regel (Mt. 7,12)?
4. Sie belegen Ihre Sicht, dass die Gewalttätigkeit des Islamismus dem Islam anhafte, mit der Sure 47,4 aus dem Koran: ?Und wenn ihr die Ungläubigen trefft, dann herunter mit dem Haupt, bis ihr ein Gemetzel angerichtet habt.? In meiner (wissenschaftlichen Ansprüchen genügenden) Ausgabe des Koran lautet die entsprechende Stelle: ?Wenn ihr (auf einem Feldzug) mit den Ungläubigen zusammentrefft, dann haut (ihnen mit dem Schwert) auf den Nacken! Wenn ihr sie vollständig niedergekämpft habt, dann legt (sie) in Fesseln, (um sie) später entweder auf dem Gnadenweg oder gegen Lösegeld (freizugeben).? Hätten Sie nicht mindestens auch den zweiten Satz mit zitieren müssen? Und auch hier: Wie reagieren sie wenn Sie mit entsprechend gewalttätigen Handlungsanweisungen aus der Bibel identifiziert werden, z.B.: ?Schlage Amalek und vollstrecke den Bann an ihm und allem, was es hat; schone seiner nicht, sondern töte Männer und Frauen, Kinder und Säuglinge, Rinder und Schafe, Kamele und Esel.?(1. Sam. 15,3). Oder: ?Samaria wird es büssen, dass es sich aufgelehnt hat gegen seinen Gott: sie fallen durch das Schwert, ihre Säuglinge werden zerschmettert und ihre Schwangeren aufgeschlitzt.? (Hos. 13,16). Auf Grund ihrer Bibelkenntnisse wissen Sie ohne Zweifel, dass diese Stellen ohne Weiteres vermehrt werden könnten. Auch hier wieder die Bergpredigt: ?Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge, des Balkens jedoch in deinem Auge wirst du nicht gewahr?? (Mt. 7,2). Und meine abgewandelte Aufforderung aus Ihrem Inserat: ?Erklären Sie bitte, welche Teile? der Bibel unchristlich ?und nicht verbindlich sind??
5. Die Verfolgung von Christen und Menschen anderen Glaubens in islamistischen, nicht demokratischen und nicht rechtsstaatlichen Ländern ist eine grauenhafte und nicht akzeptierbare Tatsache. Nein, Europa hat nicht ?dann Frieden, wenn es sich der Scharia unterworfen hat.? Auch nicht dann, wenn die seit langem ansässigen Europäer den Herr im Haus-Standpunkt praktizieren und das Recht der Migrationsbevölkerung in unserem Lande durch Sondergesetze beschneiden. Damit wird Rechtsstaat, Demokratie und Freiheit zerstört. Eigentlich sollte uns dieser Zusammenhang bekannt sein durch die Situation der protestantischen Bevölkerung in ehemals katholischen Ländern und Kantonen ebenso wie der katholischen Bevölkerung in ehemals protestantischen Ländern und Kantonen bis weit ins 20. Jahrhundert hinein, von der Rechtlosigkeit der jüdischen Bevölkerung ganz zu schweigen. Auch dafür gab es Begründungen, die sich auf die ?allgemeine Stimmung im Volk? stützten. Und dennoch nicht rechtsstaatlich und nicht demokratisch waren. Denn ?Gerechtigkeit erhöht ein Volk?.
6. Sie stellen die ?Lehre der Taqiya? als Grund dar, dass zu Muslimen bei uns kein Vertrauensverhältnis entstehen könne. Für Sie heisst Taqiya, ?der Muslim darf lügen, wenn es der Ausbreitung des Islams dient?. Bestimmt wissen Sie, dass der Begriff im 10. Jahrhundert in innerislamischen Verfolgungen aufkam und die Erlaubnis gab, in Extremsituationen der Gefahr an Leib und Leben zu verleugnen, dass man schiitischer Muslim sei. Also eine Erlaubnis, sein Leben zu retten, das Märtyrertum zu vermeiden. Bestimmt wissen Sie auch, dass es in islamfeindlichen Publikationen unserer Tage Mode geworden ist, Taqiya umzubiegen und sie als böswillige Verschleierungstaktik der Muslime darzustellen, durch die sie konspirativ im Geheimen auf Umsturz und Machterringung hinarbeiten. Mit welchem Interesse kolportieren Sie diese umgebogene Bedeutung, der ich noch bei keinem der mir bekannten Muslime in der Schweiz begegnet bin? Bewegen Sie sich hier nicht auf glitschigem Terrain, das wir nach dem 9. Gebot meiden sollten: Du sollst kein falsches Zeugnis reden wider deinen Nächsten?
7. Sie mahnen bei den Kirchenvertretern ?klare Informationen über das Wesen und die Zielsetzungen des Islam? an. Ist es nicht eine Binsenwahrheit, dass sich die Religionen lehrmässig unterscheiden? Zwei solche Unterschiede nennen Sie zu Recht. Die Liste liesse sich vermehren. Das ist unbestritten. ?Wie sollen Christen darüber denken?? Ohne Zweifel bestehen lehrmässige, vorstellungsmässige Unterschiede wie zwischen der christlichen und andern Religionen auch. Nur kann dies wohl kein Grund sein, die andere Religion, deren Lehren und Anschauungen man nicht teilt, zu perhorreszieren und schon gar nicht, deren Anhänger unter uns zu diffamieren. Natürlich gibt es auch eine Vielzahl von Berührungspunkten zwischen Koran und Bibel: Personen, Geschichten, Vorstellungen. Aber ebenso natürlich in unterschiedlicher Deutung, Beleuchtung, Einordnung ? so wie es in Religionen ist, die ihre Ursprünge in der gleichen geographischen und kulturellen Region haben, aber nach Ursprung und Geschichte eben doch unterschiedliche Religionen sind. Also: ?Wie sollen Christen darüber denken?? Ich denke: Differenziert, der Wahrheit verpflichtet, klar, respektvoll.
8. Den politisch Verantwortlichen stellen Sie vor Augen, dass die Muslime bis zur Jahrhundertwende in ganz Europa die Mehrheit erlangen werden. Dann werden sie ?auf demokratischem Weg die Demokratie und die Religionsfreiheit abschaffen.? Und unsere Enkel und Urenkel werden auswandern. Wohin? In islamfreie Kontinente und Länder? Aber gibt es sie nach Ihrer Prognose dann noch? Ich muss gestehen, dass ich der Prognose Ihrer Experten misstraue. Die gleiche Prognose wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts für die endgültige ?Überfremdung? der Schweiz bereits auf die Siebziger Jahre gestellt. Und Dr. Ulrich Schlüer hat vor sechs Jahren in seiner Balkenstatistik die Mehrheit der Muslime in der Schweiz auch schon auf einen viel früheren Zeitpunkt ?errechnet? als Ihre Experten. Sie fragen: ?Was unternehmen Sie, um die akute Gefährdung von Demokratie und Freiheit zu verhindern?? Für mich ist klar: Demokratie und Freiheit sind auf eindeutig rechtsstaatliche Verhältnisse, welche Menschenrechte und Bürgerrechte schützen, angewiesen. Diese können auch durch Mehrheiten in Volksabstimmungen nicht ausser Kraft gesetzt und durch Sondergesetze einer bestimmten Gruppe nicht entzogen werden. Von Zwingli stammt der Satz: Die Villi macht nit die Wahrheit. (Die Vielzahl, die Mehrheit, macht nicht die Wahrheit).
Sehr geehrter Herr Pfarrer,
es wird Sie nicht erstaunen, wenn ich sage: In Ihrem umfangreichen Inserat sind es nicht biblisch-christliche Werte, die ?Wert? schaffen. Ihr Inserat lebt davon, dass Sie für die Leser und Leserinnen ein Zerrbild der Muslime in der Schweiz schaffen, das der Realität nicht entspricht. Sie malen dieses Bild mit negativ gefärbten Schlagworten wie Scharia, Taqiya, Attentate durch Märtyrer des Glaubens, Zwangsheiraten, Ehrenmorde, Massaker an Christen, Parallelgesellschaften etc. Sie machen sich zum Anwalt von ?Demokratie und Freiheit?, indem Sie erklären, dass die Muslime in der Schweiz wie in der Welt die Feinde von Demokratie und Freiheit sind. Die Werte, die sie ins Spiel bringen lauten etwa ?was unsere Vorfahren geleistet haben?, ?das traditionelle Ehe- und Familienmodell?, ?unsere Identität und Kultur?. Was heisst das präzis? Handlungsleitend ist für Sie ?die allgemeine Stimmung im Volk?. Die von Ihnen beanspruchte christliche Fundierung Ihrer Stellungnahmen und Urteile kann ich leider nicht entdecken. Dass Sie das Ganze mit ihrem Pfarrertitel firmieren, irritiert mich in diesem Zusammenhang. Dankbar wäre ich gewesen, Sie hätten die vielen tausend Franken für Inserate ausgegeben, in denen die aufgeworfenen Fragen im Licht des Evangeliums bedacht worden wären.
Ich versuche, mich an Zwingli zu halten. Er hat zu seiner Zeit die Christen aufgefordert, in schwierigen Konfliktsituationen ?in den Riss zu treten?, das heisst, zwischen die Konfliktparteien zu treten, den Frieden zu suchen, sich um den Dienst der Versöhnung (2. Kor. 5,18) zu bemühen. Leider finde ich in Ihrem Inserat davon keine Spur. Was ich darin finde,. ist im Gegenteil ein Anheizen, das mich an die Kampagne der Befürworter der Minarettverbotsinitiative erinnert, aus welcher Sie offenbar auch im Nachhinein Kapital schlagen wollen.
Das kann ich auf keine Art gut heissen, sondern als Mit-Theologe nur tief bedauern.
Aus diesem Bedauern grüsse ich Sie
Werner Kramer
PS: Ich erlaube mir, eine Kopie dieses Briefes einigen Bekannten weiter zu geben, die mich auf Ihr Inserat angesprochen haben. W.K.