Heterogenität: Integration durch Akzeptanz Brüder KITABI
In der NZZ Ausgabe vom Mittwoch, den 18. März 2009, war ein ganzer Bund zum Thema ?Bildung und Erziehung? veröffent¬licht worden. Dieser beinhaltete unter¬schiedliche Artikel zu aktuellen Themen und Brennpunkten des Schweizer Schul¬wesens. Unter anderem wurden dabei die Heterogenität und Integration ? zwei Begriffe die das Schulsystem prägen und herausfordern ? behandelt. [/b]
Von einigen Artikeln inspiriert, möchten wir in diesem Beitrag einzelne Aspekte im Zusammenhang mit der oben genannten Thematik beleuchten, die Personen mit Migrationshintergrund allgemein und Muslime im Speziellen betreffen. Überdies wollen wir einige Ansätze vorschlagen, die von muslimischer Seite beigetragen werden können, um einige Probleme zu lösen, die sowohl das Schulwesen wie auch unsere Gesellschaft generell betreffen, bezüglich der Heterogenität und Integration. Viele der unten genannten Aspekte dieser Thematik verdienten eine ausführlichere Darlegung. Der Rahmen und die Thematik unseres Beitrags erlaubt uns hier aber nur ein Anschneiden dieser Themen.
Der Artikel ?Heterogenität und Integration? leitet mit den Worten ein, die heterogene Zusammensetzung der Schulklassen stelle grosse Anforderungen an die Institution Schule dar. Besonders heute werde diese Herausforderung stark wahrgenommen, aufgrund von Problemlagen durch erhöhte Migration und entsprechender kultureller Heterogenität. Diesen Feststellungen stimmen wir zu, jedoch muss dabei auch festgehalten werden, dass unabhängig von Migranten, die Gesellschaft aufgrund von anhaltenden Moderinsierungs- und Individualisierungsprozessen sehr heterogen geworden ist. Diese Tatsache unterschiedlicher "Lebenstyles" wider¬spiegelt sich eben auch in den Schulklassen. Erwähnenswert ist dies deshalb: Besonders wenn es in den Medien um Muslime geht, wird diese Tatsache als Ursache Heterogenität völlig ignoriert. Es entsteht der Eindruck, es wäre eine einheitliche, homogene und kollekti¬vistische Gesellschaft vorhanden und die Anwesenheit der Muslime hätte diese Einheitlichkeit aufgelöst, die harmonische Integriertheit in Frage gestellt und alleine zur Unterschiedlichkeit beigetragen. Die heutigen Gesellschaften kommen mit der allgemeinen Entwicklung der Enttraditionalisierung, Globalisierung und der Auflösung von althergebrachten Lebensformen und -arten immer noch nicht ganz zurecht. Migranten im Allgemeinen und Muslime im Speziellen sind dabei nur ein Aspekt des ganzen Phänomens und dürfen deshalb keinesfalls als Verursacher des Verschwindens der ?guten alten Zeit? betrachtet werden. Zudem wird unserer Ansicht nach das ganze zu negativ betrachtet, denn trotz Spannungen schafft die heutige Situation Möglichkeit zur erneuten Wertorientierung für die Bedürfnisse und Herausforderungen der Zukunft.
Auf die Schule zurückkommend, erwähnt der Artikel in diesem Zusammenhang, dass es die Aufgabe der Schule sei, trotz dieser Heterogenität die Kinder zu fördern. Deshalb gehöre Integration unbedingt zur Heterogenität dazu. Auch diese Aussage erachten wir als völlig richtig, denn es muss ein Gemeinschaftsgefühl, -verständnis geben, wenn wir unseren Alltag reibungslos meistern und ein harmonisches Funktionier¬en der Gesellschaft gewährleisten möchten. Problematisch bleibt nur der ständig gebrauchte aber schwammig definierte Begriff der Integration im Gesellschaftskontext. Jeder fühlt sich integriert und meint aber etwas anderes damit. Hier müsste vorerst bestimmt werden, wie weit wir alle als Mitglieder der Gesellschaft uns integrieren können, wollen, und müssen.
Besonders in Bezug auf die Schule scheint der Begriff Integration eine Kampfparole darzustellen, wenn es darum geht, dass muslimische Kinder dem Schwimmunter¬richt fernbleiben, an Klassenfahrten nicht teilnehmen oder ein Kopftuch tragen. Die Debatte ist leider längst eine Polemik im Sinne von ?alles oder gar nichts? gewor¬den. Jede Eigenart der Muslime wird heutzutage dramatisiert und von der sachlichen, lösungsorientierten Ebene weggetragen. Wir wollen nicht abstreiten, dass es Problemfelder und Reibungsbereiche gibt, die mit Migranten und Muslimen in enger Verbindung stehen. Aber wir appellieren an alle Beteiligten, die Sache nüchtern und mit heruntergeschraubten Emotionen zu betrachten.
Deshalb sehen wir muslimischen Studierenden die differenzierte Analyse der Vergangenheit unterschiedlicher Emigran¬ten und der sich daraus ergebenden Problemen für sehr aufschlussreich für das gegenseitige Verständnis und Akzeptanz. So scheint es uns beispielsweise lächerlich zu glauben, dass wenn jemand ein bis zwei Stunden pro Woche aus religiösen Gründen vom Schwimmunterricht fernbleibt, seine Integration in Frage gestellt wird. Wir haben bis jetzt noch keinen Aufschrei vernommen, über beispielsweise Frauenbäder, die schon lange, bevor sich Muslime in der Schweiz bemerkbar machten, vorhanden waren. Auch scheinen die Kleider¬stile beispielsweise von Juden nie deren Integrationsfähigkeit in Zweifel gezogen zu haben. Aber, wenn ein muslimisches Mädchen oder eine muslimische Frau ein Kopftuch trägt, dann wird dies gleichzeitig als Zeichen ihres Integrationsunwillens, ihrer Unterdrückung und als politisches Symbol gedeutet. Diese Diskussion scheint oft künstlicher Natur zu sein und ihre wahren Absichten bleiben zu vermuten. Daher erscheinen uns diese Debatten sehr entfremdet, befremdlich und der Zweck der Integration ins falsche Licht gestellt. Besonders heute, wo in vielen Bereichen ?Diversity? begrüsst und hoch geschätzt wird ? jede grosse Firma hat eine spezielle Abteilung dafür - , wird sie abgelehnt, wenn sie die Andersartigkeit der Muslime betrifft. Murad Hofmann drückt es schön aus, wenn er schreibt, dass ein Kopftuch bei der Mutter Jesus, Maria, liebliche Betrachtung und Sympathie auslöst, einer Muslimin mit Kopftuch aber Verachtung zukommt; ein Bart bei Che Guevara als progressiv, bei einem Muslim aber als regressiv beurteilt wird.
Auf der anderen Seite bewerten wir das Argument der Teilnahme an Klassenfahrten und Schullagern für die Integration als richtig und vernünftig. Denn hier findet echte Integration, Kennenlernen und die Erfahrung von gemeinschaftlichem Leben ausserhalb der eigenen vier Wände statt. Das wäre unserer Meinung nach ein Punkt, worauf muslimische Eltern und die Schule im Sinne einer guten Integration aufbauen könnten. Hier muss man muslimischen Eltern entgegentreten, wenn sie meinen ihre Kinder seien ja dann nicht mehr elterlicher Kontrolle unterstellt und könnten ?unerlaubte? Dinge tun. Das
Einnehmen dieser Haltung selbst bezeugt schon teilweise ein elterliches Versagen in der Erziehung und damit muss man nicht, noch darf man die Kinder bestrafen! Denn, wenn die Kinder eine gute Erziehung genossen haben und ein harmonisches Elternhaus erleben, dann werden sie auch weit weg von zu Hause auf jenem ?häuslichen? Weg bleiben. Zudem war Kontrolle schon immer nicht wirklich effektiv und heutzutage noch weniger, aufgrund der medialen Möglichkeiten. Deshalb ignoriert oder verkennt diese verbreitete naive Haltung, dass die Kinder heute ja selbst in ihrem eigenen Wohnzimmer während der Anwesenheit ihrer Eltern, ?diese? unerlaubten Dinge machen können. Das Internet auf dem Handy lässt grüssen!
Damit kommen wir zu einem weiteren Punkt, der mit der Herausforderungen des Schulsystems eng zusammenhängt; und zwar zur Bildung und Erziehung der Kinder durch ihre Eltern. Es ist eine Tatsache, dass die Eltern immer weniger bei der Erziehung ihrer Kinder eine Rolle spielen. Der Grossteil der Erziehung wird fast schon als die Aufgabe der Schule oder bei vielen Muslimen, als die Aufgabe eines privaten Religionsunterrichts oder Imams angesehen. Es gibt durchaus auch Eltern, die schlicht keine Zeit für die Erziehung ihrer Kinder haben. Wobei hier unter Erziehung bei Muslimen, nicht nur das Beibringen von Verhaltensregeln, sondern, nach dem Vorbild unseres Propheten (saw), auch Entgegenbringen von Liebe und Achtung gegenüber den Kindern, verstanden werden soll. Nur durch eine wirkliche, herzliche Erziehung wird die nächste Generation von Muslimen sich in der Schweiz behaupten können. Für viele Kinder fühlt sich heute niemand verantwortlich, wodurch diese ihrem eigenen Schicksal überlassen sind. Wenn die Kinder zur Erziehung der Schule überlassen werden, führt dies zu einer kompletten Überforderung schulischer Leistungsfähigkeit. Die Erziehung übernimmt dann eben "die Strasse", die Medien usw. Natürlich könnte hier die Schule eine gewisse Rolle spielen. Es muss dann aber die Frage gestellt werden, wie viel Islam die Schule vermitteln kann, wenn sie überhaupt Erziehungsaufgaben übernehmen soll. Es ist aber nicht Aufgabe der Schule, die Kinder von Migraten nach den Wertvor stellungen der Eltern zu erziehen. Sie kann allenfalls die Integrität der Schüler untereinander fördern. Die Aufgabe und Verantwortung der primären Erziehung liegt unserer Meinung klar bei den Eltern. Doch diese sind als Migranten meist selbst durch das herausgerissen sein aus ihrer ursprünglichen Umgebung und ihrem Leben in dieser heterogenen Gesellschaft überfordert.
Hier appellieren wir an die muslimischen Eltern, mit ihrer Haltung aufzuhören, sich als Objekt dieser Problematik darzustellen, sondern als verantwortliche Individuen diese Problematik wahrzunehmen und eigene Beiträge zur Überwindung und Befriedung der Situation liefern. Die Muslime müssen sich fragen: Wie können wir die Erziehung unserer Kinder in dieser modernen Welt mit all ihren Herausforderungen optimal gestalten? Wie könnte die eigene Unterschiedlichkeit als Mehrwert für die Gemeinschaft eingebracht werden? Was können wir von Anderen lernen und was sie wiederum von uns? Wir sehen deshalb sogar die fundierte Ausbildung der Erziehungsberechtigten, in erster Linie also der Eltern, als wichtig an, weil sie zweifelsohne zur optimalen Integration beiträgt. Diesbezüglich wären die muslimischen Eltern in die Schweiz gar nicht so schlecht beraten, von ihren Nachbarn etwas dazuzulernen. In Österreich nämlich gibt es Elternvereine - welche unter anderem von Emigranteneltern besucht werden - wo speziell den überforderten Eltern die Hand geboten wird. Solcher Zusammenhalt unter Eltern und Lehrbeauftragten fördert die Interessen an den gegenseitigen Kulturen und führt zur gemeinsamen Problemlösung anstatt zu Klüften zwischen verschiedenen Weltansichten.
Positive Erfahrungen mit der Heterogenität hingegen macht das Modell der Schule St. Johann in Basel, womit sich ein weiterer Artikel des NZZ-Bundes beschäftigt. Wie Integration von einheimischen und ausländischen Kindern gelingen kann, zeigt dieses Beispiel. Ein Pfeiler des Konzeptes ist die Einbindung der Kurse für heimatliche Sprache und Kultur. Hier lernen die Schüler denselben Schulstoff der auch im Fach Deutsch Thema ist. ?Je mehr man voneinander weiss, desto weniger Problem gibt es?, sagt Peter Kobald, Leiter des Schulhauses St. Johann. So bieten auch viele andere Schulhäuser Sprachkurse für Ausländer in ihrer Muttersprache an. Dazu wieder der Leiter: ?Die Anerkennung ihrer Identität und Sprache ist spürbar, für Schüler wie für Lehrer. Dies wirkt sich positiv auf das Selbstbewusstsein der Schüler und ihr Lernverhalten auch in anderen Fächern aus?.
Unsere eigenen Kindheitserfahrungen und der Austausch mit anderen Muslimen verdeutlichen uns, dass viele muslimische Schüler diese Anerkennung aus ihrer Umgebung vermissen. Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass sie sich abwenden, einen Leistungseinbruch erleiden, Desinteresse zeigen oder gar Abneigung gegenüber der Gesellschaft entwickeln. Jene, die sich wirklich gegen Parallelgesellschaften aussprechen ? und dies nicht als Scheinargument für ihre antiislamische, Muslimen gegenüber feindlich gesinnte Haltung benutzen ? sollten genau hier bei der Anerkennung des Menschen als Individuum ansetzen. Deshalb müssen unserer Meinung nach, zur Förderung des gegenseitigen Verständnisses die kulturell-religiösen Traditionen der Immigranten unbedingt präsent gemacht werden, und zwar in den Schulen, sowie auch in Unternehmen und vor allem in den Medien. Nur so kann auf der einen Seite die Unkenntnis - und die sich daraus ergebende gefährliche Parteilichkeit - und auf der anderen Seite die Kreation einer, nicht minder gefährlichen integrationsunwilligen Parallelgesellschaft aus dem Weg geräumt und verhindert werden. Zudem ist es gerade bei der neu heranwachsenden Generation von Kindern mit Migrations¬hintergrund wichtig, ihnen das Gefühl zu vermitteln, in der Schweiz akzeptiert und willkommen zu sein. Die Frage lautet bloss: wie? Diesbezüglich gibt es manche Möglichkeiten, wovon wir eine gerade für die neu heranwachsende muslimische Generation der Schweiz für äusserst bedeutsam erachten: die Implementierung des muslimischen Religionsunterrichts in die Primar- und Mittelstufen. Dies schafft nicht nur die Unkenntnis ab, sondern gibt insbesondere den muslimischen Kindern das Gefühl der Anerkennung ihrer Religion, ihrer religiösen Identität und letztendlich ihrer individuellen Persönlichkeit. Die Schweiz ist ein weltoffenes Land, das eine Vielzahl von Kulturen, Religionen und
Konfessionen beherbergt. Diese Multikulturalität ist zum Markenzeichen der Schweiz geworden. Hoffen wir, dass Bekleidungsunterschiede verschiedener Sitten der Corporate Identity der Schweiz nichts einbüsst.
Zum Schluss bleibt uns nur zu sagen, dass die Heterogenität in den Schulklassen, am Arbeitsplatz und in der Gesellschaft eine Tatsache ist, ob es uns gefällt oder nicht. Es ist sogar zu vermuten, dass sie weiter zunehmen wird. Entscheidend wird also sein, welche neue Lösungen wir gemeinsam erarbeiten können, um einerseits ein friedliches Nebeneinander zu ermöglichen und gleichzeitig jedem seine integrative Selbstverwirklichung ermöglichen können.
Was vor allem Kinder von Migraten brauchen, sind keine Sanktionen in Hinblick auf ihre kulturell-religiösen Bräuche, sondern ernst gemeinte Anerkennung. Wenn wir SchweizerInnen ihnen aufrichtige Anerkennung zeigen können- und dies von Herzen machen - dann werden wir es verhindern, dass sich die so genannte unerwünschte Parallelgesellschaften neben unserer offenen Gesellschaft bildet. Der Motor für Integration sind nicht starre Vorschriften und Verhaltensnormen, sondern die Anerkennung und Annahme kultureller Vielfalt und deren gemeinsame Weiterentwicklung.
Fragen, Einwände und Anmerkungen an die Verfasser: Brüder Kitabi unter simsalabim66@hotmail.com