Der Hadith: Authentische Überlieferung prophetischer Tradition
Der Orientalist Tilmann Nagel stellt in seiner NZZ-Rezension (12. August 2009) von Khourys Hadith-Übersetzung ?Der Hadith. Urkunde der islamischen Tradition, ausgewählt und übersetzt von Adel Theodor Khoury? die Glaubwürdigkeit der Quellen, die uns das Leben und die Aussprüche des Propheten offenbaren, in Frage und bestreitet überdies sogar deren Wichtigkeit für die Prophetengefährten.
Uns Muslime kümmert es nicht im Geringsten, wenn Orientalisten und ihre Nachfolger, die heutigen ?Islam-Wissenschaftler?, die Echtheit der Hadithe anzweifeln. Wir können sie getrost sich selbst überlassen, denn wir haben hier mit Leuten zu tun, die nicht einmal die Wahrheit Gottes, seine Offenbarung oder Religion als solche akzeptieren. Oder es sind dem Islam von Grund aus feindlich gesinnte ? in früherer Zeit oft christliche Missionare und heute post-christliche Agnostiker. Als problematisch sehen wir jedoch die Entwicklung dann, wenn gewisse moderne und modernistische Muslime, von Orientalisten, Islam-Wissenschaftlern und selbsternannten ?Islam-Experten? inspiriert, glauben, sie könnten sich nicht auf den Aufbau der Hadithe verlassen und die Echtheit der Hadithe und damit die ganze Struktur der Sunnah grundsätzlich leugnen. Deshalb soll in diesem Kommentar die Frage der Authentizität der Hadithe diskutiert werden.
Man kann sich fragen, ob es irgendeinen wissenschaftlichen Grund oder eine wissenschaftliche Rechtfertigung gibt, die Hadithe als eine verlässliche Quelle des islamischen Rechts zurückzuweisen? Wir möchten hierzu einen wahren Gelehrten sprechen lassen. Muhammad Asad, vermutlich der bedeutendste muslimische Gelehrte im Westen im 20. Jahrhundert, verneint die Frage entschieden: ?Trotz aller Bemühungen, die Echtheit der Hadithe anzufechten, waren die modernen Kritiker nicht in der Lage, ihre rein launischen Kritiken wissenschaftlich zu untermauern. Es wäre sowieso schwer, das zu schaffen.? Die Hadithe wurden von den Gefährten des Propheten berichtet, übermittelt und in den ersten Jahrhunderten des Islams kritisch zusammengestellt. Als unseriös erscheint der Artikel Tilman Nagels auch deshalb, weil die ganze Methodik der islamischen Hadith-Wissenschaft verschwiegen wird und bewusst der Eindruck erweckt wird, die Hadith-Sammlungen wären märchenhafte Erzählungen und Legenden. Asad meint dazu: ?Die Verfasser der frühen Hadithsammlungen, besonders die Imame al-Bukhari und Muslim haben das Menschenmögliche getan, um die Echtheit jeder Überlieferung zu überprüfen ? sie legten dabei einen wesentlich strengeren Massstab als europäische Historiker üblicherweise auf jedes historische Schriftstück an.?
Völlig aus der Luft gegriffen ist auch Nagels Behauptung die Übermittler der Hadithe stellten eine ?oft fiktive Kette der Bürgen? dar. Diese Behauptung disqualifiziert sich an den offenkundigen und nachprüfbaren Zeugnissen des ganzen Corpus der Hadithe-Wissenschaft, welche nur initiiert wurde, um die Bedeutung, Form und Überlieferungsweg der Aussprüche und Handlungen des Propheten zu überprüfen. Ein historischer Zweig dieser Wissenschaft schuf ausführliche, lückenlose Biografien aller Persönlichkeiten, die jemals als Erzähler der Überlieferung genannt wurden. Charles le Gai Eaton schreibt bezüglich der Übermittlungskette: ? Angenommen, es sei eine Sache von grosser Bedeutung, dann werden wir unsere ganze Aufmerksamkeit auf die Zuverlässigkeit der Kette von Informanten richten [...]. Nichts könnte für einen Muslim von grösserer Bedeutung sein als das, was der Prophet zur Leitung und Lenkung der neuen Gemeinschaft wirklich gesagt hat. Für die Gelehrten hing die Authentizität eines Hadith von dem menschlichen Wert jedes namentlich benannten Individuums in der Übermittlungskette ab; ein schwaches Glied ? unmoralisch vielleicht und deshalb wahrscheinlich ein Lügner ? unterbrach die Kette. In einer so engen Gesellschaft, in der jeder wusste was der andere tat, war es keinesfalls unmöglich, alle beteiligten Charaktere zu beurteilen; und auf dieser Grundlage, wie auch durch den Konsensus der Gelehrten, konnte ein Hadith als ?gesund?, ?gut?, ?weniger sicher? oder schliesslich ?nicht gesund? klassifiziert oder aber ganz verworfen werden.? Um aber einem Hadith absolute Authentizität zuzuschreiben, mussten sie von verschiedenen, unabhängigen Erzählerketten bestätigt sein. ?Um sahih (gesund) zu sein, muss ein Hadith in jeder Stufe der Überlieferung von mindestens zwei Überlieferern bestätigt worden sein. Dieser Bericht durfte in keiner Stufe von nur einer Person autorisiert werden?, schreibt Asad.
Asad fordert zu Recht, dass diejenigen welche den Wunsch haben, die Echtheit eines einzelnen Hadiths oder das System als Ganzes zu bestreiten, alleine den Beweis der Ungenauigkeit führen müssen. ?Es ist wissenschaftlich nicht gerechtfertigt, die Wahrhaftigkeit einer historischen Quelle zu bestreiten, ohne dass man bereit ist, zu beweisen, dass diese Quelle mangelhaft ist. Wenn kein begründetes ? zumindest wissenschaftliches ?Argument gegen die Wahrhaftigkeit der Quelle selbst oder gegen einen oder mehrere seiner Übermittler gefunden werden kann und wenn des Weiteren kein anderer widersprechender Bericht über die gleiche Angelegenheit existiert, dann müssen wir akzeptieren, dass die Überlieferung wahr ist.? Um dies noch besser zu illustrieren führt Asad ein einleuchtendes Beispiel an: ?Angenommen, jemand spricht beispielsweise über die indischen Kriege von Mahmud von Ghaznah und ein anderer steht unversehens auf und sagt: ?Ich glaube nicht, dass Mahmud jemals nach Indien gekommen ist. Es ist eine Legende ohne historische Grundlage.? Was würde in einem solchen Fall geschehen? Alsbald würde irgendeine geschichtskundige Person versuchen, den Fehler zu berichtigen; er würde Aufzeichnungen und Historien anführen, die auf Berichten von Zeitgenossen dieses berühmten Sultans basieren, und damit endgültig beweisen, dass Mahmud in Indien war. In diesem Fall müsste man den Beweis akzeptieren ?oder man würde als Spinner betrachtet werden, der ohne ersichtlichen Grund solide historische Fakten leugnet. Wenn dies so ist, dann muss man sich selbst fragen: Warum wenden unsere modernen Kritiker nicht die gleiche Logik auf die Frage der Hadithe an??
Wenn man die Primärquelle eines Hadiths für falsch hält, so bedeutet dies, dass die Gefährten oder die späteren Überlieferer absichtlich gelogen hätten. Asad aber schliesst diese Möglichkeit a priori aus: ?Es erfordert nicht viel psychologische Einsicht, um solche Annahmen auf pure Einbildung zurückzuführen. Der enorme Eindruck, den die Persönlichkeit des Propheten auf diese Männer und Frauen hinterliess, ist eine herausragende Tatsache der menschlichen Geschichte; sie ist durch die Geschichte ausserordentlich gut dokumentiert.? Asad argumentiert weiter, dass die Überlieferungen, die sich direkt mit bestimmten Individuen oder Gruppen beschäftigten und zu dessen Nutzen sie sein konnten, entschieden von den Hadith-Gelehrten verworfen wurden. So wurde die Möglichkeit, die Hadithe für persönliche Zwecke zu erfinden genau eingeschätzt, zumal es in der Tat für die politischen Ansprüche der verschiedenen Parteien ?profitabel? erscheinen konnte. Aus diesem Grund schlossen die Imame Bukhari und Muslim, rigoros alle parteipolitischen Überlieferungen von ihren Sammlungen aus. Asad erklärt auch den zweiten Grund für untauglich, warum die Echtheit eines Hadiths in Frage gestellt werden könnte. Und zwar, dass der Gefährte oder ein späterer Übermittler die Worte zwar subjektiv wahrheitsgemäss aufzeichnete, aber objektiv wegen einer Gedächtnislücke oder anderer psychologischer Gründe missverstand. Die Erklärung dazu kann in der Referenz nachgelesen werden.
Bei der Beurteilung der Authentizität der aufgezeichneten Prophetenüberlieferungen spielt jedoch notwendigerweise menschliche Urteilsfähigkeit eine Rolle und die Mutahaddithun (Hadith-Gelehrten) haben die aussichtsreichste Beurteilungsmethode unter den gegebenen Umständen angewandt. Für die Muslime sind die Hadith-Gelehrten nicht einfach ?durch den heiligen Geist geleitet?, was Christen für die Authentizität des Neuen Testaments anführen, sondern es waren Männer mit frommem Gewissen und einem scharf kritischen Verständnis. Deshalb schreibt Asad weiter: ?Darüber hinaus hat kein Muslim jemals geglaubt, dass die Überlieferungen des Propheten den gleichen Status, gar die unbestreitbare Authentizität des Qur?ans haben könnte. In keiner Zeit wurde die kritische Untersuchung der Hadithe eingestellt. Die Tatsache, dass es zahllose falsche Hadithe gibt, missachteten die Muhaddidhun nicht im Geringsten, wie europäische Kritiker naiv anzunehmen scheinen. Im Gegenteil: Gerade um authentische und falsche Hadithe unterscheiden zu können, wurde eine kritische Wissenschaft initiiert; eben jene Imame Bukhari und Muslim ? ganz zu schweigen von den weniger be-deutenden Überlieferern ? sind direkte Produkte dieses kritischen Verhaltens. Daher widerlegt die Existenz von falschen Hadithen keineswegs das Hadith-System als Ganzes ?so wenig wie eine fantasievolle Geschichte aus Tausendundeiner Nacht als Argument die Authentizität eines historischen Berichts der entsprechenden Zeit in Frage stellen könnte Authentische Überlieferungen entweder als Summe oder in Teilen zu verwerfen, ist bislang eine reine Sache der Laune. Sie kann nicht als Ergebnis einer unvoreingenommenen wissenschaftlichen Untersuchung ernst genommen werden.? So offenbart auch Tilman Nagel in seiner Rezension seine wahre voreingenommene Grundannahme: Die Orientalisten und Islam-Wissenschaftler studieren den Islam von Anfang an als eine fiktive menschliche Erfindung und deshalb schreibt Nagel, dass es ihn stört, dass Khourys Übersetzung die Hadith-Literatur nicht ins ?Zwielicht rückt?. Es ist verwunderlich, dass solche Leute beanspruchen ?Wissenschaftler? (und nicht ?Spekulatanten?) genannt zu werden.
Zum Schluss soll auch darauf hingewiesen werden, dass viele scheinbare Widersprüche und Unstimmigkeiten daraus resultieren, dass wir den Kontext der Taten und Handlungen des Propheten nicht richtig oder unterschiedlich verstanden haben. Es verlangt nicht viel Intelligenz um zu begreifen, dass wir z.B. in unserem Leben die gleiche Sache einmal für gut und einmal für schlecht befinden können. Halt je nach dem, was der Kontext in einer entsprechenden Situation war. Ein anderer bekannter Punkt ist auch, dass die Anweisungen des Propheten Muhammad nicht in jedem Fall für alle galten. In den Hadith-Sammlungen finden wir aber natürlich alle Anweisungen in einer bestimmten Sache und die von Glaubenszweifel Geplagten und a priori Voreingenommenen können dann nur einen Widerspruch sehen.
Die Brüder Kitabi. Fragen und Kommentare an simsalabim66@hotmail.com und hier als postings
Referenzen: Muhammad Asad: Islam am Scheideweg Charles le Gai Eaton: Islam und die Bestimmung des Menschen Abd al-Hafidh Wentzel: Die Sunna: Texte zum Verständnis der unverzichtbaren Bedeutung der prophetischen Tradition im Islam