Grundlagen gesellschaftlichen Engagements der Muslime in einer mehrheitlich nicht-muslimischen Gesellschaft
Gesellschaftliches Engagement i.w.S. ist ein unbestreitbar wichtiges Gebot für Muslime. Gleichzeitig, unserer Meinung nach, ein stark vernachlässigtes in der Schweiz. Mit gesellschaftlichem Engagement meinen wir in diesem Beitrag alle freiwilligen und ehrenamtlichen Aktivitäten und Handlungen, die zum Wohle der Gesellschaft beitragen, menschliche Interaktion und Zusammenhalt in der Zivilgesellschaft fördern und den Wohltätigkeitsbereich. Politisches Engagement, zwar auch ein gesellschaftliches Engagement, wird hier nicht im speziellen erläutert. Unsere Darlegungen aber lassen sich auch auf die politische Sphäre übertragen. In dieser Abhandlung möchten wir die islamischen Grundlagen sozialen und anderen gesellschaftlich Engagements darlegen.
Aktivitäten in Moscheen oder muslimischen Vereinen, dessen Nutzen (nur) seinen Mitgliedern oder einem Kreis von Muslimen zu Gute kommt ist eine gute Sache. Doch ehrenamtliche Arbeiten der Muslime in der Schweiz dürfen sich nicht nur auf die muslimisch-herkunftsabhängigen Gemeinschaften beschränken. Der Qur?an spricht ja auch von einer sozialen Gerechtigkeit, die alle ethnischen, elterlichen, Stammes- und Sprachgrenzen überschreitet. Der berühmte Ayat, ?Ihr seid fürwahr die beste Gemeinschaft, die jemals für (das Wohl der) Menschheit hervorgebracht worden ist. Ihr gebietet das Tun dessen, was recht ist, und verbietet das Tun dessen, was unrecht ist? (3:110) stellt als allgemeine Aufforderung ein unbedingtes Gebot dar, setzt die Teilnahme in einem menschlichen Kollektiv voraus ? sei es die Familie, ein Freundeskreis, eine Vereinigung oder die Gesellschaft als solches ? und spricht vom Wohle der Menschheit und nicht nur der Muslime. Dies durchzieht den ganzen Qur?an und die Gläubigen werden immer wieder aufgefordert, gerecht zu sein in ihrem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umgang mit anderen Menschen.
Was wohltätige Handlungen betrifft, betont der Qur?an wiederholt die Rolle des Gebens an diejenigen, die nicht das Glück haben, sich selbst versorgen zu können, sei es wegen den Umständen oder wegen irgendwelchen Behinderungen. An zahlreichen Gelegenheiten fordert der Qur?an zum Spenden auf. ?Sie werden dich [Muhammad] fragen was sie für andere ausgeben sollen. Sag: ?Was immer von eurem Reichtum ihr ausgebt, soll (zuerst) für eure Eltern sein und für nahen Verwandten und die Waisen und die Bedürftigen und den Reisen-den; und was immer Gutes ihr tut, wahrlich, Gott hat volles Wissen davon? (2:215).
Aus islamischer Perspektive ist es nicht möglich Frömmigkeit zu erreichen, ohne zu geben. ?(Aber was euch angeht, o Gläubige) niemals werdet ihr wahre Frömmigkeit erlangen, ausser ihr gebt für andere aus, was ihr selbst wertschätzt; und was immer ihr ausgebt ? wahrlich, Gott hat volles Wissen davon "(3:92). Muhammad Asad kommentiert hierzu, dass der Qur?an die Gläubigen daran erinnert, dass ihr Glaube an Gott nicht als vollständig erachtet werden kann, solange er ihnen nicht die materiellen Bedürfnisse ihrer Mitmenschen bewusst macht. Nur schon aus diesen Ausführungen sollte deutlich werden, dass ?gutes tun? von Allah (st.) auch als Spende (Sadaka) angesehen wird.
Wenn wir von gesellschaftlichem Engagement sprechen, dann verdient eine ?Sadaka? besondere Erwähnung: Die Sadaka Dscharija, eine ?Spende? welche einer Gemeinschaft über den Zeitpunkt der Spende hinaus weiterhin von Nutzen ist, ? im Sinne einer ?nachhaltigen Tätigkeit? ? wird sogar als frommer angesehen als eine einfache Spende. Wichtig ist auch die Tatsache, dass Sadaka nicht nur auf Geldspenden begrenzt und auch nicht nur für Menschen vorgesehen ist: Es wird auch auf das Sprechen freundlicher Worte und die Sorge für Vögel und Tiere ausgeweitet. Allgemein kann gesagt werden, dass jede Tätigkeit, welche Menschen und anderen Lebewesen zu Gute kommt, als gute Tat betrachtet wird (Syed et al., 2005). Die Taten und Aussprüche des Propheten bieten hierfür reichlich Beispiele. Wohltätiges Engagement in der Gesellschaft ist somit fest im islamischen Glauben verankert. Darü-ber hinaus macht die Institution des Wakf, - eine wohltätige Stiftung, welche auf prophetischer Tradition gründet ? deutlich, dass dies nicht nur auf der Ebene einer Einzelperson, sondern auch in kollektiver Form gemacht werden soll. Dies kann somit als Grundlage organisiertem und institutionalisiertem gesellschaftlichen Engagement im Wohltätigkeitsbereich dienen.
Was in diesem Zusammenhang das Verhältnis zu Nichtmuslimen betrifft, weisen Syed et al. (2005) darauf hin, dass es absolut keine Einschränkung von Spenden an Nichtmuslime gibt. In der Tat hebt der Islam die Rolle der Muslime, der ganzen Menscheit zu dienen, hervor. Es gab in der Geschichte der muslimischen Völker zahlreiche Gelegenheit, in denen philanthropische Einrichtungen für alle Mitglieder der Gesellschaft gegründet wurden. Das Ergebnis ist, dass muslimische Philanthropie nicht nur allen Menschen zugute kam, sondern, dass in vielen Fällen auch philanthropische Einrichtungen der Juden, Christen, Hindus und Sikhs gefördert wurden. Mit Ausnahme der Einrichtungen, die speziell zur Unterstützung von Moscheen gegründet worden waren, standen diese Einrichtungen auch allen anderen offen.
Dass mit ?Gesellschaft? und ?Gemeinschaf? in den textlichen Grundlagen des Islam auch eine mehrheitlich nichtmuslimische Gesellschaft gemeint sein kann, ist Forschungsgegenstand des Gelehrten Tariq Ramdan, welcher dies nach Untersuchung der islamischen Quellen deutlich bejaht. Wenn man die gegenwärtige Weltlage betrachtet, so wird schnell ersichtlich, dass die mittelalterlichen muslimischen Konzepte der Klassifizierung von Gesellschaften und Ländern (z.B.Dar al-harb und Dar al-Islam) völlig unanwendbar sind, denn die Welt stellt keine abtrennbaren Häuser (Dar) mehr dar, sondern ist eine offene Welt geworden. Ramadans Ansicht nach lässt sich die Welt mit den Begriffen Zentrum (der Westen und seine Hauptstadt-Bastionen im Süden und Osten) und der Peripherie (der Rest des Planeten) realistischer beschreiben als eine bipolare, sich im Gleichgewicht befindliche Welt. Die im Westen lebenden Muslime leben im Zentrum, im Kopf des Systems. Und in diesem spezifischen Raum, im Zentrum, müssen die Muslime in viel anspruchsvollerenweise als in der Peripherie Zeugnis ablegen, Zeugnis sein für das was sie sind, und für ihre Werte.
Hier haben wir die direkte Verbindung zur Schahada, welche die Grundlage unserer Identität darstellt. Die Schahada erinnert an unsere stete Beziehung zu Gott und an die Pflicht des Moslems, unter den Menschen zu leben und seinen Glauben zu bezeugen, gleichermassen durch Handlungen wie mit Worten. Deshalb spricht Ramadan vom Westen als ?dar asch schahada?, ?Raum der Bezeugung?. Wenn Muslime wirklich mit Gott sind, dann muss ihr Leben das Zeugnis eines steten Engagements und einer unendlichen Hingabe seiner selbst für die soziale Gerechtigkeit, das Wohlergehen der Menschen, die Ökologie und die Solidarität in all ihren Formen zum Ausdruck bringen.
Alles andere dient als Ausrede, ängstlich und versteckt zu bleiben oder seine faule Gleichgültigkeit und Untätigkeit zu legitimieren.
Gemäss Ramadan gestatten die islamischen Quellen Muslimen in einer nicht-islamischen Umgebung zu leben ? nach Massgabe der Absicht der Gläubigen und auf der Grundlage dreier Prinzipien: über die Freiheit der Religionsausübung zu verfügen, die Botschaft bezeugen zu können und für die Muslime und die Gesellschaft insgesamt nützlich zu sein. Der Qur?an ? z.B. Geschichte des Propheten Yusuf (Josef) (12:54/55) ? und das Leben des Propheten ? z.B. Leben und Aufenthalt im nicht-islamischen Mekkah, Medina und Abessinien ? liefern hierfür Grundlagen. Der Islam als Glaube mit (umfangreichen) Konsequenzen ver-langt, wie schon oben erwähnt, dass sich der Glaube auch in Handlungen niederschlägt. Deshalb bedeutet Muslimsein ?in jedweder Umgebung in Übereinstimmung mit den Lehren des Islam zu handeln? schreibt Ramadan und fügt hinzu, dass es im Islam nichts gibt, dass die Muslime dazu anhalten würde, sich von der Gesellschaft fernzuhalten, um Gott näher zu sein. Das Gegenteil ist der Fall, denn im Qur?an wird der Glaube geradezu wesenhaft mit gutem Verhalten und guten Taten verbunden. Dies ist völlig unabhängig davon ob wir es mit einer mehrheitlich muslimischen oder nicht-muslimschen Gesellschaft zu tun haben: ?mit Gott sein heisst, mit anderen Menschen sein, nicht nur mit den Muslimen, sondern wie der Prophet gesagt hat, mit ?den Leuten? der ganzen Menschheit? schlussfolgert Ramadan und führt folgenden Hadith an: ?Der beste von euch ist, wer am besten zu den Leuten ist?(von Ibn al Bayhaqi überliefert).
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Referenzen: Heine, P. & Syed, A. (2005) Muslimische Philanthropie und Bürgerschaftliches Engagement. Berlin: Maecenata Verlag Ramadan, T. (2001) Muslimsein in Europa. Untersuchung der islamischen Quelle im europäischen Kontext. Köln: MSV Verlag Asad, M. (2009) Die Botschaft des Koran. Übersetzung und Kommentar. Düsseldorf: Patmos Verlag