Die Unterdrückung der Uiguren und die Reaktion der im Westen lebenden Muslime auf empfundenes Unrecht
Die Unterdrückung der muslimischen Bevölkerung Chinas, der Uiguren, gibt uns aus dreierlei Gründen Anlass, einen Kommentar zu verfassen. Der erste Grund ist, dass den Muslimen auferlegt ist, gegen Unrecht und Unterdrückung vorzugehen. Dabei spielt es keine Rolle gegen wen dies gerichtet ist, denn ?Allah liebt nicht die Ungerechten? (3:57) und ein Muslim ist aufgefordert das Rechte zu gebieten und Unrecht zu verbieten (3:110). Was die Lage der Uiguren betrifft, so ist es offenkundig, dass die Zentralregierung in China gewillt ist, dieses Volk von seinen Wurzeln zu trennen, ihnen ihre Ideologie aufzuzwingen und sie in ihren sozialen, politischen und religiösen Rechten zu beschneiden. Wie die Tibeter, so sind auch die Uiguren starker Diskriminierung und Verfolgung ausgesetzt. Im Gegensatz zu Tibet aber, macht sich für Xinjiang (auch Ostturkestan genannt, die Heimat der Uiguren) im Westen nicht so eine breite Front stark. Deshalb ist das Schicksal der Uiguren in den westlichen Medien nicht besonders präsent, ausser es kommt zu massiven Ausschreitungen oder extremen Vor-gehen seitens der kommunistischen Zentralregierung, wie die Ereignisse kürzlich zeigten. Zu ihren Ungunsten ist auch, dass sie Muslime sind, sie deshalb bei Vielen nicht die gleiche Sympathie geniessen, wie andere unterdrückte Minderheiten und dass man heutzutage politische Gegner ohne grosse Kritik im Zuge des ?war on terrorism? offenbar eliminieren kann. Als vielleicht unbedeutende Einzelpersonen sind wir machtlos gegen solch Tyrannei. Doch wie hat unser geliebter Prophet weise gesagt? "Wer von euch etwas zu Ver-abscheuendes sieht, soll es mit seiner Hand verändern, und wenn er dies nicht vermag, soll er es mit seiner Zunge verändern, und wenn er (selbst) das nicht vermag, dann mit seinem Herzen, und dies ist das Mindeste an Glauben."
Der zweite und dritte Grund, über dieses Thema zu schreiben, ist die Reaktion der im Westen lebenden Muslime darauf, bzw. das Ausbleiben einer solchen, sowie die Notwendigkeit einer allgemeinen Reflexion zeitgenössischer Reaktionen der Muslime auf empfundenes Unrecht. Es ist auffällig und erstaunlich, dass die Unterdrückung der Palästinenser durch Israel in der muslimischen Gemeinschaft die stärksten Emotionen hervorruft. Ähnliche Unterdrückung und Ungerechtigkeit jedoch findet sich auch in vielen anderen Teilen der Welt, wie das jüngste Beispiel der Uiguren zeigt. Und oftmals sind sogar Muslime selber die Übeltäter. Eine Liste der betroffenen Orte würde mehrere Zeilen füllen. Als Muslim muss man sich fragen: wenn es uns auferlegt ist, gegen Unrecht vorzugehen, warum bleiben denn in Bezug auf diese Vorkommnisse die Proteste und die Demonstrationen aus? Vor allem, wenn man den aggressiven Atheismus bedenkt, auf dem das ?kommunistische? China fundiert, kann Israel als das kleinere Übel betrachtet werden. 60 Jahre lang hat sich die muslimische Bevölkerung Chinas abgemüht, trotz ständiger Verfolgung ihren Glauben zu erhalten, die Prinzipien und Bräuche des Islam zu bewahren. Während dieser ganzen Zeit haben sie keine Unterstützung von ihrer weltweiten Ummah erhalten, deren Recht sich so zu nennen, von der Pflicht abhängt, jenen ihrer Mitglieder zu helfen, die ihres Glaubens wegen verfolgt werden. Von vielen nicht-muslimischen Medien-schaffenden wird uns ebenfalls vorgeworfen, warum die Proteste aus muslimischer Seite bei anderen Ungerechtigkei-ten ausbleiben. Der Vorwurf ist wohl gerechtfertigt, doch kann auch angeführt werden, dass die meisten, welche ihn erheben (oft den Muslimen feindlich gesinnte), sich des Gleichen schuldig machen. Trotzdem entbindet dies uns Muslime nicht von der Rechenschaft, die wir auch in dieser Sache vor Gott, dem Allmächtigen, ablegen müssen.
Weil Massenkundgebungen in der aktuellen Situation aus-bleiben, ist zu vermuten, dass die Emotionen in diesem Falle nüchterner sind. Dies gibt uns eine gute Gelegenheit, über eine andere grundlegende Frage nachzudenken. Wird durch Massendemonstrationen und ?kundgebungen der oben erwähnte Hadith richtig umgesetzt? Anders formuliert: sind solche Proteste in ihrer aktuellen Form im islamischen Geist bzw. können sie aus der islamischen Tradition abgeleitet werden? Sind sie überhaupt sinnvoll und zielführend? Zeitgenössischen Muslimen scheint es selbstverständlich, Demonstrationen und Massenkundgebungen für ?die Sache der Muslime? einzusetzen. Fast täglich gehen Bilder von aufgebrachten, demonstrierenden Muslimen um die Welt und die Zeitungen titeln mit ?Muslim-? oder ?Islam-Proteste?. Selbst das rituelle Gebet wird als Instrument des Protestes uminterpretiert, wie der Protest der Muslime vor dem Bundeshaus in Bern als Reaktion auf die Mohammed-Karikaturen zeigt.
Historisch kann der Zeitpunkt des Aufkommens von Massenprotesten schwer festgehalten werden, da diese meist aus sozialen Bewegungen entstanden und diese Bewe-gungen (bzw. Elemente davon) eine lange Geschichte haben. Doch Massenkundgebungen in ihrer heutigen Ausprägung sind ein Produkt des 19. und 20. Jahrhunderts: sie sind aus Arbeiterbewegungen entstanden, von kommunistisch-sozialistischen Bewegungen als politische Mittel etabliert und von zahlreichen revolutionären Gruppen für ihre Ziele eingesetzt worden. Anhänger der unterschiedlichsten ideologischen Systeme und politischen Interessen haben auf Demonstrationen und Massenkundgebungen gesetzt: Proletarierbewegungen, Kommunisten, Faschisten, Nationalisten, Jugendbewegung der 60er, Umweltaktivisten, Homosexuellen- sowie Frauenbewegungen usw. Heutzutage zählt wahrscheinlich ausnahmslos jede ?aktive? Gruppe Massenproteste zu ihrem Repertoire. So verschieden diese Gruppen und ihre Ziele auch sind, ihnen ist gemeinsam, dass es sich um Gruppen handelte, die sich gegen eine etablierte Schicht oder Sicht auflehnten und vor allem ? und das ist für unsere Abhandlung hier wichtig ? ging es immer nur um rein weltliche Anliegen. Nun hat in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert die Massenkundgebung ihren Weg auch in die islamische Welt gefunden und mit der ?islamischen? Revolution im Iran ein weltbekanntes Beispiel gesetzt.
Wir vermuten, dass der Umstand, dass auch die Muslime diesen Weg des Protestierens gewählt haben, unter ande-rem darin begründet sein könnte, dass sie glauben dieser wäre erfolgreich. Doch weltlicher Erfolg ist ja nur ein Teil der Geschichte - das Jenseits aber ist besser und jedenfalls länger während. Überdies muss man bedenken, dass es in den allermeisten Fällen nicht die emotional aufgebrachten Kundgebungen waren, welche einer bestimmten Gruppe die Durchsetzung ihrer Anliegen und Interessen ermöglichte, sondern die kontinuierliche Arbeit im Hintergrund und kluge Politik. Die Presse mag zwar den Fokus der Berichterstat-tung auf die Proteste der Strasse legen, doch darf dies nicht darüber hinweg täuschen, dass diese meistens nicht mehr als der letzte Tropfen waren, welche das Fass zum Überlaufen brachten. Ohne die Anstrengung erfordernde - im Gegensatz zum einfachen auf die Strasse gehen ? und langwierige Arbeit vorher haben solche Aktionen keine oder oft gar eine nega-tive Wirkung. Das daran etwas Wahres ist, erkennt man, wenn man einmal den Blick auf eine bestimmte, kleine ?Minderheitengruppe? richtet - und vielleicht von ihr lernt -, welche ihre Interessen und Anliegen weltweit am erfolg-reichsten von all diesen Gruppen durchsetzt. Von Massenkundgebungen und Demonstrationen dieser Gruppe hören wir aber nie etwas.
Aus islamischer Sicht sind sich solche Kundgebungen fragwürdig, weil sie meist unüberlegte und hastige Aktionen sind, vor denen der Prophet gewarnt hat: ?Hast ist vom Teufel?. Die Handlungen sind meistens getrieben durch innere Aufwallung anstatt Weisheit. Ausserdem wird ein Ziel umso weniger erreicht, je mehr emotional aufgeregt jemand an der Sache beteiligt ist, bzw. beschwört solches noch grösseres Übel herauf. Zu erwähnen ist auch die geballte Ladung Wut, Verbitterung, gepaart mit Hass, die solchen Menschenmengen ihre Dynamik gibt. Diese gänzlich persönlichen Gefühle kommen selbstverständlich von unserem nafs. Und wie sollen wir Muslime mit unserem nafs umgehen? Bändigen, zähmen, disziplinieren oder einfach ausleben, heraus lassen (hemmungslos nach dem Motto ?einmal so richtig die Sau herauslassen?)? Wo ist hier die Anstrengung (Jihad al akbar), welche von einem Muslim gefordert wird? Gewiss wird jede an solchen Aktio-nen beteiligte Person behaupten, ihre Entrüstung bestehe aufgrund des geschehenen Unrechts, schlussendlich also um Allahs (s.t.) Willen. Selbst wenn ihre Wut verständlich ist, müssen sich solche aufgebrachten Leute fragen, ob sie tatsächlich um Allahs (s.t.) oder um ihres eigenen Willens wegen handeln?
Selbsttäuschung in Bezug auf seine wahren Motive ist eine menschliche Eigenschaft und fast unvermeidlich. Und genau deshalb verlangt der Iman (verinnerlichter Glaube) von uns eine mächtige Anstrengung (Jihad al akbar), unsere Motive und Absichten zu reinigen. Das könnte zwar manchmal dazu führen, dass wir nicht handeln, wenn es nötig wäre, doch wird es uns von vielen törichten oder gar boshaften Handlungen bewahren. Wir sollten nie unser Selbstinteresse mit noblen, religiösen Motiven überdecken. Ein anderes Mittel, welches uns unser Glaube für solche Situationen gibt, ist Sabr (Geduld). Diese, im Qur´an immer wiederkehrende islamische Tugend scheint für viele ?zeitgemäße? Muslime ein Fremdwort zu sein. Oben erwähnte Bilder aus der islamischen Welt oder von im Westen lebender Muslime geben zum Nachdenken: ein tobender Mob, zornige Gesichter, laut erhobene Stimmen, welche irgendwelche Slogans schreien, ganz zu schweigen von brennenden Gegenständen. Man fragt sich dabei, ob solche Szenen wirklich eine religiöse Manifestation sind bzw. islamische Frömmigkeit darstellen? ?Wut verbrennt gute Taten, wie Feuer trockenes Holz verbrennt? hat unser Prophet einmal gesagt. Ein Muslim ist sich immer vollkommen bewusst über die Kürze dieses Lebens, über das Göttliche Urteil, dem niemand entgehen kann und besonders bewusst der überwältigenden Präsenz Allahs (s.t.). Ob sich solches Empfinden und Bewusstsein auch in diesen aufgeregten Menschenmengen findet?*
Dieser Artikel beabsichtigt nicht, Massendemonstrationen ihre Legitimität aus islamischer Sicht abzuerkennen. Dafür ist einerseits unser religiöses Wissen zu gering und andererseits haben wir für die Betrachtung und Reflexion dieser Frage zu wenig Zeit aufgewendet, als dass wir abschliessend zu solch einem Urteil gelangen könnten. Es ist gewiss auch kein Plädoyer für eine passive Haltung gegenüber Ungerechtigkeiten in der Welt. Die Absicht war nur, einige Reflexionen anzustellen und die muslimische Gemeinschaft anzuregen, nicht einfach blind irgendwelchen modernen Phänomenen nachzueifern, sondern solche Fragen aus islamischer Perspektive zu beleuchten, ihrer Sinnhaftigkeit zu hinterfragen und ihre Zulässigkeit zu überprüfen.
Die Brüder Kitabi Fragen und Anregungen an simsalabim66@hotmail.com *Charles le Gai Eatons ?Remembering God. Reflexions on Islam? gab für diesen Abschnitt einige inspirierende Argumente